"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!". Meinhard Saremba


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Auch Clara zeigte sich frei von Extravaganzen nebst den Allüren einer Starpianistin. Dabei war sie, wie ihre Schülerin Marfa Sabinina in ihren Erinnerungen festhielt, »in jener Zeit unbestritten die erste Klavierspielerin Europas«.78 Clara war eine Respektsperson. Sie sei »nicht ohne Zittern und Beben« zu ihr gegangen, berichtete Marfa, die später eine Anstellung am Zarenhof fand. »Sie beschloß, mir zwei Stunden wöchentlich zu geben. Ihr Name als Klavierspielerin und Lehrerin war sehr bekannt, pro Stunde nahm sie aber 2 Taler (etwas mehr als 2 Rubel). Für die erste Stunde gab sie mir folgendes auf: Prelude und Fuge Nr. 2 von Bach, Etüden Nr. 1, 3 und 5 von Cramer, drei Seiten aus der Sonate von Beethoven op. […] und das zweite Notturno von Chopin (op. 3). In solchem Umfang stellte sie mir Aufgaben von einer Stunde zur anderen.«79 Clara vermittelte ihre Ansprüche an gehaltvolle Musik bis hinein in die Wortwahl bei Beschreibungen. Als Marfa einmal ein Klavierstück von Robert lediglich als »hübsch« bezeichnete, wurde sie gleich eines Besseren belehrt: »Mein Fräulein, Sie sagen ›hübsch‹. Wie kann man so ein Wort gebrauchen für so eine Komposition? Sagen Sie ›schön, wunderschön‹. Ich bitte mir in dieser Hinsicht eine andere Denkweise aus.« Dabei echauffierte sich Clara so sehr, dass sie »beim Sprechen lispelte«, was »sich bei der leisesten Aufregung verstärkte«.80 Johannes pries Musik, die ihm zusagte – wie etwa die von Antonín Dvořák – begeistert mit Ausrufen wie »Ah, das ist so musikalisch«.81

      Im Hause Schumann hielt die auch praktisch veranlagte Clara nicht nur symbolisch die Fäden in der Hand. »Sie war sehr tätig und beschäftigte sich tagsüber mit ihrem Mann, ihren Kindern, ihrer Musik oder Korrespondenz und schließlich mit dem Haushalt«, überlieferte Marfa Sabinina. »Alles, was nur möglich war, tat sie zu Hause eigenhändig – bis hin zum Notenpapier, das sie für ihren Mann selbst linierte; sie nähte auch und kleidete die Puppen ihrer Kinder usw.« Doch die Anspannungen wirkten sich auch auf ihre Karriere aus. »Solche rege Tätigkeit erschöpfte sie, was sich öfters an ihrem blassen Gesicht, müdem Aussehen, ihrer Magerkeit und ihrem nervösen Spiel bemerkbar machte«, meinte Marfa. »Auf alle Ermahnungen, sich zu schonen, erwiderte sie immer: ›Kann ich denn anders leben?‹ Sie litt sehr unter den düsteren Seelenstimmungen ihres Mannes, doch liebte sie ihn trotzdem unbegrenzt, und sie lebten sehr glücklich zusammen.«

      Während ihre Schülerinnen auf dem Weg zu einer Pianistenlaufbahn gut sechs Stunden am Tag übten, musste Clara oft mit weniger auskommen. »Eines Tages, vor einem Konzert, das um 6 Uhr anfangen sollte, wollte sie um 5, noch im Hauskleid, den Kindern Milch und Semmeln geben«, berichtete Marfa über ihre Zähigkeit. »Sie nimmt das Messer, fängt an zu schneiden und schneidet sich die Kuppe des linken Zeigefingers ab. In aller Eile den Finger verbunden und mit englischem Pflaster beklebt, hat sie sich umgezogen und ist noch rechtzeitig zum Konzert gekommen.«82

      Das Vermitteln großartiger Musik war Claras Lebensinhalt. Als sie gegen Ende September 1853 ahnte, dass sie wieder schwanger sein könnte, zerbarsten alle Aussichten auf eine ersehnte Englandtournee. »Meine letzten guten Jahre gehen hin, meine Kräfte auch – gewiß Grund genug, mich zu betrüben«, seufzte sie ins Tagebuch.83

      »Sie war mit Gefühl, ja Feingefühl begabt: Es ist das Schicksal fast aller in Kunst oder Literatur hervorragenden Frauen«, meinte Marfa Sabinina. »Es gibt keinen Extrabegriff für dieses Gefühl; es ist angeboren und entfaltet sich nur bei allgemeiner Entwicklung der Persönlichkeit. Es jemandem mittels Erziehung beizubringen, ist unmöglich. Es wird denen gegeben, deren Herz und Geist bereits entwickelt sind. Clara Schumann nannte es: das richtige Leben in eigenen Empfindungen zu leben.«84 In Johannes sollte Clara einen Seelenverwandten finden.

       Geistige Anregungen

      Die verzweigten Wege, die Johannes Brahms letztendlich zu den Schumanns führten, waren genauso wichtig wie das Zusammentreffen selbst. Mit jeder neuen Person, die er auf seinem Weg kennenlernte, mit jedem neu geknüpften Kontakt, lernte er das Umfeld kennen, das auch Clara Schumann vertraut war und am Herzen lag. Die Stationen seiner Reise boten dem jungen Musiker die Gelegenheit, intensiv in jene Welt einzutauchen, in der sich die längst anerkannten Künstler bewegten: Hier atmete er die Luft der musikalischen Sphären auf höchstem Niveau, aber auch den Dunst von Egozentrik und Misstrauen, erlebte den erlesenen Geschmack und die Kultiviertheit blaublütiger Kreise, die argwöhnisch das Treiben der unteren Schichten beobachteten, und genoss den Wohlstand gut betuchter Bürger, deren ›rotes Blut‹ durch gehaltvolle Kunst in freudige Wallung geriet.

      Entscheidender Vermittler wurde Joseph Joachim. Seine Einladung, ihm in Göttingen einen Besuch abzustatten, kam Brahms sehr gelegen. Der Geiger besaß einen weiten Horizont. Er nutzte Göttingen nicht nur zum Entspannen, sondern auch um sich umfassend zu bilden. In dem zwei Jahre älteren Joachim fand Brahms einen Freund, der nicht allein nur Partituren las, sondern Bücher aus unterschiedlichsten Wissensgebieten verschlang und Vorlesungen über Geschichte und Philosophie lauschte. Zwar konnte sich Brahms wenig für Hörsäle begeistern, aber er entwickelte sich zu einem vielseitig interessierten Leser.

      In Göttingen, das seinerzeit zum Königreich Hannover gehörte, verliefen die Revolutionsjahre 1848/49 bis auf kleinere Gerangel zwischen Korpsstudenten und der Polizei verhältnismäßig glimpflich. Als Brahms die Stadt erstmals kennenlernte, fieberte die Bevölkerung der Eröffnung der Eisenbahnstrecke von Alfeld nach Göttingen im kommenden Jahr entgegen. Neben dem allmählichen Aufschwung des Bildungswesens – zu dem die Einführung einer Schulpflicht wie auch das Errichten von Monumenten zur historischen Bewusstseinsbildung gehörten – lebten Johannes Brahms und Clara Schumann noch in einem Mitteleuropa, in dem es bis zur Reichsgründung weiterhin mitunter effektheischende öffentliche Hinrichtungen von Mördern gab. Sie wurden danach diskreter und unmittelbar in den Gefängnissen durchgeführt. Das 19. Jahrhundert war nicht zimperlich: Als Clara neun Jahre alt war, vollzog man zum letzten Mal die Exekution durch das Zerstoßen der Glieder mit eisernen Keulen im Raum Hannover, und die letzte publikumswirksame Hinrichtung mit dem Schwert unter der Gerichtslinde auf dem Göttinger Leineberg fand am 20. Januar 1859 statt.

      Obwohl Göttingen Anfang der 1850er-Jahre nur wenig mehr als 10 000 Einwohner hatte, genoss der Ort als Universitätsstadt höchstes Ansehen: Die Brüder Grimm hatten hier gewirkt sowie Gelehrte wie der Physiker Wilhelm Weber und der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann. Literarisch hatte Puschkin den Ort verewigt, indem er in der Verserzählung Eugen Onegin dem Dichter Wladimir Lenskij eine »Göttinger Seele« bescheinigte.85 Brahms begann in Göttingen, sich umfassender Lektüre zu widmen. Darüber tauschte er sich dann in Briefen und Gesprächen aus – dies sollte eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten von Johannes und Clara werden.

      Joachim konnte sich nach den Wochen mit Brahms sicher sein, dass der sich für den Freundeszirkel mit den Schumanns eignete. Doch noch blieb Johannes Brahms gegenüber den Schumanns skeptisch. War nicht zu befürchten, dass Düsseldorf letztlich genauso enttäuschende Erlebnisse bescheren würde wie Weimar? Er machte sich nicht direkt auf den Weg, sondern plante, dabei auch eine der sagenumwobenen Regionen der deutschsprachigen Lande kennenzulernen.

       Eine politische Rheinwanderung

      Um sich über das, was Joseph Joachim ihm alles erzählt haben mag, noch weiter in die Welt und das Denken der Schumanns zu vertiefen, begab sich Brahms auf eine Wanderung, die ihn von Ende August bis Ende September 1853 von Mainz aus rheinabwärts bis Düsseldorf führte. Noch wusste er nicht, dass Clara dem längsten deutschen Strom ein Denkmal gesetzt hatte, indem sie für eine ihrer vier Heine-Vertonungen im Juni 1843 das Gedicht »Die Lorelei« gewählt hatte. Mit diesem Geschenk, das sie mit der Widmung »An meinen lieben Mann / zum 8. Juni 1843« versah, setzte sie der zwei Jahre zuvor entstandenen Liszt-Vertonung ihre Interpretation entgegen.

      Bekannter war seinerzeit Robert Schumanns Umsetzung des sogenannten »Rheinlieds« des Bonners Nikolaus Becker, das er als »patriotisches Lied« schon wenige Monate nach Erscheinen des Textes als Beitrag für einen Wettbewerb einreichte. Ferner konnte Brahms nicht entgangen sein, dass im März 1851 mit Erfolg Robert Schumanns Rheinische Sinfonie in Düsseldorf


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