Selbstmitgefühl für Eltern. Susan Pollak

Selbstmitgefühl für Eltern - Susan Pollak


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es allerdings miserabel. Er war so verschleimt, dass ihm das Atmen schwerfiel, er konnte nicht schlafen, hatte Schmerzen und war reizbar. »Schick ihn einfach in den Kindergarten. Das ist keine große Sache – mach keine Memme aus ihm.« Matthis war ihr erstes Kind und Valerie bekam schon ihr Leben lang zu hören, dass sie zu emotional sei. Also steckte sie ­Matthis in einen warmen Pullover, zog ihm Schal und Handschuhe an und brachte ihn in die Tagesbetreuung. Er hatte kaum Temperatur und sie musste arbeiten gehen. Ein paar Stunden später rief die Erzieherin an: »Matthis hat sich gerade übergeben. Sie müssen ihn abholen«, insistierte sie. »Großartig«, dachte Valerie, »soviel zu einem erfolgreichen Arbeitstag.« Als sie im Kindergarten ankam, war Matthis Temperatur erhöht. Er wirkte ungewöhnlich blass und apathisch, schien sich aber sehr zu freuen, sie zu sehen.

      Sie gab ihm ein Mittel gegen das Fieber aber die Temperatur sank nicht. Sie stieg sogar noch. »Das ist nicht in Ordnung«, sagte sie zu ihrem Mann, »ich bringe ihn zum Arzt, da stimmt etwas nicht.« »Meine Güte, Valerie. Lass ihn sich gesund schlafen. Du kannst doch nicht spätabends die Ärztin anrufen. Und wir beide brauchen auch unseren Schlaf. Belästige sie nicht so spät, es ist doch nur eine Grippe.«

      Als das Fieber am nächsten Morgen immer noch nicht gesunken war, musste Valerie bei ihrer Arbeitsstelle anrufen, um einen weiteren Tag frei zu nehmen. »Wie um Himmelswillen können die Leute ihre Jobs behalten, wenn sie Kinder haben?«, fragte sie sich. Sie war wütend, hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen und machte sich Sorgen. Das Fieber stieg weiter und Valerie brachte Matthis zur Kinderärztin. Er war apathisch, rang um jeden Atemzug und sein Herz raste. Die Kinderärztin untersuchte ihn und sagte in ruhigem aber ernstem Ton: »Fahren Sie mit ihm ins Krankenhaus, wir geben ihm sofort Medikamente. Und Valerie –«, die Ärztin hielt inne und legte eine Hand auf Valeries Schulter, »ich will Ihnen keine Angst einjagen, aber fahren Sie bitte direkt ins Krankenhaus, fahren Sie nicht erst zu Hause vorbei.«

      Natürlich bekam Valerie Angst. Sie packte Matthis ins Auto und fuhr so schnell sie konnte ins Kinderkrankenhaus in der Innenstadt. Sie hasste es, durch den Stadtverkehr zu fahren, besonders im Berufsverkehr, aber sie hatte keine Wahl.

      Als sie im Krankenhaus ankamen, war sein Fieber auf 39,5 Grad gestiegen. Und das Atmen fiel ihm immer noch schwer. Die Wartezeit schien sich endlos hinzuziehen. Valerie fühlte sich so allein. »Bitte, er bekommt kaum Luft. Könnte vielleicht schon jemand nach ihm schauen?« Valerie schnappte sich eine Krankenschwester in einem Versuch, Hilfe zu bekommen. Nach wenigen Augenblicken standen sie in der Notfallambulanz. Matthis lag auf einem Metalltisch über dem grelle Lampen hingen und wurde von Ärztinnen, Schwestern und jungen Assistenzärzten umringt. Plötzlich war sein kleiner Körper an Maschinen, Schläuche, Monitore angeschlossen. Alles ging so schnell. Es wirkte so unwirklich.

      »Es ist gut, dass Sie ihn jetzt hergebracht haben«, sagte die diensthabende Ärztin. »Ihr kleiner Junge hat eine schwerwiegende Atemwegsinfektion. Ich möchte ihn heute Nacht hierbehalten, damit wir ihn unter Beobachtung haben.«

      Valerie war außer sich aber auch erleichtert, dass Matthis in guten Händen war und dass ihre Sorgen ernst genommen wurden. Sie hatte es mit Achtsamkeitsübungen probiert, aber es war ihr unmöglich, sich auf ihren Atem zu konzentrieren, während Matthis nach Luft rang. Als sie versuchte, sich auf ihren Atem zu fokussieren, konnte sie an nichts anderes denken als an seine Schmerzen, sein Leiden und seinen Kampf um jeden Atemzug. Aber sie brauchte etwas, um diese Tortur durchzustehen. Sie war erschöpft, ihr ganzer Körper zitterte und sie würde die Nacht auf einem Krankenhausstuhl neben seinem Bett verbringen und versuchen etwas zu schlafen.

      Valerie mochte es, Umgebungsgeräuschen zu lauschen – ebenfalls eine beliebte und praktische Meditationsform – und stellte fest, dass das für sie besser funktionierte als die Konzentration auf den Atem. Sie passte diese Grundübung an die Situation im Krankenhaus an.

       Die Klänge des Lebens

       Du kannst die Übung im Sitzen, Liegen oder Stehen machen. Die Position spielt keine Rolle. Mach es dir so bequem wie möglich.

       Beginne den Klängen in deiner Umgebung zu lauschen. Das können die Geräusche der Heizung oder der Klimaanlage, des Windes, des Regens oder des Straßenverkehrs sein.

       Du musst die Geräusche weder benennen, noch an ihnen festhalten oder versuchen, sie auszublenden. Erlaube dir, den Klängen, so, wie sie sind, zu lauschen.

       Stell dir vor, dass du mit deinem ganzen Körper zuhörst und die Geräusche aus allen Richtungen aufnimmst von oben, unten, vorne und hinten.

       Nimm wahr, dass jedes Geräusch, jeder Klang so wie jede Geschichte einen Anfang, einen mittleren Teil und ein Ende hat.

       Vielleicht empfindest du manche Geräusche als lästig oder nervig, während andere keine Reaktion auslösen. Beurteile die Geräusche nicht, lausche einfach.

       Es ist kein Problem, wenn du gedanklich abschweifst; lenke die Aufmerksamkeit einfach wieder auf die Geräusche im Raum und den gegenwärtigen Moment.

       Schau, ob du dir erlauben kannst, bei den momentanen Klängen zu verweilen so wie sie sind.

       Auch wenn das ein schwieriger Moment ist: Mach dir bewusst, dass diese Komposition von Klängen und Geräuschen nie wieder genauso auftreten wird.

       Wenn du bereit bist, nimm einen tiefen Atemzug, bewege leicht die Hände und Beine und öffnen die Augen, falls du sie geschlossen hattest.

      Als Valerie ihre Erfahrung reflektierte, erkannte sie, dass es ihr half, den Geräuschen in Matthis Zimmer zu lauschen: So konnte sie eher präsent bleiben und vermeiden, sich in Ängsten oder Katastrophendenken zu verlieren, was normalerweise ein Leichtes für sie war. »Normalerweise hätten mich diese Töne genervt, das Pipsen der Monitore, die Geräusche des Sauerstoffgeräts, der Infusion, aber jetzt hatten sie etwas Beschützendes. Ich wusste, dass ihn die Maschinen mit ihren blinkenden Lämpchen und ihrer Aktivität am Leben hielten. Und dieses Wissen hielt mich davon ab, zu einem hysterischen Nervenbündel zu werden.«

      Diese Praxis half Valerie, eine dramatische Situation zu überstehen, aber sie ist auch im Alltag sehr nützlich. Obwohl sich Meditations- und Yoga-Lehrerinnen und -Lehrer meistens auf den Atem konzentrieren, ist das vielleicht nicht für alle der beste Weg. Sich auf die Innenwelt statt auf die äußere zu fokussieren kann unangenehme Emotionen und Erinnerungen hochbringen. Für Menschen mit einer von Ängsten und Traumata belasteten Vorgeschichte ist ein sanfter Weg, Achtsamkeit ins tägliche Leben zu bringen, die Aufmerksamkeit auf die Klänge und Geräusche der Umgebung zu richten. Viele Leute, die Vorbehalte gegenüber Meditation haben, finden leichter Zugang zu dieser Praxis. Und sie ist einfach. Wir müssen nichts dazu tun, dass die Geräusche kommen und gehen. Wir müssen sie nicht manipulieren. Wir können Geräuschen und Klängen ohne jede Anstrengung lauschen. Das Geräusch taucht auf, wir hören es und wir sind präsent.

      Rosa kam zu mir, weil sie Hilfe suchte, um ihren stressigen Alltag mit drei kleinen Kindern und einer betagten Mutter, die nach einer Knieoperation Pflege brauchte, bewältigen zu können. Sie glaubte nicht, dass Achtsamkeit für jemanden mit einem so stressigen Leben funktionieren würde. Ich sagte ihr, die Praxis sei wie ein Welpen-Training, denn sie erfordere Geduld, eine Portion Humor und Selbstakzeptanz. Sie hielt sich dafür nur drei Minuten täglich frei und stellte fest, dass sie »mit einem Geräusch nach dem anderen« in den gegenwärtigen Moment zurückkehren konnte. Indem sie sich auf die Geräusche in ihrer Umgebung fokussierte, während sie zwischen dem Fußballtraining der Kinder und der Pflege ihrer Mutter hin und her raste, nahm ihre innere Unruhe ab.

      Alexandra hatte eine traumatische Vorgeschichte mit sexuellem Missbrauch. Sie wollte es mit Achtsamkeit probieren aber sie wurde unruhig, wenn sie versuchte, ihren Atem zu spüren. Umgebungsgeräuschen zu lauschen wurde für sie zu einem Weg, sich zu stabilisieren und in den gegenwärtigen Moment zu kommen. Immer wenn sie das Gefühl hatte, von Erinnerungen überwältigt zu werden, oder von der Angst, dass ihrer Tochter etwas Schlimmes zustoßen würde, halfen ihr das Summen der Klimaanlage oder die Geräusche des Straßenverkehrs, ihr Gewahrsein im Moment und in ihrem gegenwärtigen


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