Physikalische Chemie. Peter W. Atkins
1.2 Die Bewegung von Molekülen in Gasen
Motivation
Eine wichtige Aufgabe in der Physikalischen Chemie ist die Entwicklung von strengen Theorien, die auch experimentell überprüfbare quantitative Aussagen erlauben, aus einfachen qualitativen Modellvorstellungen. Die kinetische Gastheorie ist ein exzellentes Beispiel für diese Vorgehensweise, und sie liefert darüber hinaus wichtige Erkenntnisse für die Diskussion der Transporteigenschaften von Gasen (siehe Abschn. 16.1), Reaktionsgeschwindigkeiten in der Gasphase (siehe Abschn. 18.1) und der Katalyse (Abschn. 19.3).
Schlüsselideen
Ein Gas besteht aus Molekülen von vernachlässigbar geringer Größe, die sich kontinuierlich und ungeordnet bewegen. Stoßen Moleküle zusammen, gehorchen diese Kollisionen den Gesetzen der klassischen Mechanik.
Voraussetzungen
Sie sollten mit den Gesetzen der klassischen Mechanik vertraut sein, insbesondere mit dem zweiten Newton’schen Gesetz, welches besagt, dass die Beschleunigung eines Körpers proportional zu der auf seine Masse wirkenden Kraft ist. Darüber hinaus sollten Sie den Impulserhaltungssatz kennen (siehe „Toolkit 3: Impuls und Kraft“).
Die kinetische Gastheorie (engl. kinetic molecular theory, KMT) geht davon aus, dass die Energie eines Gases nur aus der kinetischen Energie seiner Moleküle stammt. Als eine der bemerkenswertesten (und sicherlich auch schönsten) Theorien der Physikalischen Chemie erlaubt uns dieses Modell, aus einigen knapp zu fassenden Annahmen, wichtige quantitative Schlüsse zu ziehen.
1.2.1 Die kinetische Gastheorie
Die kinetische Gastheorie basiert auf drei Annahmen:
1 1. Ein Gas besteht aus Molekülen, die sich kontinuierlich und ungeordnet bewegen.
2 2. Die Größe eines Moleküls (der Moleküldurchmesser) ist vernachlässigbar gering im Vergleich zur Strecke, die im Mittel zwischen zwei Stößen zurückgelegt wird.
3 3. Die Moleküle wechselwirken nicht miteinander, außer bei elastischen Stößen.
Elastisch wird ein Stoß genannt, bei dem die Translationsenergie der Stoßpartner erhalten bleibt, also keine Energie auf innere Freiheitsgrade übertragen wird.
Toolkit 3: Impuls und Kraft
Die Geschwindigkeit v eines Teilchens ist definiert als die Änderung der Position pro Zeit. Die gerichtete Geschwindigkeit v (engl. velocity) ist eine vektorielle Größe, und besitzt somit sowohl einen Betrag als auch eine Richtung. Teilchen können sich im dreidimensionalen Raum durchaus mit derselben Geschwindigkeit, jedoch in unterschiedliche Richtungen bewegen. Die gerichtete Geschwindigkeit kann als Vektorpfeil dargestellt werden, wobei der Betrag (die „Länge“) des Vektors die Geschwindigkeit v, und die Richtungskomponenten vx, vy und vz die Vektorkoordinaten entlang der jeweiligen Raumachsen bezeichnen (Abb. T1). Dabei handelt es sich um gerichtete Komponenten: vx = +5ms-1 bedeutet, dass sich ein Körper entlang der x-Achse („nach rechts“) bewegt, wohingegen vx = -5ms-1 bedeutet, dass sich der Körper in die entgegengesetzte Richtung („nach links“) bewegt. Die „Länge“ des Vektorpfeils (die Geschwindigkeit v) gehorcht dabei dem Satz des Pythagoras, d. h. der Betrag der Hypotenuse ergibt sich aus dem Quadrat der einzelnen Komponenten des Vektors gemäß
Die Konzepte der klassischen Mechanik finden ihren Ausdruck in der Definition des Impulses p eines Teilchens, der definiert ist als
Der Impuls berücksichtigt also ebenfalls die Geschwindigkeit als vektorielle Größe (mit Ausbreitungsrichtung). Teilchen derselben Masse, die sich mit identischer Geschwindigkeit v bewegen, jedoch in unterschiedliche Raumrichtungen, besitzen also auch unterschiedliche Impulse.
Die Beschleunigung a (engl. acceleration) ist die Änderung der (gerichteten) Geschwindigkeit pro Zeit.
Ein Teilchen beschleunigt, wenn sich die Geschwindigkeit seiner Bewegung erhöht. Ebenso spricht man von einer Beschleunigung des Teilchens, wenn der Betrag seiner Geschwindigkeit zwar unverändert bleibt, sich jedoch seine Bewegungsrichtung ändert. Nach dem zweiten Newton’schen Gesetz ist die Beschleunigung eines Teilchens der Masse m proportional zu der Kraft, die auf das Teilchen wirkt:
Da mv der Impuls ist, und a die zeitliche Änderung der Geschwindigkeit, entspricht ma der zeitlichen Änderung des Impulses. Anders formuliert können wir also feststellen, dass die Kraft, die auf ein beschleunigtes Teilchen wirkt, gleich der Änderungsrate des Impulses ist. Das zweite Newton’sche Gesetz zeigt, dass die Beschleunigung in derselben Raumrichtung verläuft wie die Kraft, die auf ein Teilchen wirkt. In