Eisschwimmen. Conny Bischofberger
Haar vom Wind zerzaust, auf der Suche nach Milch für ihren ersten Kaffee, und fühlte sich hin- und hergerissen. Der Gedanke, von Schweden aus noch ein Interview zu liefern, einen Coup, mit dem sie in Österreich alle überraschen würde, gefiel ihr. Sie spürte, wie schwer es ihr fiel, loszulassen. Sie verstehe die Lage, erklärte sie nach einer kurzen Nachdenkpause mit fester Stimme. »Ich habe mir aber vorgenommen, eine Pause einzulegen. Und ich bin sicher, dass du es genauso schaffen wirst!«, fügte sie hinzu und sandte der Kollegin den Kontakt der Witwe. Insgeheim befürchtete Isabella, dass wahrscheinlich die deutsche Bild-Zeitung das Rennen machen würde.
Dann nahm sie die Südroute zurück ins Dorf. Vorbei an felsigen Stränden mit Austernkraut und Lavendel, der ins Meer wuchs und das Wasser lila färbte, an Sandbuchten mit Meerroggen, wilden Orchideen und grasenden schwarzen Schafen. Isabella sammelte ein paar Schneckenschalen und Muscheln und Steine, sie würden sie zu Hause am Küchentisch noch lange an diesen Ort erinnern. Als Kind hatte sie Steine aus dem eiskalten Bach neben ihrem Haus »gerettet« und sie nachts im Bett gewärmt. Sie kam an einem Friedhof vorbei und hatte plötzlich Lust, sich auf die mit Moos bewachsene Mauer zu legen. Über ihr wogen sich die Äste der Birken im Wind. Wenn sie den Kopf zur Seite drehte, konnte sie die Tafeln mit den Namen und Berufen der Begrabenen lesen. Olof und Oscar Julin, Litsförmannen. Olle Carlsson und Erik Bolin, Pilotmästare. Sie musste an Igor denken, einen Journalisten, bei dessen Waldbegräbnis sie vor ihrer Abreise gewesen war. »Wollen wir mal einen Kaffee trinken?« Der Kollege hatte sie nicht nur einmal um ein bisschen Zeit gebeten. Isabella hatte immer freundlich genickt. »Machen wir demnächst!« Dann war er gestorben. Ihr war plötzlich elend zumute.
Sie wanderte weiter durch schattige Laubwälder, in denen sie Nachtigallen singen und Turmfalken schreien hörte. Vrångö war ein Natur- und Vogelschutzgebiet, es gab hier Möwen, Sperber, Waldohreulen und Feldlerchen. Keine Autos. Die Insel war mehrfach ausgezeichnet für vorbildliche Umweltschutzmaßnahmen von der Climate Awareness Initiative. Dass sie sich an einen solchen Ort zurückzog, wenn auch nur für drei Tage, würde die Klimaforscherin vielleicht versöhnlich stimmen, überlegte Isabella. Das Thema beschäftigte sie. Die Ausbeutung des Planeten, die Verschmutzung der Meere und der Luft, die Rodung der Regenwälder, all das drang immer mehr in ihr Bewusstsein. Isabella empfand es auch als ihre Verantwortung, umzudenken. Es gab keinen zweiten Planeten. Es ging um den Lebensraum ihrer Kinder und Enkelkinder. In diesem Laubwald in Südschweden dachte Isabella darüber nach, was sie in Zukunft konkret tun könnte, und was sofort. Sie beschloss, während ihrer Reise nur noch öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
Nach 2,5 Kilometern erreichte sie den Supermarkt, der in Wahrheit ein winziges Geschäft war und auch als Gärtnerei und Postamt fungierte. Sie kaufte Färsk Mjölk, Snabb-Bitsocker und zwei Croissants und lief über den Mittviksvägen zurück zu ihrem Apartment.
Dort stand der schwarze Koffer noch unausgepackt neben dem Sofa, ein Ärmel ihres gelben Kleides hing heraus, wie immer hatte sie am Ende alles schnell zusammengewürfelt und nur darauf geachtet, dass die wenigen Kleidungsstücke farblich zueinander passen und bequem sein würden. Dazu ihre rosa-gelben Asics-Sneakers und ein paar Flip-Flops. Je weniger sie mitschleppte, desto leichter fühlte sie sich auch innerlich. Isabella erinnerte sich an Reisen mit dem Vater ihrer Söhne. Manchmal waren sie mit einem leeren schwarzen Schrankkoffer, den ihr Partner makabrerweise »Sarg« nannte, nach New York geflogen, mit dem Plan, alles unterwegs einzukaufen. Unterwäsche, Kleidung, Zahnputzzeug, Notizblöcke, Bücher, und manchmal auch einen weiteren »Sarg«. Die elf Jahre mit dem elf Jahre älteren Medienmanager waren die anstrengendsten, aber auch aufregendsten ihres Lebens gewesen. Als das erste Kind kam, wurde es kompliziert. Beim zweiten Kind trennte sie sich von ihm. Das war jetzt auch schon 25 Jahre her.
Während das heiße Wasser durch die Kaffeemaschine lief, schlüpfte Isabella aus ihren Jeans und ihrer Bluse und stellte sich nackt vor den Spiegel. Mit kritisch-wohlwollendem Blick betrachtete sie sich. Mein Gott, sie war 58. Ihr Busen sah aus, als würden ihn versteckte Gewichte nach unten ziehen, den linken tiefer als den rechten. Die Oberarme und Schenkel waren wohlgeformt, bildeten aber bei gewissen Bewegungen Dellen. Hinten war auch nicht mehr alles so knackig. Kein Wunder, sie hatte zwölf Kilo abgenommen im vergangenen Jahr. Insgesamt mochte sie ihre Rundungen und Falten, den kleinen Bauch und das Dekolletee, nur den Truthahnhals empfand sie als störend. So bezeichneten Schönheitsmagazine die Falten des Doppelkinns, wenn man die Zunge herausstreckte, um sie wegzumassieren. Ihre braunen, sanften Augen und der schön geformte Mund lenkten davon ab, fand sie, so wie die dichten, mit goldblonden Strähnen aufgehellten Haare. Im Flugzeug hatte Isabella in einem Magazin geblättert und einen Artikel über »Style-Regeln für Frauen ab 50« gefunden. Frechheit, was da behauptet wurde, noch dazu von einer Frau. Angebliche No-Gos seien: Bikinis, Ripped Jeans, flache Schuhe, nackte Knie, neueste Trends. Für Isabella war das ein Grund, sich demnächst einen neuen trendigen Bikini zu kaufen.
Sie stieg in die Dusche und fühlte den heißen Strahl des Wassers auf ihrer Haut. Nach langer Zeit war sie wieder ganz bei sich, angekommen in ihrer inneren Welt. Wie ein unheilvolles Gewitter zogen die letzten Wochen an ihr vor über. Sie hatte viel zu viel gearbeitet. Sie hatte zugelassen, dass äußere Einflüsse ihr Handeln und Denken bestimmten. Sie hatte Menschen Macht über sie eingeräumt. Sie hatte sich dem Alkohol hingegeben. Signale ihres Körpers ignoriert und ihre innere Weisheit nicht mehr befragt. Isabella konnte hören, wie das Rieseln in ihrem Kopf und das Rieseln des Wassers eins wurden. Es war okay, dass ihre Glieder schmerzten, dass sie müde und erschöpft war.
Sie sah ihr Leben jetzt wie ein Maßband vor sich liegen. Siebzig Prozent waren verstrichen. Dem knappen Drittel, das noch blieb, wollte sie alle ihre Energien schenken. Als Isabella sich trocken massierte und in den Bademantel schlüpfte, korrigierte sie das Bild, das sie gerade gezeichnet hatte. Sie stellte sich vor, dass ihr noch unendlich viel Zeit bliebe, und spürte eine unbändige Lust zu leben.
4
Thank you for flying to London-Stansted! Ungern geschehen, dachte Isabella, als sie ihren Rollkoffer unter der wandernden Leuchtschrift Richtung Flughafenhotel zog. Ihre Billig-Airline war wieder einmal an einem der weitesten von der Ankunftshalle entfernten Gates gelandet. 5000 Schritte zeigte ihre Sport-App, das war so viel wie ihr Morgenlauf in Wien. Es war zwanzig Minuten nach Mitternacht und eine gute Entscheidung gewesen, das Hampton auf dem Flughafengelände zu buchen. Manche sogenannten Flughafenhotels lagen zig Kilometer weg von der Zivilisation, irgendwo draußen in der Pampa.
Es war schon verrückt, wie erst der Terror und dann die Pandemie das Reisen verändert hatten. Isabella erinnerte sich an Szenen, die sie mit dem Vater ihrer Kinder Anfang der Neunzigerjahre erlebt hatte. Da rief Hans aus dem silberfarbenen Golf von seinem kiloschweren Autotelefon die Stations-Managerin der AUA an. Isabella erinnerte sich bis heute an ihren Namen. Sissy Weiss. »Können S’ a paar Minuten woarten?«, fragte er, und Sissy Weiss rief den Piloten an, es komme gleich noch ein verspäteter Passagier. VIP. Damals durfte man noch, ohne Security-Checks zu absolvieren, über das Flugfeld zur Maschine laufen und später, beim Kaffee aus der Porzellantasse, an Bord auch eine Marlboro rauchen. Das klang heute wie ein Märchen aus längst vergangenen Zeiten, insbesondere nach 9/11. Die Plastikbeutel mit den Flüssigkeiten, das Abtasten des Security-Personals: Isabella hatte sich an all das gewöhnt, sie war ein Mensch, der sich gut auf neue Situationen einstellen konnte.
Das war auch bei dieser Reise so gewesen. Viele ihrer Freunde hatten, entmutigt von den Covid-Bestimmungen, in Österreich Urlaub gemacht. Bei Isabella verhielt es sich genau andersherum. Wenn alle die Nerven wegschmissen, wurde es für sie erst richtig interessant.
Die Einreise ins Vereinigte Königreich hätte sie sich allerdings nicht so mühsam vorgestellt. Die riesige Ankunftshalle war unterteilt in 25 Bahnen, zwischen denen Seile gespannt waren. Dort kroch die genervte Menschenschlange vor bis zu den Sicherheitsschranken, wo Roboter erst den Pass und den Impf-QR-Code jedes Passagiers scannten, danach den Gesichtsabgleich durchführten und dann grünes Licht gaben. Das Prozedere hatte 75 Minuten gedauert, länger als bei der Einreise in die USA.
Isabella hatte inzwischen im nur vier Gehminuten vom Terminal entfernten Hampton eingecheckt und fuhr mit dem Lift in den achten Stock. Das Zimmer war so, wie sie