Der letzte Ball. Konstantin Josuttis
kratze sich dabei sein unrasiertes Kinn. „Na, die haben auf jeden Fall Großes vor“, sagte Fischer zu seinem Nebenmann, der ein weiteres Mal auf den Boden spuckte, seinen Karren mit Kohlköpfen aufnahm und vor sich herschob und „Vero, vero“ vor sich hinbrabbelte.
Fischer blickte sich um. Hier musste es doch irgendwen geben, der ihm mit seinem Koffer helfen konnte, dachte er verzweifelt. Aber niemand fand sich. So zog er das turmhohe Gepäck weiter an der Ehrfurcht gebietenden Steintreppe vorbei, an deren zwei Seiten ihn zwei Steinlöwen durchdringend anzusehen schienen. Nun, da er den Platz halb überquert hatte, sah er auf den Hafen und auf das riesige Schiff, das dort lag. Es war so groß, dass es wie ein schlafendes Krokodil wirkte, das sich in einem Flussausläufer auf die Lauer gelegt hat. Immerhin hatte er nun sein Ziel vor Augen. Er musste es nur erreichen. Zwei in schicken Fracks gekleidete Carabinieri mit überdimensionierten Hüten schritten die Straße ab und hielten an dem ein oder anderen Stand an und diskutierten die Qualität der dargebotenen Ware.
Ein Stück die Straße abwärts sah Fischer eine Gruppe von jungen Männern lachend vor einem Laden stehen. Sie hatten alle dunkelblaue Anzüge an und trugen dazu Baskenmützen, auf die ein Abzeichen gestickt worden war. Im Näherkommen erkannte Fischer das rumänische Wappen: ein Adler, auf dessen Brust die rumänischen Provinzen dargestellt waren – Walachei, Moldau, Siebenbürgen, Banat und Dobrudscha. Die Männer schienen sich über den Anblick des Mannes, der offensichtlich mit seinem Koffer zu kämpfen hatte, zu amüsieren. Dann aber löste sich einer aus der Gruppe und kam mit einem gewinnenden Lächeln auf Fischer zu. Er versuchte, ihm in gebrochenem Italienisch Hilfe anzubieten.
„Sie können gerne in Ihrer eigenen Sprache mit mir reden“, sagte Fischer, sich die Stirn mit einem Taschentuch abwischend. „Rumänisch, nehme ich an. Oder Ungarisch? Oder Deutsch?“ Die Miene des jungen Mannes im Anzug hellte sich auf. Er fuhr sich mit der Hand durch die dunklen, kurzen Haare und reichte sie dann Fischer. „Deutsch ist wunderbar. Ich heiße Alfred Eisenbeisser. Aber Sie können mich auch gerne Fredi nennen.“ „Donauschwabe?“, fragte Fischer. Eisenbeissers Augenbrauen schoben sich in die Höhe. „Woher wissen Sie?“ Fischer deutete auf die hinter ihm gaffende Menge, die nun nicht mehr belustigt, sondern eher interessiert schien. „Nun, Sie sind eine Gruppe von Menschen, die entweder Rumänisch, Deutsch oder Ungarisch spricht. Und Sie alle haben das Wappen Ihres Landes an ihrem Jackett. Daher gehe ich davon aus, dass ich es mit der rumänischen Fußballnationalmannschaft zu tun habe, nicht wahr?“
Eisenbeissers Lächeln wurde noch breiter. „In der Tat. Wir sind gestern hier mit dem Zug angekommen. Das war eine lange Tortur sage ich Ihnen. Vier Tage waren wir unterwegs. Holzklasse. Aber nun haben wir das gesparte Geld in ein paar schicke italienische Anzüge gesteckt. Kennen Sie sich etwa aus mit Fußball?“ Jetzt war es an Fischer, entsprechend zu lächeln. „Entschuldigen Sie. Ich hätte mich ebenfalls vorstellen müssen. Moritz Fischer. FIFA-Delegierter. Wir reisen zusammen.“
Sofort bildete sich eine Traube von Spielern um Fischer und einzeln stellten sich die jungen Männer vor, als allererster ein hochgewachsener junger Mann mit ernstem, kantigem Gesicht, der Kapitän der Mannschaft: „Rudolf Wetzer, angenehm.“ Fischer grüßte artig 23-mal zurück, bis er den immer noch grinsenden Eisenbeisser fragte, warum sie sich denn so dicke Wollanzüge hätten schneidern lassen und ob sie denn schon einmal für den Winter in den Karpaten hatten vorsorgen wollen. Eisenbeisser schaute Fischer einen Moment lang verunsichert an, dann lachte er.
„Sie nehmen mich auf den Arm, Herr Fischer, nicht wahr? Es wird, so habe ich gehört, verdammt kalt werden dort unten.“
Nun war es an Fischer, verunsichert zu lächeln. Er vermutete, dass der Rumäne geografisch nicht so versiert war und beließ es bei einem Nicken.
2.
Der restliche Weg war für Fischer kein Problem mehr. Willig stürzte sich die Traube der jungen Männer auf seinen Koffer, nachdem sich jeder einzeln bei ihm vorgestellt hatte, und schob diesen fröhlich zum Hafen, über die breite Mole und dann sogar die steile Gangway hinauf. Das Schiff hatte nicht nur aus der Entfernung pompös gewirkt. Als Fischer davorstand und auf die schwarz glänzende Hülle sah, hatte er allerdings nicht mehr die Vorstellung eines Monsters, eher war er fasziniert, dass diese riesige Maschine, von Menschenhand gebaut, tausende von Passagieren über den Ozean transportieren konnte. Die weißen Lettern „Conte Verde“ strahlten am Bug, als seien sie gerade noch frisch gewaschen worden. Der untere Teil des gewaltigen Schiffskörpers glänzte ölig in Schwarz, ab dem Deck war das Schiff in Weiß gehalten. Fischer blickte auf die riesigen Reihen von Stahl, die sich aufeinanderstapelten und endlich wurde ihm klar, woran das Schiff ihn erinnerte: an eine Stadt.
Er erinnerte sich dunkel an einen Film, den er vor drei Jahren gesehen hatte, damals noch auf Zwischenstation in Deutschland, der Film hieß „Metropolis“ – eine düstere Zukunftsvision von Maschinenwesen, die in einer überdimensionierten Großstadt lebten. Das absonderliche Werk hatte Fischer damals verstört und ihn diese bedrohliche Vision schon am Abend über ein bis vier Gläsern Cognac vergessen lassen, aber nun war die Erinnerung wieder wachgeküsst worden. Die Darstellung der unheimlichen Maschinenwelt ähnelte dem schwimmenden Monument, das vor ihm im Wasser lag. Auch die akkurat gekleideten Schiffsoffiziere, die hinter einem behelfsmäßig aufgebauten Tisch standen und die Tickets kontrollierten, kündeten eine neue Zeit an, eine Zeit der Ordnung, der Technik und er hatte das Gefühl, dass er sich nun wie Laich in einem Fischteich würde entspannen können – orientierungslos aber behütet.
Er hatte sich bei der rumänischen Mannschaft freundlich bedankt und den jungen Männern viel Glück gewünscht, mit dem Hinweis darauf, dass er sich noch ein wenig den Hafen anschauen wollte. Das war gelogen, aber er wollte nicht wie ein alter Mann wirken, neben den jungen, in ihrem Saft stehenden Sportlern, die die Rampe hinauf hüpften wie Hasen. Ein Steward nahm sich seines Koffers an, nachdem Fischer die Kontrolle passiert hatte und so trottete er gemütlich den Holzsteg hinauf, hielt sich immer wieder am gespannten Hanfseil fest und blickte zurück auf die Stadt, die zum Leben erwachte.
Erst jetzt sah er, dass es noch eine zweite Schlange gab, die den Menschenstrom in das Schiff formte. Am Bug des Schiffes gab es eine Planke, die über eine schwarze, geöffnete Tür in den unteren Teil des Schiffes führte. Die Planke war nicht weiß und glänzend, sondern schien eher einer riesigen Holztafel zu ähneln, auf der ein Strom von ärmlicher gekleideten Menschen den Gang in den Bauch des Monsters antrat. Diese Menschen hatten Mäntel an, trugen Taschen und Koffer. Es waren zumeist jüngere Menschen, manchmal ganze Familien, doch auch aus der Entfernung konnte Fischer sehen, dass ihre Augen nicht den Glanz des Abenteuerlichen ausstrahlten, der die Reisenden der ersten Klasse vereinte. Fischer bekam seltsamerweise ein schlechtes Gewissen, als er diese Menschen sah, die unter anderen Umständen als er die Überfahrt antraten. Er wusste, dass er es hier mit den Opfern der durch die Weltwirtschaftskrise ausgelösten Armut zu tun hatte. Diese Menschen gingen nicht nach Übersee, um sich den Freuden eines Spiels hinzugeben, sondern um ein neues, besseres Leben zu beginnen. Er drehte sich wieder dem Aufgang auf das Schiff zu.
Moritz Fischer war gespannt auf diese Reise, die ihn zur allerersten Weltmeisterschaft im Fußball führen würde, fürchtete aber gleichzeitig die Weiten des Meeres, die ihn erwarteten. Zwei Wochen würden sie sich auf diesem unheimlichen Wesen aufhalten, bevor sie in Uruguay erwartet wurden, und Fischer hoffte, dass er genügend Zeit haben würde, um auf Deck zu liegen und seiner Lieblingslektüre zu frönen: Sherlock-Holmes-Geschichten. Seitdem er in London für British Railways gearbeitet hatte, hatte er sich in den Detektiv aus der Baker Street verliebt, der so einen starken Kontrast zu ihm darzustellen schien: Er selbst war kein Meister glasklarer logischer Rückschlüsse, sondern eher ein Liebhaber guten Essens und netter Gesellschaft. Diese Eigenschaften waren es auch, die ihn im Weltverband so weit hatten aufsteigen lassen. Nicht nur war er wortgewandt in der eigenen und versiert in acht fremden Sprachen, er besaß die Fähigkeit, mit Menschen jeden Schlages ins Gespräch zu kommen, sie für sich zu gewinnen, zu umgarnen und ihnen sogar schon nach kurzer Zeit das Gefühl zu geben, dass sie freundschaftlich mit ihm verbunden seien. Er war ein Genießer, und im Gegensatz zu den meisten seiner Art schätzte er die Gesellschaft anderer ebenso wie einen guten Wein oder ein gutes Essen. Es hatte also von Seiten Rimets nicht viel Überzeugungsarbeit gebraucht,