Selbstmitgefühl für Eltern. Susan Pollak
Spüre die angenehme Wärme der Berührung.
Atme fünfmal tief ein und aus. Ja, du hast Zeit für fünf Atemzüge. Du atmest ja sowieso.
Gib dir die Erlaubnis, dich um dich selbst zu kümmern, freundlich zu dir zu sein. Du verwendest soviel Zeit darauf, dich um andere zu kümmern, um die Bedürfnisse anderer. Nimm dir einen Moment für dich selbst. Was brauchst du?
Gib dir die Erlaubnis, zu essen, zu duschen, dich auszuruhen, innezuhalten und zu atmen.
Amélie probierte das ein paar Wochen lang aus. An manchen Tagen gelang es ihr nur für drei Atemzüge, aber auch das schien bereits zu helfen. Obwohl es ihr so simpel vorkam, hatte sie das Gefühl, dass es sie erdete.
»Manchmal bin ich so hektisch, dass ich vergesse zu essen oder keine Zeit zum Duschen finde. Ich war völlig ausgepowert. «Und jetzt erkenne ich, wie wahr die Redensart ist, mit der ich im Süden aufgewachsen bin: ›Wenn Mama nicht glücklich ist, ist niemand glücklich‹», sagte sie lachend. Ich kann nicht ohne Schlaf oder Essen auskommen und dann erwarten, dass es in der Familie gut läuft. Wenn ich nichts zu geben habe, leiden alle darunter. Ich habe erkannt – und das war ein Durchbruch für mich – dass ich nicht von anderen abhängig sein muss, um meine Batterien aufzuladen. Ich kann es selbst tun. Ich brauche weder meinen Mann, noch meine Geschwister oder Eltern, um mich zu stärken. Das war sehr befreiend.«
Es gibt viele Möglichkeiten, Achtsamkeit und Mitgefühl zu praktizieren. Nicht alle wollen still sitzen und nach innen schauen. Kein Problem. Eine Größe passt nicht für alle. Ich werde dir helfen, herauszufinden, was für dich funktioniert. Ich vermittele den Leuten gerne kurze Reflexionen, bei denen man sich einen Moment Zeit für sich selbst nimmt (vielleicht wenn die Kinder im Bett sind), und sich Gedanken über die eigenen Bedürfnisse und Wünsche macht. Nach dieser Übung kannst du notieren, was bei dir dabei aufgetaucht ist.
Reflexionsübung: Was brauche ich?
Finde einen ruhigen Augenblick, vielleicht am frühen Morgen oder Abends, nachdem die Kinder zu Bett gegangen sind. Stell dir, wenn du magst, vor deinem inneren Auge einen mächtigen Baum mit tiefen Wurzeln und einem starken Stamm vor. Nimm wahr, dass die Zweige des Baumes sich so hoch gen Himmel strecken, wie die Wurzeln tief sind. Du könntest dir sogar vorstellen, dass du durch deine Schädeldecke einatmest und dann durch deine »Wurzeln« oder Füße ausatmest.
Frage dich »Was brauche ich?«
Halte inne und achte auf Worte oder Bilder, die eventuell auftauchen.
Frage noch einmal »Was brauche ich wirklich?«
Nimm dir ein paar Minuten Zeit, um dich für alles zu öffnen, was hochkommt.
Schreib auf, was du entdeckt hast.
Als Amélie diese Übung ausprobierte, bemerkte sie, dass sie sich innerlich mit dem Bild des tief verwurzelten Baumes verband. »Ich habe meine Familie und meine Geschwister und meinen Freundeskreis verlassen, um hierher zu kommen und ich vermisse dieses Gefühl der Verbundenheit wirklich. Irgendwann hatte ich die Vorstellung, dass ich eines Tages einen Partner, ein Zuhause und Kinder haben würde und dass alles wundervoll sein würde und ich alles hätte, was ich brauchte; dass ich mich erfüllt fühlen würde. Wie ich mich getäuscht habe! Ich fühle mich hier so isoliert, so allein. Und ich dachte, ich könnte das alles schaffen, aber ich schaffe es nicht. Ich brauche eine Auszeit. Ich kann nicht sieben Tage die Woche 24 Stunden am Tag für alle da sein. Dieser Baum braucht Sonne, Wasser und ein bisschen Dünger!«
Damit ist Amélie nicht allein. Viele von uns fühlen sich isoliert. Im Laufe der vergangenen 30 Jahre habe ich mit so vielen Eltern gesprochen und habe so viele Wege gesehen, die in die Isolation führten. Manchmal warten wir, bis wir meinen, alle Puzzlestücke am richtigen Platz zu haben: Die Karriere, das Haus oder die Wohnung, ein anständiges Einkommen, und wir denken »Ja, das ist der richtige Zeitpunkt«. Aber dann klappt es vielleicht nicht mit der Schwangerschaft, und wenn wir dann endlich Kinder bekommen, haben die meisten unserer Freundinnen ihre Kinder schon gehabt oder sind wieder in den Beruf zurückgekehrt. Anstatt mit unseren Freundinnen Zeit zu verbringen und unsere Kinder im goldenen Sonnenlicht auf der Schaukel anzustoßen, sind wir auf der Suche nach Babysitter:innen und Kindermädchen. Plötzlich haben wir das Gefühl, aus dem Tritt zu sein. Oder das Unternehmen, für das wir arbeiten, hat uns in ein anderes Bundesland oder sogar ins Ausland versetzt. Soviel zu diesem Traum. Vielleicht hat auch unsere Partnerin das Gefühl, dass sie nun an der Reihe ist, sich auf ihre Karriere zu konzentrieren und wir sind an den meisten Tagen der einzige Mann auf dem Spielplatz, und die Mütter und Babysitterinnen sind nicht sehr freundlich und es gibt niemanden, mit dem wir uns unterhalten können. Wie sehr wir uns auch anstrengen, wie viel wir auch planen: Es ist nie perfekt, und wir erkennen, wie wenig Kontrolle wir über die Dinge haben. (Falls du dich in dieser oder einer ähnlichen Situation befindest, gefällt dir vielleicht die Übung »Du musst nicht alles kontrollieren« in Kapitel 5, Seite 123).
Lernen, inne zu halten
Die Leute beklagen sich oft darüber, dass sie keine Zeit für eine Achtsamkeitspraxis haben, insbesondere mit kleinen Kindern. Keine Sorge: Ich verstehe das sehr gut. Ich hatte auch keine. Deshalb sind die von mir vorgeschlagenen Übungen – besonders die in den ersten Kapiteln – für Eltern gedacht, die zu viel zu tun haben, und denen es an Zeit für sich selbst mangelt. Die meisten dieser Übungen dauern nur drei Minuten oder weniger. Forscher:innen sagen uns, dass es auf die Regelmäßigkeit ankommt, nicht auf die Dauer der Übung oder Meditation. Denk mal darüber nach: Was würde dein Zahnarzt empfehlen? Einmal pro Woche die Zähne 40 Minuten lang zu putzen oder zweimal täglich drei Minuten lang? Und du musst auch nicht stillsitzen, um Achtsamkeit praktizieren zu können. Man kann das im Gehen, im Stehen, beim Autofahren (halte die Augen offen!), im Bett liegend und sogar beim Windelnwechseln tun (siehe die Übungen »Achtsamkeit im Alltag«).
Achtsamkeit muss nicht etwas sein, das du allein in der Stille eines Meditationsraums oder auf einem entgelegenen Berggipfel tust, sondern kann Teil deines verrückten, geschäftigen Lebens als hektische Mutter (oder Vater) werden, die oder der versucht, zu viel auf einmal unter einen Hut zu bringen. Und genau dann brauchst du sie am meisten.
Eine der einfachsten Übungen ist die »Elternpause«, die von der Psychologin und Meditationslehrerin Tara Brach adaptiert wurde. Tara Brach lehrt, dass eine simple ein- oder zweiminütige Pause den Ton und die Richtung einer Interaktion verändern kann – eine Fertigkeit, die sich bei der Kindererziehung und in allen Beziehungen (insbesondere engen Beziehungen) als sehr wertvoll erweist.6
Warum kannst du, verd… nochmal, nicht einschlafen!?
Leon hatte einen sehr stressigen Job im Verkauf. Bevor er und Kyra heirateten, hatten sie sich darauf geeinigt, die Kinderbetreuung halbe-halbe untereinander aufzuteilen. Theoretisch hatte sich das gut angehört aber Tim war eine Frühgeburt und hatte Atemprobleme. Es wurde zwar besser, aber sowohl Kyra als auch Leon machten sich weiterhin Sorgen um ihn. Als Tim sieben Monate alt war und nachts immer noch nicht durchschlief, schlief niemand im Haus nachts durch.
Kyra arbeitete im Einzelhandel, was bedeutete, dass sie lange Arbeitstage hatte und manchmal auch am Wochenende arbeiten musste. In den ersten Monaten, als Kyra im Mutterschutz war, hatten sie das Baby nach Bedarf gefüttert und sich über jeden Schrei Sorgen gemacht. Nach ihrer Rückkehr an ihren Arbeitsplatz war Kyras Chef nicht gerade begeistert darüber, dass sie tagsüber abpumpte. Und das Baby nachts alle zwei Stunden zu füttern war zusätzlicher Stress.
Leon war sicher, dass er es besser machen könne und bot großzügig an, das nächtliche Füttern zu übernehmen. »Kein Problem, ich hab das im Griff«, versicherte er Kyra. Doch es war nicht so einfach wie er gedacht hatte. Beim Versuch, es »richtig« zu machen und Kyra zu zeigen, wie kompetent er war, stand er jedes Mal auf, wenn Tim einen Laut von sich gab, fütterte ihn und versuchte, ihn wieder schlafen zu legen. Doch Tim genoss es, mitten in der Nacht seinen Papa zu sehen und beschloss,