Selbstmitgefühl für Eltern. Susan Pollak

Selbstmitgefühl für Eltern - Susan Pollak


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Hilfe bei deinen Erziehungskonflikten ist. Es muss nicht so schwer sein und wir müssen nicht so sehr leiden. Und unsere Kinder auch nicht. Möge dieses Buch etwas Freude, Glück, Lachen und Mitgefühl in dein Leben und das deiner Familie bringen.

      Wie man das Buch nutzt

      Es gibt keine »richtige« Art und Weise, dieses Buch zu nutzen. Du musst es nicht von vorne bis hinten lesen. Spring einfach rein, finde ein Kapitel oder eine Geschichte, die dich anspricht, und fange da an. Falls das Thema Achtsamkeit neu für dich ist, findest du in den ersten Kapiteln Übungen für Anfänger:innen. Ich habe versucht, Achtsamkeits- und Mitgefühlsübungen mit Reflexionsübungen zu kombinieren, um das Material für alle Leserinnen und Leser zugänglich zu machen. Diese Reflexionen sollen dir helfen, dich auf das zu fokussieren, was du brauchst; nimm also Stift und Notizblock zur Hand oder halte deine Antworten auf deinem Smartphone oder Tablet fest, falls das einfacher für dich ist. Du hast keine Zeit zum Lesen? Das verstehe ich – ich hatte auch keine, als meine Kinder klein waren. In dem Fall gehst du einfach ins Arbor Online Center (siehe den Link hier) und lädst die ausgewählten Audio-Dateien herunter (die Nummern der Aufnahmen sind bei den Übungsanleitungen in den folgenden Kapiteln angegeben). Du kannst diese Aufnahmen anhören während du Geschirr spülst, deinen Morgenkaffee trinkst, das Schulvesper für deine Kinder richtest oder Auto fährst (halte aber bitte die Augen offen). Steckst du in einer Krise? Schau in der »Werkzeugkiste« am Ende des Buches nach, um dir sofort Hilfe zu holen: bei Koliken, Wutanfällen, Geschwisterrivalitäten, einem kranken Kind, einem Machtkampf mit einer/einem Teenager:in und anderen häufigen Herausforderungen. Aber das Wichtigste ist, wie mir vor Jahren eine meiner Achtsamkeitslehrerinnen sagte: »Man kann es nicht falsch machen.« »Oh, wirklich?«, erwiderst du. Ja, wirklich. Ich habe mein Leben damit zugebracht, mich für die kleinsten Fehler zu bestrafen. »Man kann es nicht falsch machen«, würde sie uns sagen. War diese Lehrerin von einem anderen Stern? Was hatte sie eingenommen? (Und würde sie es uns verraten?) Während ich in ihrem Mitgefühl, ihrem Humor und ihrer Weisheit badete, musste ich an die unvergessliche Zeile aus »Harry und Sally« denken: Ich beschloss, dass ich »haben will, was sie hat«.

      Die gute Nachricht ist: Achtsamkeit und Mitgefühl stehen uns allen zur Verfügung – und wir können sie mit den Menschen in unserer Umgebung teilen. Es sind Qualitäten, die du entwickeln kannst. Die Übungen sind nicht für heiter-gelassene Menschen gedacht, bei denen schon alles perfekt ist. Du musst nicht gut im Stillsitzen sein. Du musst nicht vegan, zucker- oder koffeinfrei leben. Du kannst genau so sein, wie du bist: überarbeitet, angespannt, neurotisch, unter Schlafmangel leidend und kaum in der Lage, alles zusammenzuhalten. Es ist in Ordnung, »ein Durcheinander« zu sein. Ich war das auf jeden Fall. Wenn du atmen kannst (und schau jetzt nicht nach – du tust es bereits), dann kannst du auch das hier schaffen. Willkommen.

      1 »To be a mother«. In: Olsen, Tillie: Silences. New York, NY: The Feminist Press, 1965, S. 18.

      2 Lerner, Max: Amerika, Wesen und Werden einer Kultur – Geist und Leben der Vereinigten Staaten von heute. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1957, im Orig. S. 562.

      3 Neff, Kristin und Germer, Christopher: Selbstmitgefühl – Das Übungsbuch: Ein bewährter Weg zu Selbstakzeptanz, innerer Stärke und Freundschaft mit sich selbst. Freiburg: Arbor Verlag, 2019.

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      »Bitte lass es aufhören – ich kann nicht mehr!«

      Erziehungsarbeit ist eine überwältigende Aufgabe

      Der Tank ist leer

      Es war einer jener Morgen. Das Baby hatte nicht geschlafen, Amélies Mann war auf Geschäftsreise und die dreijährige Sophie bestand darauf, im Kindergarten ihr neues Ballettröckchen anzuziehen, während sich an diesem Januarmorgen in Neuengland draußen der Schnee auftürmte. Und außerdem waren sie zu spät dran. Natürlich waren sie zu spät dran. Amélie hatte Zeit gehabt, den Kindern etwas zu Essen zu geben, aber keine Zeit mehr, selbst etwas zu essen.

      »Du kannst dein Ballettröckchen und die Ballerinas heute nicht anziehen«, insistierte Amélie. »Es schneit.«

      »Das ist mir egal«, gab Sophie zurück und drehte Pirouetten. Amélie war nicht nach streiten zumute. »Liebes, wir sind spät dran«, sagte sie bittend mit höher werdender Stimme.

      »Spät dran, spät dran«, äffte Sophie nach und imitierte den hohen Ton ihrer Mutter.

      »Genug jetzt, keine Widerrede, wir gehen. JETZT. Zieh deine Jacke an,« sagte Amélie und versuchte, bestimmt aber ruhig zu klingen, wie es in allen guten Erziehungsratgebern empfohlen wird.

      »Du kannst mich nicht zwingen, du kannst mich nicht zwingen,« erwiderte Sophie in einem Singsang. Sie hörte auf zu tanzen, ließ sich trotzig zu Boden fallen und streckte die Zunge heraus.

      Amélie war wütend. »Genug! Ich habe genug«, schrie sie, schnappte sich beide Kinder und zerrte sie zum Auto, während ihr Anoraks aus den Händen rutschten. Mit einer Hand öffnete sie die Autotür, um das Baby in seinen Sitz zu verfrachten und warf Sophie ihre Jacke zu. Sophie nahm sofort eine neue Möglichkeit wahr, Widerstand zu leisten, während die Entschlossenheit und das Mitgefühl ihrer Mutter schwanden und von kochender Wut abgelöst wurden: Prompt weigerte sie sich.

      »Du bist nicht mein Boss«, spottete sie.

      »Du kannst ruhig frieren, schau, ob mir das was ausmacht« konterte Amélie, während sie beide Kinder in ihren Kindersitzen anschnallte und losraste.

      Sophie begann zu jammern und das Baby schloss sich an.

      »Hör sofort damit auf«, zischte Amélie und fühlte sich überfordert und hilflos. Das war eindeutig keiner der schöneren Momente ihrer Mutterschaft.

      »Ich will zu meinem Papa«, schrie Sophie. »Er ist nicht so gemein wie du.« Es war eine Erleichterung für alle, am Kindergarten anzukommen. Die Erzieherin war sehr verständnisvoll bei der Begrüßung, wischte Sophies Tränen weg, ließ sie herein und schenkte Amélie ein mitfühlendes Lächeln. Innerhalb von Minuten begann Sophie mit ihren Kindergartenfreund:innen zu malen und zu lachen.

      Amélie ging, winkte beschämt zum Abschied und hatte das Gefühl, eine schreckliche Mutter zu sein. Während Sophie die Sache schon vergessen hatte, fiel Amélies Wut wie ein Bumerang aus Scham, Schuld und Bedauern auf sie zurück. Sie begann sich auszuschimpfen. »Ich mache das wirklich ganz schlecht. Ich bin eine furchtbare Mutter.«

      Auf der Heimfahrt fing der Motor an zu stottern und das Auto blieb schließlich stehen. »Oh, Mist«, dachte Amélie, Normalerweise sorgte ihr Mann Tom dafür, dass das Auto betankt war, aber da er unterwegs war, hatte sie überhaupt nicht daran gedacht, die Tankanzeige zu überprüfen, die natürlich auf »leer« stand.

      Amélie seufzte, packte das Baby in sein Tragegestell und lief in Richtung einer Tankstelle. Inzwischen schneite es heftiger. »Großartig, das ist genau, was ich verdammt nochmal jetzt brauche«, dachte sie, als sie zu weinen begann. Die Intensität ihres Schluchzens überraschte sie selbst. »Wie kann ich das schaffen? Wie kann ich die nächsten 15 Jahre überstehen, ohne mich selbst und die Kinder in den Wahnsinn zu treiben?«

      Alle haben es schwer

      Vielleicht war dein schrecklicher, furchtbarer, sehr schlechter Tag nicht so dramatisch wie derjenige von Amélie, vielleicht war er auch schlimmer, aber wir alle haben mindestens eine Geschichte über »jenen Tag« zu erzählen. Wir sind alle schon mal hungrig, wütend, einsam und müde mit leerem Tank oder etwas Schlimmerem dagesessen. Mutter oder Vater sein ist schwer für alle, aber besonders schwer ist es, wenn Angehörige weit weg sind und die Umgebung sie ersetzen soll,


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