Physikalische Chemie. Peter W. Atkins
Umwandlung von Energie wird durch die Gesetze der Thermodynamik beschreiben. Diese Gesetze beziehen sich zunächst einmal auf makroskopische Materie, die aus einer großen Anzahl von Atomen und Molekülen besteht. Der „Erste Hauptsatz“ der Thermodynamik erlaubt eine quantitative Aussage über die Energiemenge bei einer physikalischen Umwandlung oder einer chemischen Reaktion; der „Zweite Hauptsatz“ erlaubt eine Aussage zur Verteilung dieser Energie (in einer Weise, die wir noch erklären werden).
Um die Energien einzelner Atome und Moleküle beschreiben zu können, aus denen makroskopische Materie besteht, müssen wir auf die Quantenmechanik zurückgreifen. Nach dieser Theorie ist die Energie, die mit der Bewegung eines Teilchens assoziiert ist, gequantelt – das bedeutet, dass die Energie auf ganz bestimmte Werte begrenzt ist und keinen kontinuierlichen, beliebigen Wert annehmen kann. Wir können uns drei fundamentale Bewegungsarten eines Teilchens vorstellen: Die Translation (d. h. die Bewegung durch den Raum von einem Ort zum anderen), die Rotation (d. h. die Drehung des Moleküls um eine seiner Achsen) und die Schwingung (z. B. das Strecken einer Bindung oder die Krümmung einer Bindung um einen bestimmten Winkel). In der folgenden ersten Abbildung sind die relativen Abstände zwischen den Energieniveaus gezeigt, die für die vier verschiedenen Bewegungsarten von Molekülen charakteristisch sind, und sie setzt diese mit den typischen Energien von Elektronen in Atomen und Molekülen in Beziehung. Die erlaubten Energieniveaus, die mit der Translationsbewegung assoziiert sind, liegen für Atome oder Moleküle in makroskopischen Gefäßen derart dicht beieinander, dass sie ein Kontinuum bilden. Im Vergleich dazu ist die Separation zwischen den erlaubten elektronischen Energieniveaus sehr groß.
Abb. 1 Die relativen Abstände zwischen den erlaubten Energieniveaus der verschiedenen Bewegungsarten von Atomen und Molekülen.
Die gesamte Verteilung der Moleküle auf die Energieniveaus fndet nach der sogenannten Boltzmann-Verteilung statt – sie ist eines der wichtigsten Konzepte in der gesamten Chemie und stellt die Verbindung zwischen den Energien individueller Moleküle und der Energie einer makroskopischen Materieprobe her. In einer typischen Materieprobe werden die verfügbaren Energieniveaus von einer Vielzahl von Atomen oder Molekülen besetzt; die Gesamtanzahl der Moleküle, die aufgrund ihres Translations-, Rotations- und Schwingungszustands ein bestimmtes Energieniveau besetzen, nennt man „Besetzungszahl“ – man spricht auch von der „Population“. Die meisten Moleküle befinden sich in Zuständen mit niedriger Energie, und nur wenige Moleküle besetzen Zustände mit höherer Energie: je höher die Energie eines Zustands ist, umso geringer ist die Besetzungszahl. Die Boltzmann-Verteilung gibt die Besetzungszahl für jeden möglichen Zustand Ni eines Systems an, und die Besetzung der Zustände ist ausschließlich von der Energie des jeweils betrachteten Zustands εi und von der absoluten Temperatur T (ausgedrückt in der Einheit Kelvin, K) abhängig:
In diesem Ausdruck ist k eine fundamentale Naturkonstante, die Boltzmann-Konstante genannt wird (siehe Auflistung der Konstanten im Einband dieses Buchs; fundamentale Naturkonstanten sind unabhängig von der Form der Materie). In der zweiten Abbildung ist die Boltzmann-Verteilung bei zwei unterschiedlichen Temperaturen gezeigt: Mit steigender Temperatur ändert sich die Verteilung der Moleküle auf die verfügbaren Zustände; es werden sukzessive immer mehr Zustände mit höheren Energien besetzt, während die Besetzungszahl der Zustände mit geringerer Energie abnimmt. Nach der Boltzmann-Verteilung ist die Temperatur der einzige Parameter, der die Verteilung der Moleküle auf die verfügbaren Energiezustände (d. h. deren Besetzungszahl) beeinflusst.
Die Boltzmann-Verteilung schafft nicht nur Klarheit über den Begriff „Temperatur“ – sie ist ein zentrales Konzept zum grundlegenden Verständnis vieler Bereiche der Chemie. Die Feststellung, dass die meisten Moleküle bei niedrigen Temperaturen nur niedrige Energiezustände besetzen, ist der fundamentale Grund für die Existenz chemischer Verbindungen im Allgemeinen sowie für die Stabilität von Flüssigkeiten und Feststoffen. Die Feststellung, dass angeregte Zustände höherer Energie bei höheren Temperaturen zugänglich werden, ist die Grundlage dafür, dass chemische Reaktionen ablaufen können – denn dadurch erhält eine Verbindung erst die Möglichkeit, sich in eine andere umzuwandeln. Diese beiden Punkte werden wir im vorliegenden Buch im Detail diskutieren.
Sie sollten sich stets an die Boltzmann-Verteilung erinnern (die wir im Rahmen dieses Buchs noch ausführlicher behandeln werden), denn wir werden immer wieder auf sie zu sprechen kommen, wenn wir etwa die Eigenschaften makroskopischer Materie erörtern oder wenn es um die Bedeutung der Temperatur geht. Die Untersuchung von Energieübertragungen und das Wissen um die Verteilung der Energie auf energetische Zustände gemäß der Boltzmann-Verteilung sind der Schlüssel zum Verständnis der Thermodynamik sowie der Struktur und der Umwandlung von Substanzen in der Chemie.
Abb. 2 Die Boltzmann-Verteilung der Besetzungszahlen der Zustände eines Systems bei zwei Temperaturen. (a) Bei niedrigen Temperaturen befinden sich die meisten Moleküle in Zuständen mit geringer Energie. (b) Bei hohen Temperaturen können einige Moleküle auch Zustände mit höherer Energie besetzen.
FOKUS 1
Die Eigenschaften der Gase
Ein Gas ist eine Form von Materie, die einen beliebigen Behälter stets vollständig ausfüllt. In diesem Fokus werden die Eigenschaften der Gase eingeführt, auf die im weiteren Verlauf des Textes zurückgegriffen wird.
Ein „ideales Gas“ ist ein vereinfachendes, idealisiertes Konzept zur Beschreibung von Gasen. Die Zustandsgleichung des idealen Gases kann aus experimentellen Befunden gewonnen werden, die durch das Boyle’sche Gesetz, das Charles’sche Gesetz und durch das Avogadro-Prinzip beschrieben werden.
1.1.1 Die Zustände der Gase; 1.1.2 Zustandsgleichungen und Gasgesetze
1.2 Die Bewegung von Molekülen in Gasen
Ein zentraler Aspekt der Physikalischen Chemie ist es, Modelle für das Verhalten von Molekülen aufzustellen, um die beobachteten Phänomene erklären zu können. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Ableitung eines Modells für das Verhalten der Moleküle (oder Atome) eines idealen Gases, die sich in ständiger, ungerichteter Bewegung befinden. Dieses Modell ist die Grundlage für die molekulare kinetische Gastheorie. Sie liefert nicht nur eine Erklärung für die Gasgesetze, sondern sie kann auch benutzt werden, um die mittlere Geschwindigkeit zu berechnen, mit der sich Moleküle in einem Gas bewegen, sowie deren Abhängigkeit von der Temperatur. In Kombination mit der Boltzmann-Verteilung (siehe Prolog „Energie, Temperatur und Chemie“) erlaubt uns das Modell darüber hinaus, Geschwindigkeitsverteilungen sowie deren Abhängigkeit von Molekülmasse und Temperatur anzugeben.
1.2.1 Die kinetische Gastheorie; 1.2.2 Intermolekulare Stöße
Das ideale Gas ist ein ausgezeichneter Ausgangspunkt für die Betrachtung aller Gase, und dessen Eigenschaften werden uns bei der Betrachtung der Thermodynamik und der Kinetik immer wieder begegnen. Allerdings weicht das tatsächliche Verhalten von „realen Gasen“ von diesen idealisierten Eigenschaften ab. Daher beschäftigen wir uns in diesem Abschnitt mit der Interpretation dieser Abweichungen, und wir