Auf lange Sicht (E-Book). Marie-José Kolly
Abstimmungen verloren, hätten nur Frauen abgestimmt. Es lägen weniger Waffen in Haushalten herum (G10). Es gäbe noch kein Okay für neue Kampfflugzeuge (G11). Betrachtet man weitere Vorlagen, die das Militär oder Waffen betreffen, wiederholt sich das Muster: Sie wurden von Männern eher unterstützt als von Frauen.
Wir hätten vielleicht noch kein neues Krankenversicherungsgesetz (G12). Die Kulturförderung wäre in der Verfassung verankert (G13). Im ganzen Land wären Poststellen garantiert (G14). Frauen setzen sich vermehrt für den Service public ein. Sie stimmten beispielsweise gegen ein Krankenversicherungsgesetz, das mit dem Argument präsentiert wurde, es bringe mehr Wettbewerb und Eigenverantwortung.
Ginge es nur nach den Bürgerinnen, wäre die Schweiz also tatsächlich ein wenig linker und grüner, manchmal bewahrender (wie im Fall der Postdienste), oft progressiver (wenn es um ein flexibles Rentenalter geht). Damit sind die Schweizerinnen keine Ausnahme. «Frauen sind weltweit linker und grüner», sagte Politikwissenschaftlerin Martina Mousson zur «Annabelle». Eine länderübergreifende Untersuchung der Politologin Rosalind Shorrocks zeigt: Es sind vor allem die jüngeren Frauen, die solche Werte vertreten. Und deren Einfluss wächst: Nach der Einführung des Frauenstimmrechts war die Stimmbeteiligung erst einmal gesunken, weil die zögerlich neu stimmenden Frauen den Gesamtschnitt drückten. Noch heute stimmen unter den älteren Menschen die Männer deutlich öfter ab als die Frauen. Doch die jüngeren Frauen, die eine Schweiz ohne Frauenstimmrecht nur noch aus Erzählungen kennen, nehmen ihr Recht häufiger wahr. Trotzdem setzen sie sich nur hin und wieder durch.
G11 | ES HÄTTE KEIN OKAY FÜR NEUEKAMPFFLUGZEUGE GEGEBEN |
Stimmenanteile bei Nachbefragung und Abstimmungsresultat, Referendum zum Bundesbeschluss über die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge (2020).
QUELLE: Voto-Studie (Schweizer Kompetenzzentrum Sozial-wissenschaften, Lausanne / Zentrum für Demokratie, Aarau)
G12 | WIR HÄTTEN VIELLEICHT NOCH KEIN NEUESKRANKENVERSICHERUNGSGESETZ |
Stimmenanteile bei Nachbefragung und Abstimmungsresultat, Referendum zum Bundesgesetz über die Krankenversicherung (1994). QUELLE: Vox-Analyse (GFS Bern)
G13 | DAFÜR WÄRE ABER DIE KULTURFÖRDERUNG INDER VERFASSUNG VERANKERT |
Stimmenanteile bei Nachbefragung und Abstimmungsresultat, Referendum zum Bundesbeschluss über einen Kulturförderungsartikel in der Bundesverfassung (1994). Die Vorlage scheiterte am Ständemehr. QUELLE: Vox-Analyse (GFS Bern)
G14 | ES GÄBE GARANTIERTE POSTSTELLENIM GANZEN LAND |
Stimmenanteile bei Nachbefragung und Abstimmungsresultat, Volksinitiative «Postdienste für alle» (2004).
QUELLE: Voto-Studie (Schweizer Kompetenzzentrum Sozial-wissenschaften, Lausanne / Zentrum für Demokratie, Aarau)
Nur selten kippt die Waage
Die Schweiz besteht selbstverständlich auch nach 1971 nicht nur aus Frauen. Darum haben sie über die Jahre zwar die politische Landschaft verschoben – aber nur ab und zu haben ihre Stimmen ausgereicht, um einen Entscheid zu kippen. Insgesamt haben die Frauen in den letzten 50 Jahren an 424 Abstimmungen ihren politischen Willen geäussert. Bei lediglich 11 davon haben sie sich mit der Wucht der weiblichen Stimmen durchgesetzt. Besonders wichtig war das vehemente Ja der Frauen bei der Revision des Ehe- und Erbrechts von 1985. Es sah vor, dass Ehefrauen ihren Männern nicht mehr untergeordnet wären, sondern Familienangelegenheiten fortan gemeinsam entschieden würden. Zuvor konnten Männer beispielsweise alleine über Kauf oder Verkauf eines Hauses entscheiden. Mehr noch: Das Vermögen der Frau – selbst wenn sie es geerbt oder geschenkt bekommen hatte – verwaltete ebenfalls der Mann. Lediglich über ihren eigenen Lohn konnte die Frau frei bestimmen. Hätten damals an der Urne nur die Stimmen der Schweizer Männer gezählt: Sie hätten die Revision abgelehnt.
DIE DATEN
Bei Nachbefragungen erheben Meinungsforscherinnen den Stimmentscheid, die Gründe dafür und die Informationslage dahinter – nach Geschlecht, Alter und politischen Präferenzen. Von 1977 bis 1987 umfasste die Stichprobe 700 Stimmberechtigte, dann 1000, ab dem Jahr 2010 1500 Personen. Umfrageresultate sind zwangsläufig unscharf: Man befragt eine Stichprobe, nicht alle, die an den Urnen waren. Je nach Umfragetyp – hier Telefonumfragen – kommen weitere Schwierigkeiten dazu, etwa systematische Verzerrungen dadurch, dass Personen mit bestimmten Profilen eher oder eher nicht auf solche Anfragen eingehen. Von 1977 bis 2015 und wieder seit November 2020 ist das Meinungsforschungsinstitut GFS Bern für diese Nachbefragungen, die Vox-Analysen, zuständig. Von 2016 bis 2020 führten das Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften in Lausanne und das Zentrum für Demokratie Aarau die Voto- Studien durch.
Die schönste Klimagrafik der Welt
Simon Schmid
Publiziert am 08.04.2019
Der Klimawandel ist in der Populärkultur angekommen – mit bunten Grafiken. Doch wie funktionieren sie genau? Ein Exkurs in die Farbenvisualisierung – mit all ihren Fallstricken.
KLIMA
Die Grafik, um die es in diesem Beitrag geht, wird auf Krawatten, Flip-Flops und Leggings gedruckt – obwohl es sich nur um eine simple Temperaturvisualisierung handelt. Sie wurde vom britischen Professor Ed Hawkins erfunden und heisst warming stripes (G15) – Wärmestreifen. Die populäre Grafik zeigt, wie sich die Temperatur in den vergangenen rund 150 Jahren verändert hat. Man erkennt darauf sofort, dass es wärmer geworden ist und irgendetwas an dieser Entwicklung nicht normal sein kann. Dies wollen wir hier näher erforschen. Wie kommt es eigentlich, dass diese Grafik derart selbsterklärend und zugleich mitreissend ist?
Die Farben
Die offensichtliche Antwort: Es sind die Farben. Sie üben auf unser Gehirn eine magische Wirkung aus, lassen uns Zusammenhänge erkennen, bevor wir überhaupt aktiv über sie nachdenken. Die Macht der Farben wird klar, wenn man dieselben Temperaturdaten in anderer Form betrachtet: nicht als Farbstreifen-Diagramm, sondern als Liniengrafik (G16). Auch hier erkennt man, dass ab etwa 1980 ein Aufwärtstrend einsetzt. Zuvor bewegen sich die Temperaturen im Bereich von 4 bis 5 Grad, danach steigen sie auf über 6 Grad. Doch das mentale Verarbeiten dieser Information dauert länger und ist aufwendiger. Die Aufmerksamkeit ist nicht automatisch gegeben: Man muss genauer hinschauen, «den Kopf einschalten», um dieselbe Botschaft zu verstehen. Die krakelige, leicht ansteigende Linie interessiert das Auge weniger als das Farbmuster auf den Wärmestreifen. Farben also. Doch dies ist erst der Anfang vom Zauber des Klimastreifens.
Welche Farben?
Nebst der Farbcodierung per se spielt auch die Farbauswahl eine wichtige Rolle. Welche Farbe symbolisiert kalt, welche Farbe symbolisiert warm? Die naheliegende Codierung richtet sich nach der Konvention: Blau repräsentiert das kalte, Rot das warme Spektrum. Wir verstehen diese Codes intuitiv, weil wir sie aus der Natur kennen: Wasser ist blau, Feuer ist rot. Und Rot bedeutet oft auch: Vorsicht, hier geschieht etwas Gefährliches! Diese Analogie ist sogar in der Sprache verankert. Ist etwas «im roten Bereich», so droht Gefahr. Welche Wirkung entfaltet dieser Code auf der grafischen Ebene? Um dies zu testen, können wir