"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!". Meinhard Saremba
nur allzu rasch in Revolutionsverbrechen und Diktatur mündete. Dennoch wurde sie von vielen Intellektuellen genauso naiv glorifiziert wie über hundert Jahre später die brutale Revolution in Russland. Büchner übernahm 1835 in seinem Drama Dantons Tod zu Recht ein Zitat, das ein Anwalt bereits 1793 formuliert hatte: »Die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eigenen Kinder.«91 Dennoch kultivierten etliche kluge Köpfe später lediglich die Positives verheißenden Schlagworte und unterschlugen den Terror. Ihre bis zur Parodie überstrapazierten Parolen gingen im Kern zurück auf die dreizehn Jahre zuvor viel subtiler formulierte Unabhängigkeitserklärung der USA: Jenem einem Kontinent gleichen Land, in dem Clara Schumanns Freundinnen Emilie und Elise List einige Jahre gelebt hatten. Ihre Tochter Elise würde später dorthin ziehen; sie selbst erhielt Einladungen für Tourneen; Brahms’ Opus 16 erklang dort früher als in Wien oder London und sein Opus 8 wurde in New York sowie das Opus 36 in Boston uraufgeführt.
Clara wuchs in einem Zeitalter der Restauration traditioneller Werte auf, Johannes kam hingegen kurz nach der viel folgenreicheren Julirevolution von 1830 zur Welt, »Les Trois Glorieuses« genannt. Sie führte am 27., 28. und 29. Juli 1830 zur Beseitigung der Bourbonenherrschaft in Frankreich und zu einer viel stärkeren Geltung des Bürgertums. Auch die deutschsprachigen Länder zeigten sich davon nicht unbeeindruckt: Ereignisse wie das Hambacher Fest im Sommer 1832 sowie die Unruhen 1847/48 bildeten unter etlichen Widerstandsaktionen nur die Gipfelpunkte der Opposition. Die Machtverhältnisse verschoben sich. Während das Bürgertum sich immer wichtiger und vornehmer gab, wies man dem Adel zunehmend eine Repräsentationsrolle zu. Allerdings blieben seine Lebensweise und seine Kultiviertheit stilprägend. »Keine Gesellschaft kann ohne eine Aristokratie bestehen«, erklärte 1836 ein französischer Parlamentsabgeordneter. »Wollen Sie wissen, wer die Aristokraten des Julikönigtums sind? Die Großindustriellen; sie sind das Fundament der neuen Dynastie.«92 Diese Entwicklungen strahlten auch auf andere Länder aus. Was Künstler zunehmend in Gewissenskonflikte brachte, war die Diskrepanz, nach Autonomie zu streben und zugleich vom Besitzbürgertum abhängig zu sein.
Anstatt für die Blaublütigen wurde die Kunst nun für den Geldadel zunehmend zum schmückenden Beiwerk, bei dem alles vom staatstragenden Auftrumpfen bis hin zur Hofnarrenfunktion und charmanten Enfant-terrible-Provokationen goutiert wurde. Hoffmanns Kreisler-Figur mutierte zum Modell des wie besessen Schaffenden: »Zuweilen komponirte er zur Nachtzeit in der aufgeregtesten Stimmung; – er weckte den Freund, der neben ihm wohnte, um ihm alles in der höchsten Begeisterung vorzuspielen, was er in unglaublicher Schnelle aufgeschrieben – er vergoß Thränen der Freude über das gelungene Werk – er pries sich selbst als den glücklichsten Menschen, aber den andern Tag – lag die herrliche Komposition im Feuer.«93 Das Kunstwerk sollte perfekt werden, nicht der Erfolg, den man damit errang. Die Schumanns und Johannes Brahms schätzten auch die Malerei und kannten einige Künstler persönlich. Dabei konnten sie beobachten, dass es in anderen Kunstbereichen ähnliche Konflikte gab: Viele Literaten, Maler und Musiker setzten Bürger mit Philistern gleich und erklärten ›Bourgeoisie‹ zum Schimpfwort. »Drei Dinge entehren den Schriftsteller«, soll Guy de Maupassant gesagt haben: »La Revue des deux mondes, die Légion d’honneur und die Académie française.«94 Selbst ein Mustermusikus wie Kreisler war abhängig von einem ihm wohlgesonnenen Publikum – ebenso wie eine Clara Schumann und ein Johannes Brahms. Clara katapultierte sich nach einem ausgeklügelten Reiseplan mit den schnellstmöglichen Verkehrsverbindungen nicht nur durch deutschsprachige Lande und gab allein 1853 – in dem Jahr, als sie Johannes kennenlernte – Konzerte in Barmen, Köln, Bonn, Düsseldorf, Utrecht, Den Haag, Rotterdam und Amsterdam. All dies tat sie in dem ständigen Bewusstsein, nicht verstanden zu werden. »Ich spielte nicht frisch«, urteilte sie einmal nach Auftritten, »die Leute fanden es aber herrlich; wie wenig verstehen die Menschen einen feineren Unterschied.«95 Das Präsentieren großartiger Musik machte Clara »doch Freude«, wenn sie auch – nach eigenem Bekunden – »sonst ziemlich gleichgültig gegen Publikum« war.96
Das aufstrebende Bürgertum war indes besser als sein Ruf, selbst wenn das Bild bis zur Karikatur verzerrt wurde von seinen stets wechselnde Posen einnehmenden Verächtern, von den cholerisch Bourgeoisophoben wie Émile Zola bis hin zu seinen publizistisch einflussreichen Hassern wie Karl Marx. Die Länder Mitteleuropas hätten nie die medizinischen, juristischen, technischen und gesellschaftlichen Fortschritte gemacht, die das 19. Jahrhundert auszeichnen, ohne die Empathie, die Wissbegierde, den Einfallsreichtum und die Strebsamkeit des Bürgertums, die alle inspiriert wurden durch das Verständnis für kulturelle Werte. Das Publikum für die Kunst von Clara und Johannes rekrutierte sich vor allem aus der großen Gesellschaftsschicht des Bürgertums und der kleineren des Adels. Mit der Zeit wurde beiden klar, dass ihre moderate Haltung im kulturaffinen Bürgertum verbreitet war. So umschrieb der Historiker Jacob Burckhardt in einem Brief an die Salonnière und Komponistin Johanna Kinkel treffend die Einstellung vieler Gipfelstürmer: »… alles will Neu sein, aber auch nichts weiter.«97 Für eine nachhaltige Vermittlung von Kunst muss man nicht die Brechstange ansetzen, sondern situationsgerecht mit feinerem Besteck zu Werke gehen. Die Aufmerksamkeit des Publikums ist allemal gegeben: Wenn Beobachter den Eindruck hatten, man lausche der Musik »wie die Gemeinde in einer Kirche«,98 so hing dies nicht mit dem kunstreligiösen Anspruch von Liszt und Wagner zusammen, sondern mit einem von der Philosophie inspirierten bürgerlichen Ethos. Senecas Leitlinie »Res severa est verum gaudium« (Eine mit Ernst betriebene Sache gewährt wahre Freude) war seit 1780 der Wahlspruch des Gewandhauses in Leipzig. Man konnte ihn am früheren Gebäude schon von außen unter dem Giebel lesen. In dem Gewandhaus, das Clara und Johannes erlebten, war er im Saal in den höchsten Fries der gerundeten Schmalseite über dem Orchester eingebracht.
Thomas Mann, zwanzig Jahre lang ein Zeitgenosse von Clara und Johannes, brachte die Situation des Künstlers in der Sphäre der aufstrebenden Bürgerschichten auf den Punkt. Das Dilemma des Verhältnisses von Künstler und Bürgertum bündelte er in seinem Roman Tonio Kröger in die Klage: »Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim.«99 Diese Diskrepanz dürften beide gespürt haben. Sie erlebten, wie die einen das Bürgertum bloßstellen wollten und der Kreis um Robert Schumann es vor allem im Lied und in der Kammermusik mit seiner psychischen Befindlichkeit konfrontierte. Die Poesie, die man dafür auswählte, dürfte nicht nur Clara tief berührt haben. Für Thomas Mann gehörten Lieder wie Brahms’ »Die Mainacht« sowie Schumanns »Mondnacht« und »Zwielicht« als »Seelenwunder und Kleinod« sowie »Perle der Perlen« zum Schönsten überhaupt.100
Die vierwöchige Tour entlang des Rheins bot Johannes viel Zeit zum Nachdenken. Dabei kam er auch durch Orte, in denen Clara bereits Konzerte gegeben hatte. In 10- bis 20-Kilometer-Etappen durchstreifte er von Mainz aus Naturschönheiten und Stätten der Historie. Der kommende Arrangeur von Volksliedern und Kenner der Dichtkunst erlebte bei seinen Wanderungen die deutschsprachigen Landstriche wie kaum ein anderer Komponist seiner Zeit. Tagesetappen führten ihn über Biebrich, Schierstein, Eltville, Erbach, Oestrich, Mittelheim, Winkel und Johannisberg nach Geisenheim, wo er übernachtete. Dieser kleine Ort wurde 772 erstmals urkundlich erwähnt und steht mit Karl dem Großen und Hartmann von Aues mittelalterlicher Dichtung Der arme Heinrich in Verbindung, die im 19. Jahrhundert neue Aufmerksamkeit fand. Jahre später zog Johannes Brahms das erst 1883 eingeweihte Niederwalddenkmal erneut in die Region. Vorerst setzte er in Rüdesheim mit der Fähre über nach Bingen, mit dem der Name der Äbtissin Hildegard von Bingen verknüpft ist, und bewunderte die Burg Rheinstein, bevor er sich in Trechtingshausen ein Quartier suchte. Historisches, Mythologie, Literarisches, Flusstäler mit Burgen, Auen, Felder, Wälder, Ruinen, Schlösser, Vergangenes und Gegenwärtiges fand Johannes allenthalben auf seiner Wegstrecke. Die Themen seiner zahlreichen Chorstücke, 20 Duette, 60 Quartette und 195 Sololieder, die in 32 Liedersammlungen erschienen, bieten ein Abbild der Erfahrungen und Gedanken seiner zahllosen Wanderungen durch einige der schönsten Regionen Europas. Dass er in Karl Simrocks Gedicht »Auf dem See«, dem zweiten Lied seines Opus 59, die Zeilen »Also spiegle du in Liedern / Was die Erde Schönstes hat« vertonte, erscheint geradezu programmatisch. Hermann Allmers’ »Feldeinsamkeit« (op. 86, Nr. 2) mit der »wundersam umwobenen« Himmelsbläue wird zu einer Reflexion über die Ewigkeit und Clemens Brentanos »O kühler Wald« (op. 72, Nr. 3) zum Nachsinnen über seelische Schmerzen.
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