Auf lange Sicht (E-Book). Marie-José Kolly
einem durchschnittlichen Jahresergebnis. Die «Vier-Jahreszeiten-Grafik» ist dadurch automatisch weniger geglättet. Vielleicht ist dies nun nicht mehr die allerschönste Klimagrafik der Welt. Doch aus den neu geeichten Wärmestreifen lässt sich besser herauslesen, nach welchem Jahreszeitenmuster sich das Klima in der Schweiz verändert hat:
—Seit rund zwanzig Jahren gab es fast keinen Frühling mehr mit unterdurchschnittlichen Temperaturen.
—Ähnliches gilt für den Sommer: Der Übergang von kalten zu warmen Temperaturen ist hier am deutlichsten, am stetigsten ausgeprägt.
—Im Herbst sind die Temperaturen zuletzt nicht so stark gestiegen. Dafür zeigt sich, dass die saisonalen Temperaturen, zu Beginn der Messreihe im 19. Jahrhundert, vergleichsweise kühler waren.
—Bei den Wintertemperaturen zeigen sich insgesamt die grössten Schwankungen. Die Erwärmung ist weniger eindeutig als beispielsweise im Sommer.
Mag sein, dass all diese Detailüberlegungen am Ende zu viel des Guten sind. Vermutlich wird nie ein Designer eine Kaffeetasse oder eine Tragetasche mit Jahreszeiten-Wärmestreifen bedrucken. Allerdings findet gerade eine bemerkenswerte Entwicklung statt: Der Klimawandel wandert von der Gelehrtenstube nach und nach in die Populärkultur. Da ist es allemal sinnvoll, wenn man weiss, wovon eigentlich die Rede ist.
DIE DATEN
Sie lassen sich bei Meteo Schweiz als Textdatei beziehen. Darin findet sich das Schweizer Temperaturmittel über sämtliche Monate für den Zeitraum von 1864 bis zum aktuellen Rand. Dieses Mittel entspricht der Durchschnittstemperatur, die über die gesamte Landesfläche und die verschiedenen Höhenlagen gemessen wird. In die Zeitreihe fliessen die Daten von 19 Messstationen ein, die über den gesamten Zeitraum hinweg lückenlos zur Verfügung stehen. Um Veränderungen bei den Messbedingungen zu korrigieren, wurden diese Daten homogenisiert.
Wie viel wir arbeiten
Olivia Kühni
Publiziert am 26.02.2018
Die Arbeitszeit der Menschen hat über die Jahrzehnte deutlich abgenommen. Doch ein zweiter Blick – gerade auf die Situation der Frauen – zeigt ein differenzierteres Bild.
SOZIALES
Neun Stunden in Büro, Spital oder Schule statt zwölf in der Fabrik: Die arbeitenden Menschen in der Schweiz sind heute durchschnittlich deutlich weniger im Einsatz als zur Zeit unserer Urgrosseltern. Damit hat dieses Land eine ähnliche Entwicklung mitgemacht wie viele europäische Nachbarstaaten. Woran könnte das liegen? Weshalb sieht die Lage in den USA anders aus? Wo müssen wir vielleicht noch etwas genauer hinschauen? Dazu gleich. Zunächst zu den Daten:
1870 waren Arbeiter in der Schweiz durchschnittlich 3195 Stunden pro Jahr im Einsatz. Rund fünf Generationen später, im Jahr 2000, waren es mit 1597 Stunden noch rund die Hälfte. Ähnlich sieht die Gesamtentwicklung in elf westeuropäischen Ländern[1] aus, in der Grafik zusammengefasst unter «Europa». Überall haben die Jahresarbeitsstunden (G22) ab etwa 1910 stark, während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kaum und ab 1950 wieder stärker abgenommen.
Viele Statistiken in Wochenarbeitsstunden stellen jeweils nur die Entwicklung bei den Vollzeitstellen dar. Das sorgt für eine gute Vergleichbarkeit im Laufe der Zeit, schliesst aber einiges an Realität aus. In Jahresarbeitsstunden zu rechnen, hat den Vorteil, dass Teilzeitarbeit oder unregelmässige Arbeitszeitmodelle miteinbezogen werden. Dazu später mehr.
Etwas anders hingegen sieht es in den USA aus. Dort lagen die geleisteten Arbeitsstunden mit Ausnahme der Phase von der Grossen Depression bis zur Nachkriegszeit tendenziell leicht über jenen in Europa. Seit den 1980ern stagnieren sie auf doch deutlich höherem Niveau. Bei den Ferien und Feiertagen sieht es ähnlich aus: In der Schweiz sind diese von 13 Tagen (1870) über 28 Tage (1980) auf 33 Tage (2000) gestiegen, in den USA gleichzeitig von 4 Tagen auf 22 Tage gestiegen und dann wieder auf 20 gefallen. Sind die US-Amerikaner etwa einfach fleissiger als wir? Zunächst: Die Frage muss anderesherum gestellt werden. Nicht die USA sind eine bemerkenswerte Ausnahme, wie gern angeführt wird, sondern die westeuropäischen Länder. Die Menschen hier arbeiten durchschnittlich deutlich weniger als in anderen Ländern. Vergleicht man Grossstädte weltweit, arbeiten die Menschen in Hongkong, Mexiko-Stadt, Nairobi, Tokio, Doha oder Chicago viele Hundert Stunden jährlich mehr als Zürcherinnen oder Genfer. Die Frage müsste also vielmehr lauten: Warum arbeiten wir so viel weniger als Menschen in anderen Teilen der Welt?
Reichtum und Strassenkampf
Es gibt eine Reihe von Faktoren, die zu einer Erklärung dieses Phänomens beitragen können. Die zwei offensichtlichsten: Reichtum und Strassenkampf. Je mehr Wohlstand die Menschen in einem Land mit jeder Arbeitsstunde erarbeiten (die sogenannte Arbeitsproduktivität), desto weniger lange arbeiten sie. Dieser Zusammenhang ist gut belegt, doch eine abschliessende Antwort liefert das noch nicht. Dies ist politisch und historisch bedingt: Unternehmen in Europa wurden dank der Industrialisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts tatsächlich immer effizienter im Erwirtschaften von Wohlstand (eben: produktiver). Gut organisierte Arbeiterbewegungen sorgten dafür, dass sich der wachsende Reichtum in kürzeren Arbeitszeiten niederschlug. In den USA hingegen war und ist die Situation eine andere: Die Staaten sind eine Gesellschaft von Einwanderern und Pionierinnen, mit harter Konkurrenz im Arbeitsmarkt, im Vergleich zu Europa schwachen Arbeiterbewegungen und einer deutlich höheren Lohnungleichheit. Letztere hat in den vergangenen Jahrzehnten in den USA noch einmal zugenommen.
Der Zusammenhang zwischen ungleichen Löhnen und langen Arbeitsstunden ist gut belegt: Am unteren Ende der Einkommensskala müssen die Menschen viel arbeiten, um zu überleben, am oberen Ende tun sie es, da sich zusätzlich geleistete Stunden deutlich mehr auszahlen, als dies in einem europäischen Land der Fall wäre. Kurz: Geringe und abnehmende Stundenzahlen sind nicht nur eine Frage der Produktivität, sondern stets ein Spiegel von Kultur und politischen Präferenzen.
Die Frauen stocken auf
Die Ergebnisse von Langzeitstudien zu den Arbeitsstunden sollte man mit Vorsicht geniessen. Die Ökonomie vergass lange Zeit den unsichtbaren, nicht quantifizierten Zwilling von Fliessbandarbeit oder Bürojob: die unbezahlte Haushaltsarbeit. Man könnte auch sagen: Sie übersah die Realität vieler Frauen. Das hat auch hier Folgen. Viele Langzeitstudien zu den geleisteten Arbeitsstunden zählen diese Stunden nicht pro Kopf in der Bevölkerung, sondern pro Arbeiter, bei Rechnungen zu Wochenstunden oft gar pro Vollzeitarbeiter. Die Methode schafft eine gute Vergleichbarkeit: Man kann Aussagen darüber treffen, wie sich die durchschnittliche Belastung von aktiven Arbeiterinnen, quasi die Arbeitsverhältnisse, über die Jahre hinweg entwickelt hat. Daraus lässt sich durchaus eine Vorstellung davon gewinnen, wie sich die Arbeitslast der gesamten Gesellschaft verändert. Allerdings ist diese Vorstellung nur dann verlässlich, wenn sich an der Erwerbsbeteiligung nichts Fundamentales geändert hat. Mit anderen Worten: Arbeitet der durchschnittliche Arbeiter neu sechs statt zwölf Stunden, hat sich die generelle Arbeitszeit in der Gesellschaft nur dann halbiert, wenn die sechs Stunden dafür nicht jemand anderes zusätzlich übernommen hat. Reduzierte Arbeitsstunden können etwas anderes bedeuten als generell weniger Arbeit: nämlich gleich viel Arbeit wie zuvor, einfach auf mehr Schultern verteilt. Was vielleicht auch eine erfreuliche Erkenntnis ist – nur eben eine andere.
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QUELLE: Huberman $ Minns (2007)
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