Auf lange Sicht (E-Book). Marie-José Kolly
Kost mit abwechslungsreichem Storytelling zu versüssen. Wir alle empfinden die «Zersiedelung» als etwas Störendes. Doch wie misst man dieses Phänomen eigentlich? Oft stecken in solchen Details die spannendsten Fragen – Antworten darauf finden Sie in diesem Fall hier. Versetzt man sich erst einmal in Forschende hinein und beginnt, ihre Schwierigkeiten auf der Suche nach Ergebnissen zu verstehen, ergibt sich die Spannung oft wie von selbst. Unser Ziel ist, genau diese Spannung in unseren Texten nachvollziehbar und visuell erfahrbar zu machen.
Am zweiten Eckpunkt steht die Handwerkskunst. Es ist eine Kunst, die, wenn man sie geschickt anwendet, eine beträchtliche Wirkung entfalten kann: die Datenvisualisierung.
Diese Wirkung hat mit der Art und Weise zu tun, wie unsere Gehirne Informationen aufnehmen. Betrachten Sie zum Beispiel die folgende Datenreihe: 0, 27, 310, 1863, 5274, 7335, 6271, 4315, 2325, 1321, 844. Das sind die wöchentlichen Ansteckungszahlen während der ersten Welle der Corona-Pandemie in der Schweiz. Vermutlich lösen diese Zahlen in Ihnen keine besondere Reaktion aus – sehr wahrscheinlich haben Sie sie nicht einmal genau gelesen. Ganz anders ist es, die Corona-Fälle als Grafik zu sehen – so wie hier in diesem Buch: mit farbigen Balken, die erst im Frühjahr 2020 und dann erneut im Winter 2020/21 – während der zweiten Welle – in die Höhe ragen und bildlich vor Augen führen, welche Dynamik eine Pandemie entfalten kann.
Indem wir Daten grafisch darstellen, bringen wir sie zum Sprechen, hauchen ihnen Leben ein. Doch es braucht Können und Erfahrung, Zeit und Musse, und nicht selten auch etwas Glück, um eine wirklich herausragende Datenvisualisierung zu erstellen. Und genau dieses Anliegen kann uns auch in Versuchung führen – dann, wenn wir beginnen, die grafische Darstellung mit der Realität selbst zu verwechseln und daraus Dinge ableiten zu wollen, die so gar nicht stimmen. Deshalb ist es uns so wichtig, Daten jeweils in den richtigen Kontext zu stellen. Zu erwähnen, wie sie erhoben wurden, was sie aussagen können – und in welchen Momenten man sich mit Schlussfolgerungen und Voraussagen zurückhalten muss, weil die Unsicherheit einfach zu gross ist. Und vielleicht auch: im Zweifelsfall die langweiligere, dafür aber verständlichere Darstellung zu wählen.
Dies führt zum dritten Eckpunkt: dem Journalismus. «Sagen, was ist»: Mit Slogans wie diesem definieren manche Medien ihre Mission. Gleichzeitig sind sie den kurzen Aufmerksamkeitsspannen eines überfütterten Publikums unterworfen: Tatsächlich gesagt wird in der Regel nur, was Journalistinnen als relevant einstufen. Und wovon sie glauben, dass jemand es hören will – weil es Neuigkeitswert hat, eine Sensation ist oder Emotionen weckt.
Als Datenjournalisten sind wir mit diesen Gesetzmässigkeiten vertraut. Wir nutzen sie, um Geschichten zu erzählen: Wer weiss, wie man Aufmerksamkeit erzeugt, hat eine grössere Chance, wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig müssen wir auf der Hut sein. Denn viele Schlagzeilen, die auf einer Grafik beruhen, lassen sich mit einer anderen Grafik relativieren. Um damit klarzukommen, braucht es neben einer sauberen Methodik auch Fachwissen, das wir uns in der Literatur oder im Gespräch mit Expertinnen aneignen. So können wir begründen, warum wir eine bestimmte Darstellung bevorzugen – zum Beispiel zu der Frage, wie viele Stunden pro Woche Frauen und Männer im Schnitt arbeiten. Wie sich diese Werte im Verlauf des letzten Jahrhunderts verändert haben, steht hier.
In drei Jahren «lange Sicht» haben wir unsere eigene Art entwickelt, mit dem Spannungsfeld aus Wissenschaft, Handwerkskunst und Journalismus umzugehen. Bei jeder Datengeschichte, die wir schreiben, achten wir auf eine Reihe von ganz bestimmten Grundsätzen:
Jede Leserin muss nachvollziehen können, wie eine bestimmte Aussage zustande kommt. Wir schreiben nicht über die demografische Alterung, um zu polemisieren oder um etwa Angst davor zu schüren, irgendwann würden wir alle «keine Rente mehr erhalten». Sondern, um aufzuzeigen, wie eine wichtige Kenngrösse wie der Altersquotient (das ist die Anzahl der über 65-Jährigen im Verhältnis zu den Erwerbstätigen) überhaupt berechnet wird und welche Faktoren diese Kerngrösse bestimmt (Spoiler: Es sind Geburtenrate und Lebenserwartung).
Hinter diesem Vorgehen steht die Überzeugung, dass wir als Bürgerinnen ein tiefes Verständnis der thematischen Zusammenhänge entwickeln müssen, um gesellschaftlich und politisch überhaupt rational handeln zu können. In jeder Datengeschichte achten wir deshalb auf sorgfältige und verständliche Erklärungen. Wie sich der Altersquotient in der Schweiz bis ins Jahr 2050 entwickeln wird, erfahren Sie übrigens hier.
Die Methode ist ein fester Teil der Geschichte. Wie kommen beispielsweise die schönen Klimastreifen zustande: jene blau-roten Illustrationen, die man inzwischen sogar auf T-Shirts und Flipflops druckt? Bei genauem Hinsehen zeigt sich: Wer solche Grafiken herstellen will, muss zuerst eine Reihe von Fragen beantworten. Fragen, die entscheidend dafür sind, wie das Endprodukt aussieht und welche Reaktionen es bei der Betrachterin hervorruft.
Solche bewussten Entscheide zu thematisieren und dabei herauszustreichen, zu welchen Aussagen sie jeweils führen, ist uns sehr wichtig. Warum, lesen Sie im Beitrag über die Klimastreifen am besten selbst nach – hier (apropos: Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, wir wechseln in unseren Texten, dort, wo es um eine allgemeine Personengruppe geht, konsequent zwischen männlichen und weiblichen Formen ab).
Wir stellen das Visier möglichst weit ein. Wie viel Zucker möchten Sie in Ihren Kaffee? «Zehn Prozent mehr als letztes Mal.» Informationen wie diese sind komplett nutzlos, wenn man den Kontext nicht kennt. Doch genau nach diesem Muster werden sehr viele Newsmeldungen verfasst. Man blickt nur sehr kurz in die Vergangenheit zurück.
Anders arbeiten wir in der «langen Sicht» (und darum heisst die Kolumne auch so): Hier versuchen wir, Zahlen auf möglichst breiter Vergleichsbasis oder im Rahmen einer möglichst langfristigen Entwicklung zu zeigen. Ein Beispiel dafür ist die Schweizer Wirtschaft: Dass sie nicht mehr so wächst wie vor hundert Jahren, ist eigentlich kein Wunder. Denn die Wirtschaft wurde strukturell komplett umgekrempelt, es machen nur noch wenige Sektoren wirklich vorwärts. Welche? Das zeigt der Beitrag hier.
Quellen durchforsten, Daten analysieren, Grafikvarianten ausprobieren, Interpretationen überprüfen, Fachleute befragen, Dramaturgien entwickeln, Texte schreiben: Für all dies nehmen wir uns in der «langen Sicht» als Autoren und in der Gruppe jeweils viel Zeit. Jede unserer Datengeschichten soll ein ebenso erhellendes wie kurzweiliges Leseerlebnis sein.
Hätten Sie gedacht:
—dass Strom in Frankreich grün ist, in Deutschland violett und in der Schweiz türkis?
—dass die politische Landschaft der USA immer mehr einem Tannzapfen gleicht?
—dass Schweizer Parteien in einem umgekehrten Hufeisen zueinander stehen?
Wir ebenfalls nicht, als wir die betreffenden Beiträge in Angriff nahmen. Doch fast immer haben wir festgestellt, dass es eine originelle Art gibt, rigorose Datenanalysen mit inspirierender Visualisierung und spielerischem Erzählen zu verbinden. Und genau deshalb hat uns die Arbeit an der «langen Sicht» auch so unglaublich viel Freude gemacht. Wir hoffen, Ihnen einen Teil dieser Freude beim Lesen weiterzugeben.
Die New Coronomy
Simon Schmid
Publiziert am 25.01.2021
Wenn die Videocall-Software Zoom gleich viel wert ist wie die zehn grössten Airlines zusammen, dann hat die Pandemie einiges auf den Kopf gestellt. Vier erstaunliche Grafiken zur neuen Börsenwelt nach der Corona-Pandemie.
WIRTSCHAFT
Um einen privaten Event live zu übertragen,