"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!". Meinhard Saremba
ein Stück rheinisches Leben«. Ein Tagebucheintrag von Clara zeigt, dass sie die Es-Dur-Sinfonie »auch für den Laien« als »sehr leicht zugänglich« erachtete, wobei ihr nur der vorletzte, der vierte Satz, der die Eindrücke eines Besuchs des Kölner Doms schildert, »am wenigsten klar« vorkam, da er zwar »äußerst kunstvoll« geraten war, man ihm indes »nicht so recht folgen« konnte.86 Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Joachim seinerzeit Brahms mit dieser aktuellen Sinfonie vertraut machte: Sie war 1851 vom Berliner Verleger Simrock veröffentlicht worden und überraschte mit bewusst verwendeten deutschen Tempobezeichnungen: »Lebhaft« (I), »Scherzo: Sehr mäßig« (II), »Nicht schnell« (III), »Feierlich« (IV) und »Lebhaft« (V) standen dort für die einzelnen Sätze statt der traditionell noch auf dem Programmzettel der ersten Aufführung verwendeten italienischen Angaben. Der ›Held‹ der Sinfonie war immerhin der bedeutendste deutsche Fluss. Tausende von Mitarbeitern waren gerade dabei, ihn um letztendlich fast 90 Kilometer zu verkürzen. Man nahm eine Begradigung vor, um eine gewisse Hochwassersicherheit zu erreichen sowie ihn schneller und auf eine längere Distanz schiffbar zu machen. Als das Orchesterwerk entstand, befand man sich gerade mitten in den Baumaßnahmen, die von 1817 bis 1876 dauerten. Parallel zu diesen Ereignissen gestaltete Robert Schumann eine Musik, die die Bürger bei ihren damaligen Projekten inspirieren konnte. Clara bewunderte, dass Robert schon immer viel Sinn für Symbolik besaß: So unterstützte er schon 1836 als Gründer und Herausgeber seiner in Leipzig erscheinenden Neuen Zeitschrift für Musik den Spendenaufruf für das Beethoven-Denkmal auf dem Bonner Münsterplatz; nicht zuletzt knüpfte die Rheinische Sinfonie mit fünf Sätzen auch an die Pastoral-Sinfonie des Rheinländers Beethoven an. Dieser Fluss war wesentlich für eine gemeinsame deutsche Identität: Schon seit dem 17. Jahrhundert gab es neuzeitliche Rhenus-Darstellungen und Skulpturen des ›Vater Rhein‹, der nicht zuletzt eine der wichtigsten Lebens- und Wirtschaftsadern im Lande wurde. Jede künstlerische Auseinandersetzung mit ihm stellte ein wichtiges Symbol für die Utopie eines vereinten Deutschlands dar, auf das zur Entstehungszeit der Sinfonie viele Menschen in den König- und Herzogtümern hofften. Johannes und Clara sollten 1871 die Staatsgründung noch erleben; Robert Schumann starb zuvor in der Fremde. Von wenigen kurzen Ausnahmen abgesehen, hatten die Schumanns ausschließlich in Sachsen gelebt, bevor sie ins Rheinland zogen. Dieses war nach dem Wiener Kongress in den größten Teilen des vormals französisch annektierten linken Rheinufers preußisch geworden. Viele Künstler hatten den Rheinmythos und damit oft indirekt die deutsche Einheit beschworen: Allen voran Clemens Brentano mit seinen von 1810 bis 1812 entstandenen vier Erzählungen Die Mährchen vom Rhein, die erst posthum 1846 veröffentlicht wurden, und Heinrich Heine mit seinem Versepos Deutschland – Ein Wintermärchen, das zwei Jahre zuvor herausgekommen war. »Franzosen und Russen gehört das Land, / Das Meer gehört den Britten, / Wir aber besitzen im Luftreich’ des Traums / Die Herrschaft unbestritten«, dichtete Heine und legte nahe, was die Menschen deutscher Zunge bisher nur in der Fantasie zuwege gebracht hatten: »Hier üben wir die Hegemonie, / Hier sind wir unzerstückelt; / Die andern Völker haben sich / Auf platter Erde entwickelt.«87
Heines Text wurde bald danach in Preußen verboten. Das Buch schildert nicht nur eine Wanderung von Paris nach Hamburg, es wurde auch in Brahms’ Geburtsort vom Verlag Hoffmann und Campe herausgegeben. Einem Mann wie Johannes Brahms, der von sich behauptete: »Ich lege all mein Geld in Büchern an, Bücher sind meine höchste Lust, ich habe von Kindesbeinen an soviel gelesen, wie ich nur konnte…«,88 wird so etwas selbst als Schuljunge nicht entgangen sein.
Mit seiner Tour präsentierte sich der junge Brahms bewusst anti-bürgerlich, denn für eine Wanderung entlang des imposanten, mythenumwobenen deutschen Flusses hatte kein Städter Zeit. Privat erwanderte niemand den Rhein damals zum Zeitvertreib – es sei denn, es war eine kulturpolitisch motivierte Erkundungstour! Die gut 240 Kilometer zwischen Mainz und Bonn größtenteils zu Fuß zurückzulegen, war seinerzeit nichts Besonderes, sofern man Arbeiter war. Brahms ließ es mit etlichen Abstechern und Besuchen ausgesprochen gemächlich angehen und benötigte etwa vier Wochen. Die Handwerksgesellen, die sich in Mitteleuropa zu Tausenden regelmäßig auf Wanderschaft begaben, legten täglich etwa 35 Kilometer zurück. In gewisser Weise näherte sich der passionierte Spaziergänger Brahms seinen Zielen mit den Gesellenstücken im Gepäck wie ein solcher Handwerker auf der Walz. Wie noch im 18. Jahrhundert war für den Verehrer von Mozart und Haydn die Musik ein Handwerk, bei dem es nur den Besten gelingen kann, unter mühevoller Arbeit hochwertige Kunstwerke herzustellen. Neben Beethoven gehörten diese beiden Komponisten auch zu den Idolen des fiktiven Kapellmeisters Johannes Kreisler, den E. T. A. Hoffmann Anfang des 19. Jahrhunderts in Werken auftreten ließ wie den zwölf »Kreisleriana« in Fantasiestücke in Callot’s Manier und einem Roman mit dem monumentalen Titel Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Den hingebungsvollen Leser Brahms mag an der Figur der gleiche Vorname angesprochen haben und dass ihr der Meister einen »Lehrbrief in den Sack« schob, den er »sämmtlichen musikalischen Gilden und Innungen als Passeport vorzeigen« konnte. Johannes Brahms und Hoffmanns fiktiver Johannes Kreisler wussten, wie es sich anfühlte, wenn man »diejenige Meisterschaft erlangt hat, welche nöthig ist, um ein schickliches gehöriges Lernen zu beginnen«: Man hatte das »Hörorgan so geschärft«, dass »bisweilen die Stimme des in Deinem Innern versteckten Poeten (um mit Schubert zu reden)« hervortrat. Diese Bemerkung bezog sich auf die 1814 in Hoffmanns Bamberger Verlag erstmals verlegte Schrift Die Symbolik des Traumes des Arztes und Pädagogen Gotthilf Heinrich von Schubert. Sie kam 1862 zwei Jahre nach dem Tod des Verfassers noch einmal heraus und gehörte zu den einflussreichsten Büchern des 19. Jahrhunderts. Noch Freud und Jung diente sie als Vorbild, insbesondere weil sie den Traum als eine Hieroglyphensprache darlegte, die es zu entschlüsseln galt. »Der Ton wohnt überall«, wird Kreisler bei Hoffmann eingeschärft, »die Töne, das heißt die Melodien, welche die höhere Sprache des Geisterreichs reden, ruhen nur in der Brust des Menschen. – Aber geht denn nicht, so wie der Geist des Tons, auch der Geist der Musik durch die ganze Natur? Der mechanisch affizirte tönende Körper spricht ins Leben geweckt sein Daseyn aus, oder vielmehr sein innerer Organismus tritt im Bewußtseyn hervor.«89 Das Geisterhafte faszinierte Robert Schumann, der nur wenige Monate darauf seinen Klavierzyklus Geistervariationen zu Papier bringen sollte. Brahms hielt sich vornehmlich an die Wahrnehmung seines Innersten und an die Natur. Erst 1861 verarbeitete er das Hauptthema Schumanns in seinen Variationen Opus 23 für Klavier zu vier Händen. In den 1850er-Jahren spukte er lieber selber irrlichternd durch seinen Bekannten- und Freundeskreis. Alle spielten noch mit, sofern es sich um literarische Scharaden handelte, beispielsweise wenn Brahms sich in Anspielung auf die etwa vierzig Jahre zuvor erschienenen Texte E. T. A. Hoffmanns in Notizen, Skizzen und Briefen nach dem skurrilen Kapellmeister Kreisler scherzhaft »der junge Kreisler«, »Johannes Kreisler junior« oder »Johannes Kreisler II.« nannte. Jeder wusste in jenen Jahren, wer gemeint war, wenn er einen Brief gelegentlich mit »Jean de Krösel le jeune« unterschrieb oder wenn Julius Otto Grimm Freunden mitteilte, »Br – Kr« sei gekommen oder »Kreisler und ich« hätten »viele herrliche Stunden mit ihr«, Clara Schumann, verbracht. Wollte Johannes mit den Anspielungen Clara imponieren und seine Belesenheit demonstrieren? Immerhin ahmte er damit eine Pose ihres Mannes Robert nach, der es sich als Gründer der Neuen Zeitschrift für Musik erlaubt hatte, widerstreitende Gedanken durch die Pseudonyme Florestan und Eusebius darzulegen. Nur wenige Monate später komponierte Johannes Variationen über ein musikalisches Thema von Schumann, von denen einige mit Namenskürzeln am Ende gekennzeichnet sind: So unterzeichnete er die Variationen 4, 7, 8, 14 und 16 mit »B« für Brahms sowie die Variationen 5, 6, 9, 12 und 13 mit »Kr« für Kreisler – die einen innig, die anderen kapriziös-kess. Johannes meinte gegenüber seinem Verleger, dass er »die Variationen für das Beste halte, was ich bis jetzt geschrieben«90 habe und ahnte gewiss, dass er Clara damit die Dialektik seines Wesens offenlegte. Sie wusste nur zu gut: Der Künstler als öffentliche Person und der Künstler als Mensch war nicht ein- und dieselbe Person. Das Verbergen der Identität hinter literarischen Namen oder Phantasiebezeichnungen war eine im 19. Jahrhundert keineswegs ungewöhnliche Praxis – Wagner publizierte als Karl Freigedank, Mary Anne Evans als George Eliot und Prosper Mérimée als Clara Gazul. Die Kreisler-Attitüde von Brahms war die verspielte Variante eines antibürgerlichen Aktionismus, der sich im 19. Jahrhundert mit der