Selbstmitgefühl für Eltern. Susan Pollak

Selbstmitgefühl für Eltern - Susan Pollak


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des Übens, bei der sie sich immer wieder auf die Geräusche und Klänge ihres hart erkämpften neuen Lebens und ihr Kind fokussierte, ließen ihre Grübeleien über das Trauma allmählich nach. Wir können auch Umgebungsgeräuschen lauschen und uns dabei noch auf unsere anderen Sinne einstimmen, zum Beispiel beim Gehen oder wenn wir im Bus sitzen, oder beim Geschirrspülen. Während unsere Gedanken in die Zukunft eilen oder in der Vergangenheit hängen bleiben, sind unsere Sinne immer in der Gegenwart.

      Achtsamkeit und Mitgefühl sind nicht nur Praktiken für erschöpfte, gestresste Eltern, die versuchen, mit zu vielen Bällen zu jonglieren, ohne sie fallen zu lassen. Sie sind Werkzeuge fürs Leben. Es sind Fertigkeiten, die dir helfen können, die Folgen der wahrlich herausfordernden Situationen zu bewältigen, mit denen wir alle konfrontiert sind: Familien, die unsere Bedürfnisse ignorierten oder in denen Missbrauch geschah, der emotionale Stress durch Krankheit, finanzielle Belastungen, die Härten als Alleinerziehende, Traumata und die Folgen von Suchterkrankungen. Achtsamkeit und Mitgefühl vermitteln uns eine neue Einstellung zu unseren Belastungen und die Freiheit, nicht durch unsere Vorgeschichte und die Ereignisse unseres Lebens definiert zu werden.

      »Ich ertrinke«

      Robert wurde dazu erzogen, nicht über Probleme zu sprechen. Hilfe zu benötigen galt in seiner Familie, in der man auf Eigenständigkeit setzte, als Zeichen von Schwäche. Seine Frau sah, dass er am Ende war und Hilfe brauchte, um mit seinem Stress fertig zu werden. Er war ein harter Arbeiter, der Älteste von fünf Geschwistern. »Ich bin loyal. Ich versuche, derjenige zu sein, der immer da ist, jemand, dem man vertrauen kann. Ich lasse niemanden im Stich«, sagte er zu mir.

      »Ich beklage mich nicht; das wäre meiner Meinung nach respektlos. Meine Mutter war Krankenschwester. Sie ist eine taffe, pragmatische Person. Wenn man krank war, musste man trotzdem zur Schule gehen, es sei denn, man blutete aus dem Kopf. Sie ist eine gute und ehrliche Frau. Mein Vater arbeitete im Baugewerbe. Er ist stolz. Ein harter Knochen. Als ich ein Teenager war, hatte er einen Arbeitsunfall und musste Erwerbsunfähigkeitsrente beantragen. Das zog ihn runter und er fing an zu trinken. Meine Mutter übernahm das Ruder und begann Extraschichten zu arbeiten. Ich sprang auch in die Bresche, trug Zeitungen aus und fing an, im örtlichen Lebensmittelladen Einkäufe einzupacken. Mit fünfzehn kann man nicht viel Geld verdienen. Ich musste auch bei der Betreuung der kleineren Kinder einspringen, wenn meine Mutter bei der Arbeit war. Wir aßen Frühstücksflocken zum Abendessen und dann beschloss ich, zu lernen, wie man eine Mahlzeit zubereitet. Nichts Besonderes, aber ich kann Wasser zum Kochen bringen«, lächelte er. »Vater ist jetzt die meiste Zeit bettlägerig und hat eine beginnende Demenz. Traurig, wirklich traurig.« Er schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. »Ich versuche immer noch, auszuhelfen und sie zu unterstützen; seine Behandlung ist mit hohen Kosten verbunden. Meine Geschwister versuchen auch zu helfen. Aber wir alle haben auch unsere eigenen Familien und finanziellen Verpflichtungen. Die Erwerbsunfähigkeitsrente kann man vergessen.«

      »Nach der Schule trat ich ins Möbelgeschäft der Familie ein. Ich hatte gehofft, dass sie es mir übergeben würden. Ich lernte Buchführung. Es war ein sicherer Arbeitsplatz. Und sie haben mich gut behandelt; für eine Weile lief alles wirklich gut. Ich gründete eine Familie und hatte das Gefühl, vorwärts zu kommen. Aber dann wurde mein Onkel krank – Krebs – und konnte den Laden nicht mehr am Laufen halten. Und ich hatte kein Geld, um das Unternehmen zu kaufen. Das war’s dann. ›Tut mir leid, Junge‹, sagte er ›ich wünschte, ich hätte mehr für dich tun können.‹«

      »Ein Dutzend Jahre harter Arbeit und nichts war dabei herausgekommen. Nicht mal eine anständige Abfindung. Ich stehe auf der Straße. Ich habe eine Frau und drei kleine Kinder. Ich bin stolz darauf, ein guter Versorger zu sein. Ich habe nach einem neuen Job gesucht. Bewerbungen verschickt, das Internet durchforstet, Freunde angerufen – nichts. Und das geht schon seit Monaten so. Ich mache mir Sorgen. Das Geld ist knapp, also fahre ich für das Taxiunternehmen Uber. Die Leute behandeln mich wie einen Dienstboten. Meine Eltern und meine Familie sind auf meine Hilfe angewiesen. Meine Frau arbeitet im Kindergarten, aber das reicht nicht, um über die Runden zu kommen. Ich fühle mich nutzlos. Manchmal wache ich nachts voller Panik schweißgebadet auf und kann kaum atmen. Und wenn es an manchen Tagen richtig schlimm ist, habe ich das Gefühl, zu ertrinken.«

      »Und manchmal hasse ich mich«, sagte Rob. »Ich bin unkonzentriert, wütend, habe das Gefühl, nichts richtig machen zu können. Ich hacke auf mir herum, wenn ich vergesse, Milch aus dem Supermarkt mitzubringen.«

      Es war offensichtlich, wie hingebungsvoll sich Robert um seine Familie kümmerte und wie sehr er sich anstrengte. Und auch, wie hart er mit sich ins Gericht ging, wenn die Dinge nicht wie geplant liefen. Man hat herausgefunden, dass 75 % von uns härter mit sich selbst umgehen, als sie mit einem Freund oder einer Freundin umgehen würden. Um ihm zu helfen, ein bisschen Abstand zu gewinnen, fragte ich ihn, was sein bester Freund sagen würde.

      »Oh, er würde wahrscheinlich sagen, dass ich eine schwere Zeit durchmache, dass es aber wieder besser werden wird.«

      »Okay, wie wäre es, wenn wir eine Übung ausprobieren würden, die helfen könnte, diese Sichtweise beizubehalten?«, schlug ich vor.

      »Du meinst, eine Übung könnte helfen? Wie könnte sie denn helfen? Wird sie mir helfen, eine neue Arbeitsstelle zu finden und meine Familie zu ernähren? Mir geht es nicht um irgendwelche ›Alles-wird-gut‹-Versprechen«, erwiderte er skeptisch.

      »Das ist wissenschaftsbasiert. Einen Versuch ist es doch wert. Ich werde sie zusammen mit dir machen«, sagte ich.

      Die folgende Reflexionsübung ist eine adaptierte Version aus dem Selbstmitgefühlskurs (Mindful Self-Compassion) von Christopher Germer und Kristin Neff. Sie kann uns beruhigen und uns helfen, die schwierigeren Prüfungen des Lebens durchzustehen.

      Reflexion: Was würde deine beste Freundin (dein Freund) sagen

       Nimm dir einen Moment Zeit und setz dich still hin. Denke an eine freundliche, liebevolle Freundin oder einen Freund. Es könnte auch eine Lehrerin, ein Mentor, eine Angehörige oder sogar ein Tier oder ein spirituelles Wesen sein.

       Nimm wahr, wie du dich in der Gegenwart der Freundin, des Freundes körperlich und geistig fühlst.

       Erzähle dieser Freundin oder diesem Freund, was du durchmachst und wie schwer das für dich ist.

       Was würde dieser Freund oder diese Freundin zu dir sagen? Stell dir die Worte, den Ton und sogar den Gesichtsausdruck vor. Du kannst die Worte in Form eines Briefes oder als Notiz festhalten.

       Sei offen für alle Worte, Bilder und Gefühle, die auftauchen.

       Was würde er oder sie tun? Vielleicht würde sich ein Schulterklopfen, eine Umarmung oder ein sanftes Drücken der Hand gut und richtig anfühlen.

       Falls du es hilfreich findest, kannst du auch diese Reaktion auf einen Zettel schreiben und ihn in deiner Brieftasche oder deinem Geldbeutel bei dir tragen, und sie jedes Mal anschauen, wenn du etwas Unterstützung oder Trost brauchst.

      Robert stellte sich Jakob, seinen besten Freund aus Schule vor, der sein Kletterpartner und immer noch ein guter Freund war, aber nicht mehr in der Nähe lebte.

      »Als ich diese Übung machte, hörte ich ihn sagen ›Kumpel, es ist nicht deine Schuld. Mach es dir nicht so schwer, Mann. Halte einfach ein bisschen durch, bleib dran. Du kannst das Leben nicht kontrollieren. Du bist ein guter Kerl. Ich habe dir beim Bergsteigen immer mein Leben anvertraut und du hast mich nie hängen lassen. Du wirst die Sache drehen. Wenn es jemanden gibt, auf den du zählen kannst, dann bist du es.‹ Es fühlte sich an wie das Freundlichste, das jemand seit Jahren zu mir gesagt hatte.« Aus Robs Augenwinkel rollte eine Träne. »Vielleicht bin ich am Ende gar nicht so schlecht.« Er hielt inne. »Und es fühlt sich gut an, nicht alles für sich zu behalten. Diese Sorgen haben mich bei lebendigem Leib aufgefressen.«


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