Auf lange Sicht (E-Book). Marie-José Kolly
Offensichtlich war ich nicht der Einzige, der sich während der Pandemie an Videocalls gewöhnen musste. Mehrere Hundert Millionen Userinnen und User halten sich täglich in Zoom-Meetings auf. Eine halbe Million Kleinunternehmen nutzen Zoom professionell. Das sind bemerkenswerte Zahlen.
Schade, habe ich nicht auch Aktien von Zoom gekauft. Die Techfirma mit Sitz im kalifornischen San José ist eine absolute Senkrechtstarterin. In knapp zwei Jahren hat sich ihr Kurs verfünffacht. Zoom ist damit nicht nur eines der erfolgreichsten Software-Start-ups aller Zeiten, sondern die Firma hat auch eine Art Schallmauer durchbrochen. Sie hat nämlich inzwischen einen Wert von über 100 Milliarden Dollar.
Zoom vs. Airlines
Zoom (G1) bringt damit an der Börse einen ähnlich grossen Marktwert auf die Waage wie die zehn grössten Airlines der Welt zusammengezählt. Um zu verstehen, wie ein solch enormes Wachstum in so rascher Zeit möglich ist, muss man etwas ausholen.
Zoom wurde 2011 vom chinesischen Netzwerkingenieur Eric Yuan gegründet. Das Start-up durchlief eine Bilderbuchkarriere: 2013 wurde die Software veröffentlicht, ein Videoconferencing-Tool mit Chatfunktion. 2017 kam die Investmentfirma Sequoia Capital mit 100 Millionen Dollar an Bord, 2019 folgte schliesslich der Börsengang.
Schon damals wurde Zoom von Anlegern sportlich bewertet. Die Firma erzielte gerade einmal sechs Millionen Dollar Betriebsgewinn und war trotzdem 20 Milliarden Dollar wert – ein Verhältnis von 1 zu 3333. Solche Bewertungen sind nur unter der Annahme gerechtfertigt, dass ein Unternehmen seinen Gewinn in der Zukunft enorm steigern kann. Völlig falsch waren diese Erwartungen nicht. Tatsächlich ist Zoom stark gewachsen: Der Betriebsgewinn beträgt mittlerweile rund 400 Millionen Dollar. Und so hat sich auch das Verhältnis etwas normalisiert. Der Börsenwert von Zoom ist «nur» noch rund 270-mal so hoch wie der Gewinn.
Dieser Wert ist nach wie vor extrem hoch. Besonders im Vergleich mit den Airlines: Sie werden – gemessen am Gewinn vor der Pandemie – zu einem bloss sechsmal so hohen Wert gehandelt. Das zeigt: Die Pandemie hat die Wirtschaft auf den Kopf gestellt.
G1 | ZOOM VS. AIRLINESVideocalls werden wichtiger als Businesstrips |
Börsenwert in US-Dollar. Zur IAG (International Airlines Group) zählen unter anderem die British Airways. QUELLE: companiesmarketcap.com
G2 | APPLE VS. BANKENTechnologie schlägt Finanzbranche |
Börsenwert in US-Dollar. QUELLE: companiesmarketcap.com
G3 | AMAZON VS. PHARMAEin Gigant im Detailhandel |
Börsenwert in US-Dollar. QUELLE: companiesmarketcap.com
G4 | TESLA VS. AUTOFIRMENElektromobilität überstrahlt alles |
Börsenwert in US-Dollar. QUELLE: companiesmarketcap.com
Die Luftfahrt ist zwar noch immer ein wichtiger Wirtschaftszweig. Trotz teilweisem Grounding gaben Konsumentinnen zuletzt bei den zehn grössten Airlines bei Weitem mehr Geld aus als bei Zoom. Aber eben: Die Gewinn- und Wachstumschancen werden komplett anders eingestuft. Southwest Airlines, die wertvollste Luftfahrtgesellschaft der Welt, dürfte erst 2022 wieder profitabel sein. Zoom dagegen ist eine Techfirma. Sie erzielt mit wenig Mitarbeitenden viel Gewinn – und steigert diesen von Quartal zu Quartal. Das mögen Investoren, wie sich auch an anderen Unternehmen des Technologiebereichs zeigt.
Apple vs. Banken
Das Paradebeispiel dafür ist Apple (G2). Auch hier lässt sich ein passender Vergleich aufstellen: Die Herstellerin von Computern, Tablets und Smartphones ist etwa gleich viel wert wie die zehn grössten Banken der Welt. Anders als im Fall von Zoom beruht der Marktwert hier aber nicht auf dem Prinzip Hoffnung. Apple ist bereits heute ein Unternehmen der Superlative:
—Unter allen Firmen, die an der Börse gehandelt werden, erwirtschaftet Apple den zweithöchsten Gewinn.
—Apple erzielt zudem den sechsthöchsten Umsatz.
—Und Apple ist schon seit geraumer Zeit die wertvollste aller Firmen.
Seit fünfzehn Jahren legt der Aktienkurs von Apple kontinuierlich zu. Die Vergangenheit spricht also ebenso für das Unternehmen wie die Zukunft. Dies reflektiert sich auch in der Bewertung. Das Verhältnis von Börsenwert zu Betriebsgewinn beträgt bei Apple ungefähr 1 zu 30. Das ist ein Wert, den man bei einer gesunden Firma mit guten Aussichten etwa erwarten würde. Ganz anders als die von Apple sind die Aktien der grossen Banken gelaufen. Egal, ob sie aus den USA, aus China oder aus Europa stammen: Ihre Kurse treten seit der Finanzkrise an Ort und Stelle. Einzig die Royal Bank of Canada oder die amerikanische J. P. Morgan Chase haben an der Börse etwas an Wert zugelegt.
Amazon vs. Pharma
Ein weiterer Riese der Technologiewelt ist Amazon (G3). Die Firma, die 1994 als Onlinebuchhändlerin gestartet ist und inzwischen ein ganzes Retail-Imperium betreibt, ist gemessen am Börsenwert heute das viertgrösste Unternehmen. Sie wird ähnlich hoch gehandelt wie die zehn weltgrössten Pharmahersteller.
Die von Jeff Bezos geleitete Firma ist eine Mischform. Einerseits ist sie ein Onlineunternehmen: Sie betreibt Serverfarmen und eine Marktplattform, über die Drittanbieter ihre Produkte verkaufen können. Diese Bereiche sind sehr profitabel, wodurch Amazon in gewisser Weise wie ein Tech-Start-up bewertet wird: Das Verhältnis zwischen Betriebsgewinn und Börsenwert liegt bei rund 1 zu 70, was für gewöhnliche Firmen undenkbar ist.
Andererseits ist Amazon ein klassischer, aber sehr grosser Detailhändler. Über eine Million Menschen arbeiten für Amazon, sei es als Programmiererin oder als Lagerist in den gigantischen Verteilzentren. Unter allen börsengehandelten Firmen beschäftigt nur Walmart noch mehr Personal. Das verleiht Amazon ein reales Gewicht. Die Firma erzielt Milliardengewinne und ist auch umsatzmässig ein Riese: Sie wiegt die zehn grössten Pharmafirmen der Welt fast im Alleingang auf.
Zwar sind die Pharmafirmen keinesfalls Zwerge. Firmen wie Roche oder Novartis dominieren den Swiss Market Index: Wer in die zwanzig grössten Firmen der Schweiz investiert, dessen Geld geht zu einem Drittel an die beiden Pharmaunternehmen. Doch kein Bereich hat in der Pandemie so zugelegt wie die Technologie.
Tesla vs. Autofirmen
Besonders krass zeigt sich dies am Beispiel von Tesla (G4). Für ihre Fans war die E-Auto-Fabrikantin schon immer ein Börsentipp. Nun erhielten sie endlich recht: Unter Anlegerinnen brach eine regelrechte Tesla-Euphorie aus. 2020 hat sich der Aktienkurs verzehnfacht. Damit ist Tesla beinahe so wertvoll wie die zehn anderen weltgrössten Autohersteller zusammen. Ob das gerechtfertigt ist, wird intensiv diskutiert. Dafür spricht unter anderem:
—Der Boom der Elektromobilität: Über kurz oder lang werden auf unseren Strassen nur noch E-Autos fahren. Hier ist Tesla führend. Auch BYD und NIO, zwei chinesische E-Auto-Hersteller, werden zu sehr hohen Kursen gehandelt.
—Die Batterietechnologie: Tesla produziert Batterien mit hoher Kapazität, die sehr langlebig sind. Im