Eisschwimmen. Conny Bischofberger
war, kehrte Leben ein. Isabella war früh aufgewacht und von ihrem kleinen Hotel auf der Anhöhe zum Berg Monte Igueldo hinunter nach San Sebastián gewandert. Auf Reisen legte sie oft 20000 Schritte pro Tag zurück, sie liebte das Gehen. Der sichelförmige Sandstrand war umsäumt von strahlend weißen Wohnpalästen der Belle Époque, unter den Arkaden auf dem rechteckigen Platz reihte sich ein Café an das nächste. Die Balkone ihrer Häuser hatten die Bewohner an diesem Platz früher an Stierkampf-Zuschauer als Logen vermietet.
Zufrieden rührte Isabella Zucker in ihren Cafecito und überlegte, wie sie diesen Tag verbringen wollte. Das erachtete sie als größtes Privileg. Herrin über ihre Zeit zu sein. Jeder Mensch hat 24 Stunden pro Tag zur Verfügung, dachte sie oft, wenn jemand klagte, er habe keine Zeit. Die Frage war nur, wie diese 24 Stunden eingeteilt, genutzt und gelebt wurden. Was die Prioritäten waren. Wofür unter allen Umständen Zeit bleiben musste. Isabella empfand dies als ultimative Gerechtigkeit, so wie das Sterben. Auf Reisen konnte sie ihre 24 Stunden allein nach ihrem Gutdünken nutzen.
Donostia-San Sebastián war nur knapp fünfzig Kilometer oder eine knappe Busstunde von Biarritz entfernt. Das war mit ein Grund gewesen, warum sie die nordspanische Stadt als Station ihrer zwölftägigen Reise gewählt hatte. In dem mondänen französischen Küstenort hatte sie als 26-Jährige einmal den amerikanischen Schauspieler Robert Mitchum interviewt. »Du bist so romantisch«, hatte Kathi am Vorabend geschrieben, als sie ihr von der Idee berichtet hatte, vielleicht nach Biarritz zu fahren, »du zelebrierst Erinnerungen wie keine Zweite«.
Das Interview mit dem populärsten männlichen Darsteller Hollywoods der Nachkriegszeit war in den späten Achtzigerjahren ein Coup gewesen. »Mitchum soll bei den Filmfestspielen sein, fahren Sie doch hin und machen Sie ein Interview!« So dachte ihr verstorbener Herausgeber, für ihn gab es keine Hürden oder Zweifel. Einfach versuchen, lautete seine Devise. Und dass den Tüchtigen das Glück hilft.
Isabella buchte einen Flug nach Paris und von der französischen Hauptstadt den Hochgeschwindigkeitszug TGV an die französische Südwestküste. Ohne Termin und ohne Aussicht auf Erfolg. Sie hatte nur herausgefunden, dass Mitchum angeblich im Hôtel Du Palais Biarritz wohnte, einem prunkvollen Palast am Atlantik, ehemaliger Sommersitz von Napoleon III.
So arbeiteten Journalisten damals. Die Manager und Pressebüros, die heute Interviews eher verhindern statt ermöglichen, spielten noch keine so große Rolle. Interviews waren eine Sache des Vertrauens, nicht der Kontrolle.
Als Isabella am Casino vorbei in die Avenue de l’Impératrice einbog, mit nichts als einem Schreibblock in der Tasche, wurde ihr die Aussichtslosigkeit ihres Tuns so richtig bewusst. Sie konnte ja nicht einfach auf Mitchums Zimmer marschieren, und selbst wenn ihr dieses Kunststück gelänge, würde er entweder die Tür nicht öffnen oder sie hochkantig rausschmeißen.
Das Hôtel Du Palais Biarritz tauchte wie eine uneinnehmbare Burg vor ihren Augen auf. Isabella nahm ihren gesamten Mut zusammen, als sie aufrechten Ganges zum Empfang des Luxushotels schritt und in kläglichem Französisch behauptete, Monsieur Mitchum erwarte sie. »Notre invité ne veut pas être dérangé«, entgegnete der Rezeptionist mit einem mitleidigen Lächeln, »unser Gast will nicht gestört werden«.
Sie fühlte sich wie eine Versagerin. Auf einer Bank im Park malte sie sich aus, was ihr Herausgeber wohl sagen würde, wenn sie ohne Interview nach Wien zurückkäme. Sie fühlte fast eine Spur von Verständnis für Kollegen, die Interviews erfunden oder zumindest aufgepeppt hatten. So etwas kam für sie aber nicht infrage. Isabella überlegte, ob sie eine Story über die Suche nach Robert Mitchum in Biarritz schreiben sollte, vielleicht wäre das sogar interessanter als ein langweiliges Interview.
Sie ließ ihren Blick über den prachtvollen Garten und die altrosafarbene Fassade des Palais schweifen und blieb an einem Balkon hängen. Dort stand ein Riese von 1,90 Metern mit einer Zigarette im Mundwinkel und hielt sein Gesicht in die Sonne. Es war Robert Mitchum.
Isabella sprang auf, begann wie wild zu winken und schrie: »Mister Mitchum!« Gott sei Dank war der Mann kein Franzose. »Mister Mitchum, I am a journalist from Vienna, Austria. May I come up?« Der Mann, der wie kein Zweiter den unerschütterlichen Westernhelden in der goldenen Ära Hollywoods verkörperte, fand ihre Darbietung offenbar komisch. Lachend rief er: »Why not?«
Sie hatte das Interview bekommen. Den konsternierten Blick des Rezeptionisten hatte sie nie vergessen. Es war einer jener Momente, in denen Furchtlosigkeit gegen Arroganz gesiegt hatte.
In Zeiten der #MeToo-Bewegung, überlegte Isabella, als sie später durch die schachbrettartigen Gassen der Altstadt von San Sebastián schlenderte, wäre so etwas undenkbar. Die neue Angst der Männer, der sexuellen Belästigung bezichtigt zu werden, hatte sich mittlerweile in allen Verzweigungen der Geschäftswelt verfestigt. Isabella kannte einen Unternehmer, der bei Besprechungen mit einer Frau stets die Tür offenhielt und schon mit dem Gedanken gespielt hatte, eine Überwachungskamera zu installieren. Dabei war er schwul. Die Zeiten hatten sich geändert, und das war gut so.
Als sie später auf der Mauer vor La Concha, dem berühmten Muschelstrand saß und ein Eis de chocolate amargo schleckte, war es wieder da, das Rieseln in ihrem Kopf. Dieses Gefühl, dass etwas Fremdes in sie eingedrungen war wie ein aggressives Virus. Dass da etwas in ihr wütete, gegen das sie machtlos war. Vielleicht hatte ihr Coach recht gehabt, als er meinte, dass sich das ein Psychiater anschauen sollte. Obwohl es erst Mittag war, ging Isabella ins Hotel zurück und verbrachte den Rest des Tages mit zwei Büchern im Bett. Rose Royal von Nicolas Mathieu, ein Spiegel-Bestseller. Und Irgendwann werden wir uns alles erzählen von Daniela Krien.
Das hatte sie an den Nacktfotos von John Lennon und Yoko Ono, aufgenommen im späteren Atelier ihres Londoner Schneiders, am meisten fasziniert. Dass dieses Paar seine Körperlichkeit öffentlich inszenierte, ganze Tage in Hotelbetten verbrachte, frei über Liebe und Sexualität sprach, dass John und Yoko nicht müde wurden, Mann und Frau zu sein.
Eine so intensive Nähe mit einem Menschen konnte sich Isabella längst nicht mehr vorstellen, und doch nahm jetzt eine Sehnsucht danach von ihr Besitz. Ihre Hände wanderten unter die Bettdecke, strichen über Haut und Haar, Finger bahnten sich Wege ins Innere, das Rieseln wurde stärker, ein Wasserfall überschwemmte ihren Körper, löschte alle Gedanken aus, sie fühlte nur noch, wollte sterben vor Lust, ohnmächtig, erlöst. Als Isabella am späten Nachmittag aufwachte, war es vollkommen still geworden in ihr.
7
Erster September. Das Kreischen der Möwen und ein nuschelnder Singsang aus dem Garten der Tapas-Bar unter ihr weckten Isabella auf. So klang Porto. Sie trat auf den kleinen Balkon ihres Hotels und sah die Kutter auf dem Fluss, Jongleure und Musikanten am Ufer, die São-Francisco-Kirche im Westen, die bunten, schmalen Häuser mit ihren verspielten Balkonen und Fliesen, eine weiße Katze, die zusammengerollt auf einer Bank in der Sonne döste. Isabella fühlte sich noch nicht bereit für den Herbst.
Sie war schon einen Tag früher als geplant aus San Sebastián abgereist, nach dem Nachmittag im Hotel hatte sie keine Lust mehr auf Abenteuer gehabt. Portugal war die letzte Station ihrer Reise. Zwei Stunden fuhr der Bus an der Küste entlang zurück zum Flughafen von Bilbao. Unterwegs checkte sie einen Flug nach Porto auf ihrem Smartphone. Von dem Mann im Bus in Bournemouth und David hatte sie nichts mehr gehört.
Lissabon kannte sie, konnte es förmlich riechen. Die Meeresluft des Atlantiks, den süßen Duft der Pastéis de Nata. Aber sie war nie in Porto gewesen.
In einer Doku des Senders ARTE, die ihr in Erinnerung geblieben war, schlenderte Gérard Depardieu in Shorts und einem verschwitzten T-Shirt den Strand entlang, erzählte vom Kochen und Essen, rümpfte seine Knollennase über so manche Speisekarte, testete Restaurants, indem er bis in die heiligen Küchen vordrang und dort seine Finger genüsslich in Kochtöpfe steckte. Auf dem Markt von Bolhão, der in Porto seit dem 18. Jahrhundert existiert, traf Depardieu dann seinen Freund, den Pariser Chefkoch Laurent Audiot. Die beiden schnüffelten Trüffel, drückten Avocados, rochen an Zuckermelonen und kosteten Weintrauben. Dann trafen sie den Kuttelhändler Arnaldo Lopes, der die milchweißen Gewebe in die Kamera hielt und erklärte,