Eisschwimmen. Conny Bischofberger

Eisschwimmen - Conny Bischofberger


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über die Themse anfuhr, kamen die Erinnerungen zurück. Isabella saß oben, ganz vorne am Fenster. Es war ein Gefühl wie Fliegen, der beste Platz, den sie sich vorstellen konnte, wie in der Wiener Straßenbahn der Stehplatz im hintersten Waggon, mit dem Rücken zur Kabine. Nun sah sie den Fluss und die Schiffe unter sich, das London Eye im Osten, die Stadtteile Pimlico und Belgravia bewegten sich langsam auf sie zu, es war 14.04 Uhr. In einer Stunde erwartete sie der Schneider von James Bond am Montagu Square. Das letzte Stück von Marble Arch ging Isabella zu Fuß, an viktorianischen Häusern und verträumten Parks vorbei, mit einem Kribbeln im Bauch. Eliot Mason, der Nachkomme des Traditionshauses Mason & Sons, residierte im Haus, das einst John Lennon und Yoko Ono bewohnt hatten. Hier entstand auch das Nacktfoto der beiden, das im prüden Amerika für viel Furore gesorgt hatte. In denselben Räumlichkeiten würde ihr, Isabella Mahler, an diesem Tag ein Sakko angemessen werden. Letztlich, da hatte Thomas Prinz schon recht, war alles immer eine Geschichte.

      Auch dass vor zehn Jahren in dieser Stadt einmal für kurze Zeit der Kontakt zu ihrem älteren Sohn abgerissen war. Er studierte damals mit mehr oder weniger Motivation Film in Kingston upon Thames. Genauer gesagt, er versuchte damals herauszufinden, ob er Film, diese alles andere als einfache Spezialdisziplin der Kommunikation, wirklich studieren wollte. Ob sein Interesse für ein Studium ausreichte. Oder ob er nicht etwas völlig anderes machen sollte. Isabella hatte eine kleine Wohnung vis-a-vis der Universität für ihn gefunden, die Nähe zur Uni sollte ihm das Leben leichter machen. Eines Tages verschwand er in London. Einer seiner Lehrer, der rothaarige Ian, wie er Isabella in Erinnerung geblieben war, hatte sie darüber informiert, dass ihr Sohn nicht mehr beim Unterricht gesehen wurde. Sie verließ Wien fluchtartig und nahm den nächsten Flug nach London. Das Apartment sah aus, als hätte es schon viele Wochen lang niemand mehr betreten. Durch ein paar Telefonate erfuhr Isabella, dass ihr Sohn bei einem Freund wohnte, der seine Arbeit verloren hatte. Sie fand ihn im Künstlerviertel London-Hackney, und nach einem Tag fuhren sie gemeinsam nach Kingston zurück. Am selben Fluss, über den sie an diesem Mittag mit dem Doppeldecker-Bus gefahren war, führten sie lange Gespräche über den Sinn eines Studiums, den Sinn von Krisen, den Sinn des Lebens. Nie war sie ihrem Großen näher gewesen als auf der Mauer vor dem Fluss, einen Plastikbecher mit einem Pint Bier in der Hand. Sie hatte damals wieder einmal gelernt, dass Zuhören das Wichtigste war. Nur wenn sich ein Mensch respektiert und zumindest in Ansätzen verstanden fühlte, war er später Argumenten zugänglich. Und so hörte Isabella ihrem Sohn zu. Wenn sie etwas nicht nachvollziehen konnte, stellte sie eine Frage. Wie in ihren Interviews, und doch war es nicht zu vergleichen, weil es hier um die Zukunft ihres Sohnes ging. Ganz bewusst vermied sie das Wort »muss« und gute Ratschläge. Dass die Geschichte gut ausging, führte Isabella auch darauf zurück.

      »Bin schon fast bei Eliot«, schrieb sie Prinz auf WhatsApp, als sie zum Montagu Square einbog und schickte ein Foto des Hauses Nummer 34 nach. Der Eingang war mit orangen und pinken Blumen geschmückt, eine Blue Plaque an der Hauswand wies auf die einstigen prominenten Bewohner hin. »You will love it«, antwortete Prinz. Dazu die Krone, was Isabella wohl vermitteln sollte, dass sie sich gleich wie eine Königin fühlen würde.

      Als sich die schwarze Tür öffnete, kam sie sich underdressed vor in ihren weißen Jeans, der Seidenbluse und dem Leinenmantel, aber sie war schließlich auf Reisen. Eliot Mason trug den perfektesten und elegantesten Anzug, den Isabella je gesehen hatte. Feiner beiger Tweed und Perlmuttknöpfe, Einreiher, zwei Knöpfe. Dazu ein cremefarbenes Hemd.

      »So nice to meet you«, begrüßte er die von Prinz avisierte Klientin aus Österreich und strich sich die langen brünetten Haare aus dem Gesicht. Er führte sie in den Salon. »Please, take a seat.« Isabella nahm auf der Ledercouch Platz und sah sich um. Art déco, ein Kamin, knallroter Lehnstuhl, ovaler Spiegel, viele Buchbände.

      Dann führten sie ein wenig Smalltalk über Wien und London, über Herren- und Damenmode und den Unterschied zwischen echter Handwerksarbeit und Maßkonfektionen. Die Franzosen nennen das eine »le grand sur-mesure«, das andere »le sur-mesure industriel«, was den Unterschied, so fand Eliot, gut beschreibe. »Steht die Farbe schon fest?«, fragte er. »Prinz schrieb, es solle ein Sakko werden.« Er fischte dicke kleine Mappen mit Stoffmustern aus den Regalen und erklärte die Materialien. Stilsicher wählte Isabella ein dunkles Blau aus, das je nach Lichteinfall die Farbe änderte. Als Futter hätte ihr gut pink oder gelb gefallen. Dass Eliot darauf nicht gleich reagierte, deutete sie schließlich als diskreten Hinweis und entschied sich für stahlblaues Satin. »Classic is never wrong«, nickte Eliot.

      Wenn sie sich dann zum Spiegel stellen könne… Mit sanften Bewegungen rollte Eliot sein Maßband aus, legte es über Schultern und Arme, umkreiste Brust und Hüften und erwähnte, dass bei fast keinem Menschen der rechte und der linke Arm genau gleich lang sei. Er merkte sich immer zwei Längen, dann schritt er zu seinem Notebook und übertrug die Informationen in ein Dokument. Es würden zwei Anproben nötig sein, stellte er fest, ob das für sie möglich wäre?

      »Of course«, sagte Isabella und dachte an die Klimaforscherin. Sie kam gerne bald wieder, obwohl es natürlich verrückt war, für ein Sakko über den Ärmelkanal zu jetten. Aber mit Zug und Schiff zu reisen, dafür fehlte ihr wirklich die Zeit. Abgesehen davon, dass es sicher fünfmal so viel kosten würde. Die Rechnung für die Anzahlung werde er Thomas Prinz mailen, lächelte Eliot, als sie sich verabschiedeten. »Good choice!«, ergänzte er und ließ offen, ob er das Sakko oder den Mann meinte.

      Im Flugzeug von London-Gatwick nach Bilbao hielt Isabella später ein quadratisches Stückchen Stoff in der Hand, das Eliot ihr mitgegeben hatte. Es fühlte sich so weich und edel an und schimmerte, wenn sie das Blau ins Licht hielt. Sie trug immer kleine Dinge mit sich, die sie an spezielle Momente erinnerten. Das konnte eine Muschel vom letzten Spaziergang am Meer sein, ein Säckchen Zucker aus dem Café Imperial oder das rote Blatt, das zuletzt auf ihrer Laufstrecke im Kies gelegen war. Es hatte die Form eines Herzes, und erst rannte Isabella daran vorbei. Dann überkam sie das Gefühl, als sei das ein Zeichen. Sie drehte um, hob das Blatt auf, zu Hause trocknete und presste sie es, und seither wohnte es in ihren Moleskine-Notizbüchern.

      Nordspanien hatte Isabella deshalb als Reiseziel gewählt, weil ihr jüngerer Sohn in Barcelona seinen Master in Economics gemacht hatte und sie immer La Concha besuchen wollten, die Bucht von San Sebastián, es aber nie geschafft hatten. Bei ihrem Studium von Kochbüchern, die Isabella gerne las, war ihr die Küche des Baskenlandes immer ins Auge gestochen. Die Pinchos, kleine Holzspieße, an denen Brötchen mit der pikanten Paprikawurst Chorizo und dem Idiazábal-Schafskäse hingen. Gilda mit Peperoni, Anchovis und Oliven, benannt nach den Kurven einer Tänzerin aus dem gleichnamigen Film mit Rita Hayworth. Blutwurst mit Pistazie oder Ei am Stiel. Und als Einstimmung ein Gläschen Txakoli, wie der milde Weißwein dieser Gegend hieß. Darauf freute sie sich schon.

      Isabella verband mit jeder Stadt der Welt bestimmte Speisen, sie lernte Orte am eindrücklichsten durch kulinarische Erlebnisse kennen. Die frischgekochte Kuttelsuppe auf dem Fischmarkt von Athen, das beste Ceviche ihres Lebens am Strand von Lima, der unvergleichliche Cheeseburger bei PJ Clarkes in New York.

      Nach ihrer Ankunft in Bilbao bestieg Isabella den Bus zum Guggenheim-Museum. Dort wollte sie die Bilder von Jean-Michel Basquiat sehen. Der 1988 im Alter von 27 Jahren an einer Überdosis Heroin verstorbene Künstler faszinierte Isabella, nicht nur weil er mit seinen Werken mehr als 300 Millionen Dollar umgesetzt hatte und damit nach Picasso an zweiter Stelle lag. Sie mochte seine schwebenden Köpfe und Totenköpfe und den gekritzelten Text, das Morbide in lebendigen Farben machte ihr Gänsehaut. Auf der vollen Terrasse des Museumscafés bestellte sie nach ihrem Rundgang drei Tapas und ein Glas eiskalten Rosé. Aufmerksam lauschte sie dem Stimmorchester, das zu ihr drang. Jede Sprache hatte ihren eigenen Klang. Schwedisch war irgendwie herzig, so als würden sich Teddybären unterhalten. Spanisch hörte sich wie Schnattern an, schnell und aufgeregt. Wenn Isabella eines vermisste, dann waren es die Stimmen von ihren Freundinnen Kathi und Roxanne, von Marcelo, mit dem sie wohnte, und von Prinz. Sicher, manchmal bekam sie auch Sprachnachrichten, aber das war nicht dasselbe. Diese Stimmen sprachen nicht zu ihr, es fehlten die Lippen, die Augen, das Lächeln. Der Moment, in dem sie antwortete. Ansonsten reiste sie gern ganz allein. Sie genügte sich selbst meist vollkommen.


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