MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Josquin des Prez. Группа авторов
dynastischen Tauschgeschäft mit dem römischen König Maximilian im Jahr 1494 – war Francesco Sforza nach dem Aussterben der Visconti im Mannesstamm und langwierigen Verhandlungen mit dem Mailänder Adel aufgestiegen, in denen er diesem zahlreiche Zugeständnisse machte und Privilegien erteilte. Als homo novus an der Spitze einer der italienischen Hauptmächte, also an der Seite des Dogen von Venedig, der Medici in Florenz, des Papstes in Rom und des Königs von Aragon in Neapel und Sizilien, war Francesco Sforza dringend darauf angewiesen, sich das Image eines guten christlichen Herrschers zuzulegen, der seine Untertanen wie ein fürsorglicher Familienvater regierte. Mindestens ebenso dringend musste die ganze Familie ihre wenig prestigeträchtige Herkunft durch die Entfaltung von Kulturglanz überdecken und vergessen lassen – und hier kam, eine Generation später, Ascanio Maria Sforza und mit dessen Bestrebungen Josquin des Prez ins Spiel.
Francesco Sforza war sich in den anderthalb Jahrzehnten seiner Regierung der Fesselungen und Einschränkungen, die ihm der Pakt mit der lombardischen Geburtselite auferlegte, bewusst, regierte bewusst defensiv und verschaffte sich durch sein enges Bündnis mit den Medici in Florenz starken Rückhalt. Diese Zurückhaltung legte die nächste Generation zu ihrem Nachteil ab. Sein ältester Sohn und Nachfolger Galeazzo Maria wurde 1476 nach zehnjähriger betont autokratisch-selbstherrlicher Herrschaft Opfer einer Verschwörung mailändischer Adeliger.9 Für seinen siebenjährigen Sohn Gian Galeazzo führte dessen Onkel Ludovico, nach seinem dunklen Teint »il Moro« genannt, die Regierung, die er auch nach der Volljährigkeit seines Mündels, das er 1494 höchstwahrscheinlich vergiften ließ, nicht mehr abgab. Zum Nachteil der nicht-aristokratischen Abstammung kam jetzt der Makel der Illegitimität, eine brisante Mischung, die in den nachfolgenden Jahrzehnten das mühsam austarierte Machtgleichgewicht Italiens erst empfindlich stören und ab 1494 zerbrechen lassen sollte, v. a. durch die daraus resultierenden Spannungen mit dem König von Neapel, dessen Tochter mit dem Schattenherrscher Gian Galeazzo verheiratet war. Ludovico Sforza und sein auf dessen Macht eifersüchtiger jüngerer Bruder Ascanio Maria reagierten darauf mit einer dezidierten Hochrisiko-Politik und dem weiter forcierten Bemühen um eine glanzvolle Hofhaltung, die ihre Schwachstellen zu überdecken vermochte.
I Im Rom der Borgia
Dabei kam Kardinal Ascanio Maria und seinem Gefolge eine Schlüsselposition zu: Er sollte durch eindrucksvolles Auftreten an der Kurie die in Mailand und Umgebung zunehmend ausgehöhlte Machtstellung der Sforza stärken und nach außen glanzvoll repräsentieren. Das wurde durch die Wahl Innozenz’ VIII. im August 1484 schwieriger, aber nicht unmöglich. Obwohl sich der schwache neue Pontifex maximus vornehmlich an die Medici anschloss und mit deren Chef Lorenzo sogar ein Ehebündnis für seinen Sohn Franceschetto aushandelte, war er durchgehend auf gedeihliche Beziehungen zu allen größeren Mächten angewiesen. Für Kardinal Ascanio Maria Sforza schlug sich dieses Bemühen in der Erteilung einer Legation innerhalb des Kirchenstaats nieder, die diesem beträchtlichen Einfluss sicherte; zugleich war ihm Dispens von einem dauerhaften Aufenthalt in Rom erteilt worden, was ein regelmäßiges Pendeln zwischen Mailand und der Ewigen Stadt erlaubte; alles spricht dafür, das Josquin des Prez seinen Patron auf diesen Wegen begleitete. Dessen Rolle während des Pontifikats Innozenz’ VIII. lässt sich am besten als eine Position im Wartestand beschreiben. Der Papst war chronisch krank, sodass während seiner ganzen achtjährigen Regierungszeit stets mit einem Konklave zu rechnen war, für das die rivalisierenden Parteien ihre Ressourcen ordneten und mobilisierten. Dass des Prez ab 1489 als Mitglied der päpstlichen Kapelle erscheint, fügt sich nahtlos in dieses Bild – einem anderen Mächtigen renommierte Künstler zur Verfügung zu stellen, war ein politischer Akt, durch den man auf Wohlwollen und Gegenleistungen zählen durfte.
In den acht Jahren von 1484 bis 1492 spitzte sich allerdings auch die Feindschaft zwischen den Sforza und den Borgia auf der einen und den Della Rovere auf der anderen Seite weiter zu, eine Eskalation, der der schwache Pontifex ohnmächtig zusehen musste. Dabei schenkten sich beide Seiten nichts – sowohl Giuliano della Rovere als auch Ascanio Maria Sforza schreckten nach der glaubwürdigen Einschätzung von dessen Biografen10 nicht einmal vor Anschlägen auf das Leben ihres Todfeindes zurück. Da diese erfolglos blieben, musste das nächste Konklave eine Entscheidung herbeiführen, die nicht nur für die Parteiführer, sondern auch für deren Klientel, unter ihnen des Prez, folgenreich sein würde.
Als es Anfang August 1492 so weit war und 23 Kardinäle zur Kür des neuen Papstes zusammenkamen, schlug Ascanio Maria Sforzas große Stunde.11 Da er mit gerade einmal 37 Jahren und als Bruder eines der mächtigsten Herrscher Italiens selbst keine Aussichten auf die Tiara hatte, da seine Wahl das immer prekärere Mächtegleichgewicht auf der Halbinsel irreparabel zerstört hätte, betätigte er sich als Wahlhelfer Rodrigo Borgias, und zwar so umtriebig und energisch, dass ihm im Erfolgsfall eine herausragende Stellung, manche Beobachter schrieben sogar: die Position eines »Über-Papstes«sicher sein musste. Und dieser Erfolg trat ein: Sforza und Borgia bestachen einen Kardinal nach dem anderen mit der Aussicht auf reiche Pfründen und sicherten dem Letzteren, der nach seiner Wahl den Namen Alexander VI. annahm, so die nötige Zweidrittelmehrheit. Dabei gingen sie so brachial und ungeniert vor, dass sich die Kenntnis dieser Praktiken in Windeseile durch ganz Europa verbreitete, einschließlich der Tarife, zu denen sich die Kirchenfürsten korrumpieren ließen. Damit war der kirchenrechtlich verpönte Tatbestand der Simonie gegeben, der eine schwere Sünde bedeutete, die Wahl jedoch nicht ungültig machte. Ab August 1492 hatte somit ein Pontifex maximus den Stuhl Petri inne, dessen Ruf bei den kurialen Insidern und den meisten europäischen Intellektuellen schwer beschädigt war. Für fromme Naturen stellte sich von jetzt an immer dringender die Frage, ob man einem solchen Oberhaupt der Kirche ohne Schaden für das eigene Gewissen und Seelenheil überhaupt dienen durfte. In den nächsten Jahren beantwortete eine Minderheit der Kirchenfürsten, die sich um Kardinal Todeschini Piccolomini, den Neffen Pius’ II. (1458–1464) scharte, diese Frage abschlägig und zog sich in ihre Diözesen zurück. Wie der nach Ausweis seiner Kompositionen tiefgläubige Josquin diese von nun an in ganz Europa immer kontroverser diskutierte Frage für sich beantwortete, ist mangels Quellen nicht zu bekannt. Eine gewisse Antwort liegt darin beschlossen, dass er als Mitglied der päpstlichen Kapelle gut zwei Jahre lang unter Alexander VI. aktiv blieb. Welche Eindrücke er in dieser Zeit gewann und mehr noch: welche Schlüsse er aus dieser Zeitzeugenschaft zog, ist in Ermangelung von Dokumenten nicht zu ermitteln.
So muss es an dieser Stelle genügen, ein kurzes Panorama der historischen Entwicklung am Beginn des zweiten Borgia-Pontifikats zu zeichnen – mit der Vorbemerkung, dass der Name Borgia seinen unheimlichen, schließlich geradezu apokalyptischen Klang12 erst nach einigen Jahren und vollends in der zweiten Hälfte des elfjährigen Pontifikats gewann. Bei seinem Amtsantritt war einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, dass er als Kardinal und Vizekanzler der römischen Kirche, also als Stellvertreter von fünf Päpsten, eine Reihe von Kindern gezeugt und die vier prominentesten von diesen, Cesare, Lucrezia, Jofré und Juan, notariell als seine Sprösslinge anerkannt hatte. Das war für wertkonservative Theologen ein Zeugnis abgrundtiefer Unmoral, aber in den Augen jüngerer Kardinäle und breiter Kreise allenfalls eine lässliche Sünde. Darüber hinaus erwarb er sich in den mehr als dreieinhalb Jahrzehnten seines Kardinalats den Ruf eines gewieften und oft auch skrupellosen Diplomaten mit ausgezeichneter Kenntnis der europäischen Mächtelage und des kurialen Apparats. Die Prognosen zu seinem Herrschaftsantritt waren daher durchaus nicht eindeutig – die meisten Beobachter erwarteten einen theologisch und kirchenpolitisch konservativen Pontifikat nach dem Vorbild Calixtus’ III.: eine Betonung des päpstlichen Primats gegenüber den weltlichen Herrschern, Anstrengungen für einen neuen »Kreuzzug« und Stärkung der Inquisition, allerdings verbunden mit dem Bestreben, der Familie Borgia eine unabhängige fürstliche Stellung in Italien zu verschaffen. Was sich ab 1497 dann tatsächlich abspielte, sprengte den Vorstellungs-Horizont der Zeit völlig auf.
Dass des Prez eine Zeitlang im Rom der Borgia blieb, dürfte wiederum ebenso wie sein Ausscheiden im Jahr 1495 mit der Stellung zusammenhängen, die sein Patron