Eisschwimmen. Conny Bischofberger

Eisschwimmen - Conny Bischofberger


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hatte. Der Brand erzählte die Geschichte eines Ehepaares, das sich im Lauf der Jahre verloren hatte. Die Dynamik innerhalb konventioneller Beziehungen faszinierte Isabella. Es lief ihrer Meinung nach immer auf dasselbe hinaus: Erwartungen, Unausgesprochenes, dazu der Alltag, das funktionierte auf Dauer nur mit großen Zugeständnissen. Zu groß für Isabella.

      Ihr Coach hatte recht behalten, das Lesen beflügelte ihre Gedanken. Wer so viel schreibt, muss zwischendurch auch viel lesen, hatte Michael gemeint, als Isabella ihm ihre Krise geschildert hatte. Sie konnte nicht mehr zuhören, sie konnte nicht mehr denken, sie konnte nicht mehr schreiben. Ihr war alles gleichgültig geworden. Alles hatte die gleiche Gültigkeit, nichts war mehr wert. Begleitet wurde ihr Zustand von Appetitlosigkeit und einem eigentümlichen Rieseln im Kopf. Es fühlte sich an, als würde unaufhörlich Flüssigkeit auf ihre linke Gehirnhälfte rinnen. Die Gehirnzellen durften in ihrer Vorstellung aber keinesfalls nass werden und aufquellen, ansonsten würde sie endgültig verrückt werden. Das penetrante Tröpfeln hatte einen ganz eigenen Takt. Es klang wie das immer lauter werdende Ticken einer Stoppuhr, wie der Countdown zu einer Katastrophe. Eine Ortsveränderung würde dir guttun, befand Michael, und mit dem Rieseln sollte sich vorsichtshalber ein Psychiater befassen.

      Seit sie sich erinnern konnte, liebte Isabella das Reisen, mehr noch als das Ankommen. Sie war gerne in Bewegung und genoss bereits die Vorstellung des Unterwegsseins. Bei der Planung folgte sie stets ihrem Instinkt. Diesmal war es jedoch anders gewesen. Es wollte sich einfach keine Reiselust einstellen, sie hätte sich viel lieber zu Hause verkrochen. Aber dann suchte sie nach einer Route, die sie herausfordern würde. Ein bisschen Norden, ein bisschen Süden. Haupt- und Küstenstädte. Nordsee und Atlantik. Kein Psychiater.

      Als sie die Fähre in Göteborg-Salholmen betrat, fühlte sie sich erschöpft und aufgekratzt zugleich. Die Namen der Inseln, die sie gleich ansteuern würde, endeten alle auf »ö«: Asperö, Brännö, Köpstadsö, Styrsö, Donsö. Es war kurz vor Mitternacht, als Isabella bei der Endstation, in Vrångö, von Bord ging.

      Mit letzter Kraft zog sie ihr Handgepäck durch die vom Mondschein beleuchteten schmalen Wege zur Airbnb-Wohnung im Gartentrakt eines weißgetünchten Hauses. Auf einem Mast wehte die blau-gelbe schwedische Flagge. Die Luft roch nach Salz und Heidekraut. Isabella atmete tief durch, tippte den fünfstelligen Code in das Display neben dem Eingang und betrat das Apartment.

      2

      Den letzten Abend vor ihrer Reise hatte sie mit Thomas Prinz verbracht. Der Investmentbanker war ein Jahr zuvor durch ein Missgeschick in ihr Leben geplatzt. Sie hatte nach zwei Gläsern Champagner seinen Aston Martin gerammt und wollte den Vorfall eigentlich rasch und versicherungstechnisch professionell abwickeln, nichts weiter. Aber dann überraschte sie dieser Mann mit seiner Großzügigkeit und Exzentrik, seinem ehrlichen Interesse für ihre Arbeit, mit Geschichten aus der ihr fremden Hochfinanz, mit seinen leicht snobistischen Weltanschauungen. Investmentbanker. Isabella hatte sich nie für diesen Beruf interessiert, gewöhnlich langweilten sie Geldthemen, außer es war Psychologie im Spiel. Prinz aber war ein begnadeter Erzähler. Er verstand es, selbst die Post-Covid-Strategie der Geldhäuser dramaturgisch spannend zu erklären. Und es hatte etwas Überzeugendes, wenn er ohne jeden Selbstzweifel darlegte, wie er die Dinge sah.

      Isabella schrieb zu dieser Zeit gerade unzählige Mails an einen Fremden. Österreich-Geschäftsführer bei Amnesty International. Sie hatte den Mann im Fernsehen gesehen und war von seiner Stimme elektrisiert gewesen. Nach zehn Jahren das erste Mal wieder verliebt – in ein Phantom, wie sich herausstellen sollte. Prinz kommentierte den Mailverlauf wie ein spannendes Experiment, der Ausgang schien für ihn klar. »Irgendwann wird er sich aus seiner Deckung herauswagen und seine Frau betrügen.« Eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass dem NGO-Aktivisten die Angelegenheit doch zu heiß werden könnte, räumte er allerdings ein.

      Er selbst war auch verliebt gewesen. In eine attraktive Staatsanwältin, die sich mit Prinz zwar regelmäßig verabredete, jedoch nie einen Zweifel daran ließ, dass sie ihrem Verlobten treu bleiben würde. »Der teuerste Wangenkuss meines Lebens«, zog er sarkastisch Bilanz über seine Bemühungen. Die Nächte mit Jay hatten ihn bereits ein kleines Vermögen gekostet. Dinner in Luxusrestaurants, dazu Jahrgangschampagner, Prinz hatte alle Register gezogen. Noch immer hielt er es keineswegs für unwahrscheinlich, dass die Angebetete sich eines Tages erkenntlich zeigen und schwach werden könnte.

      Isabella hörte ihm gern zu. Ihr erging es ähnlich. Sie hatte ihre ganze Energie in die Sache gelegt, zu mehr als gefühlvollen Mails und einem Kuss im Regen hatte es allerdings nicht gereicht.

      So bildeten sie eine Art Schattenpaar, das Hoffnung auf Nähe mit jemand Unerreichbarem teilte, aber auch die Angst davor. Es verband sie das Wissen um die Aussichtslosigkeit und die Frage, wie sie sich so verstricken lassen konnten in Gefühle, die ihnen an sich fremd waren. Irgendwo dazwischen waren Isabella und Prinz langsam Freunde geworden.

      »Lust auf Weiß gespritzt bei HH?« Isabella richtete gerade die automatische Antwortfunktion ihres Mailprogramms ein, als seine WhatsApp-Nachricht einlangte. Knapp und mit meist englischen Codes, so kommunizierte Prinz am liebsten. TD kommentierte er etwa, wenn sein Angebot für ein IPO – Initial Public Offering – ein paar Sekunden zu spät rausgegangen war. Es stand, beabsichtigt übertrieben, für Total Disaster. CCT war eine schmeichelhafte Bezeichnung für Isabella, wenn er, zumeist aus selbstsüchtigen Gründen, seinen Charme bei ihr spielen ließ. Es bedeutete Coolest Cat in Town. Manchmal nannte er sie auch TM, Tough Monkey. Isabella bedankte sich manchmal mit YSFN für hingenommene Terminverschiebungen. You’re so flexible and nice. So hatte sich mit der Zeit eine Art Geheimsprache zwischen ihnen entwickelt. Mit HH war Hengl-Haslbrunner gemeint, ein Wiener Traditions-Heuriger in der Döblinger Iglaseegasse.

      »Why not?«, schrieb Isabella, obwohl sie weder gepackt noch die diversen Corona-Einreise-Links ausgefüllt hatte. Einen Gurgeltest musste sie auch noch machen, den verlangten die Briten, obwohl sie bereits genesen und geimpft war. Wahrscheinlich als Strafe dafür, dass Österreich noch immer nicht aus der Europäischen Union ausgetreten war.

      Mach ich alles morgen, dachte Isabella, und fischte noch die interessantesten Magazine aus dem meterhohen Zeitungsstoß auf ihrem Schreibtisch. Lesestoff für unterwegs. Es war Samstagabend, ihr Flug nach Göteborg ging erst am Sonntagnachmittag.

      Im Schatten eines weitverzweigten Walnussbaumes schenkte Prinz ihr später an einem der Holztische im Innenhof Soda mit Weißwein ein. »Das Soda zuerst«, erklärte er. »Cheers!« Sie stießen eine Spur zu fest mit ihren Gläsern an, lachten eine Spur zu laut, wie sie fast alles übertrieben, auch das Trinken.

      »Schon im Reisefieber?«, fragte Prinz und zelebrierte den ersten Schluck.

      »Gar nicht«, sagte Isabella. Sie war sehr müde. »Eigentlich würde ich lieber in Wien bleiben.«

      »Ist normal«, fand Prinz, »morgen wird es dich noch Überwindung kosten, aber dann wirst du es lieben! Ich beneide dich.«

      Isabella genoss seine Bewunderung und das Prickeln des Weines auf ihrer Zunge. Gleich würde sie eine Leichtigkeit spüren und dem Gedanken, an diesem Abend für lange Zeit das letzte Mal in ihrem eigenen Bett zu schlafen, keine weitere Aufmerksamkeit mehr schenken.

      »Was hältst du von Speck?«, fragte Isabella. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich heute noch gar nichts gegessen habe.« Speck hatte sie schon als Kind allen Süßigkeiten vorgezogen. Auf die Frage, ob sie gerne ein Stück Schokolade möchte, hatte Bella, wie sie als Kind genannt wurde, der Überlieferung nach stets mit »Lieber ein Speckbrot!« geantwortet.

      Prinz winkte den Kellner herbei. »Einmal Brettljause für zwei. Und noch eine Karaffe Wein.«

      »Morgen um diese Zeit sitze ich schon im Flieger«, überlegte Isabella laut und rollte ihre Augen.

      »Ryanair, my favourite«, grinste Prinz. Er hatte sich eines Tages geschworen, nie mehr mit Billig-Airlines zu reisen und es auch durchgezogen. Isabella war das vollkommen egal, sie konnte sich jeder Situation anpassen. Und wenn es der Mittelsitz im Flieger zwischen zwei Übergewichtigen oder, wie es neuerdings hieß, Mehrgewichtigen sein sollte.


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