Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub

Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub


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sich handelte.

      An diesem Abend hat Hauptkommissar Schmid von der Mordkommission Dienst. Er ist ein Mann um die sechzig. Mit dürrem und schlaksigem Körper. Seine schütteren Strähnen sind sorgfältig nach rechts gekämmt und mit einer Spur zu viel Gel an die Kopfhaut geklebt. Schmid ist Pessimist. Wer ihn kennt, weiß es aus Erfahrung. Man braucht ihn allerdings nicht erst zu kennen, um es zu wissen. Seine ganze Körperhaltung drückt tiefen Pessimismus aus. Wer in seine Augen blickt, sieht nur Skepsis, Misstrauen und einen bestimmten Ausdruck von beleidigter Trauer.

      Hauptkommissar Schmid ahnte schon während des ganzen heißen Tags, den er in seinem geliebten Schrebergarten im aussichtslosen Kampf gegen eine bestimmte Sorte Ungeziefer verbrachte, die seinen selber gezüchteten Mini-Romano-Salat attackierten, dass heute noch etwas Unangenehmes passieren würde.

      Kurz vor Mitternacht sagte sein engster Mitarbeiter namens Natter, der ein wortkarger, schwergewichtiger Mann mit einer uralten BMW-Maschine war, die er an seinen freien Tagen liebevoll, geradezu zärtlich pflegte, heute werde wahrscheinlich nichts mehr passieren. Er spüre das im Urin. Schmid räusperte sich nur kurz und sagte nichts, legte aber seinen Kopf in diese alles und jedes bezweifelnde Schieflage.

      Schmid hasst diese unnatürliche Hitze. In seiner Gartenanlage darf man schon seit Tagen nicht mehr wässern. Als Mitglied der Polizei und als Vorstandsmitglied im Pflanz- und Gartenverein hat er naturgemäß eine gewisse Vorbildfunktion, also darf er nicht gegen das Bewässerungsverbot verstoßen. Bei seinen kleinsten Setzlingen hat er sich allerdings erlaubt, ein Glas Wasser auszugießen. Er tat so, als ob er selber trinken wollte, worauf er aus gespielter Unachtsamkeit stolperte und das Glas Wasser vergoss. Nur für den Fall, dass ihn jemand beobachtet hätte. Und beobachtet wurde man im Kleingartenverein eigentlich immer. Alle wussten von allen, wer wann wie viel Dünger verwendete oder wie groß die Tomaten wurden. Oder wer seinen ihm anvertrauten Garten vernachlässigte. Nach der unrechtmäßigen Wasseraktion fühlte sich Schmid wie ein Verbrecher. Er konnte also nur noch zuschauen, wie sein Gemüse und seine Salatzüchtungen, die noch nicht vom Ungeziefer befallen waren, langsam verdorrten. Andererseits bestätigte ihm diese klimatische Unbill, dass er mit seiner Neuzüchtung sowieso kein Glück haben würde. Zudem hatte er sich vom ewigen Durchzug im Büro einen Schnupfen eingefangen. Und das mitten im Sommer. Und nur weil die Kollegen ständig die Türen offen ließen.

      Eine Minute vor Mitternacht gab er seinen Mitarbeitern das Zeichen für den Aufbruch in die Polizeikantine. Es war Zeit für das »Mittagessen« der Nachtschicht. Und genau in dem Moment, wo sich alle von ihren Stühlen erhoben, auf denen man von der Tageshitze noch in der Nacht festklebte, klingelte das Telefon.

      Die nackte Frauenleiche liegt mitten im Brunnenbecken. Da die Maschinen und Objekte nachts abgestellt werden, ist das Wasser still und schwarz. Am Rande des Beckens hat ein Polizist zwar bereits Scheinwerfer auf Stativen bereitgestellt, aber noch ist der Strom nicht eingeschaltet. Man kann ohne Licht nicht genau sehen, ob der hellhäutige Körper im Wasser schwimmt oder auf dem flachen Bassinboden aufliegt.

      Hauptkommissar Schmid sitzt zusammengesunken auf einer der Bänke, die in der Nähe des Brunnens aufgestellt sind. Er ist sichtlich verärgert. Um nicht zu sagen: stinksauer. Aber nicht wegen der Leiche. Er findet es eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. Seine neueste Salatkreation verdorrt und hier in der Stadt läuft den lieben langen Tag das Wasser in unzählige Brunnen. Allein mit dem Wasser, das jetzt das große stille Becken füllt, könnte er seinen Garten drei Wochen lang bewässern.

      Dass Natter kommt und ihm schwer atmend berichtet, dass sich auf dem Platz, wo sich viele Schaulustige hinter der Absperrung tummeln, kein Einziger findet, der als Zeuge etwas aussagen kann oder will, verbessert seine Laune auch nicht.

      Tanner sitzt etwas abseits hinter der Absperrung auf einer Treppenstufe. Der weiße Stein ist noch warm von der Hitze der Sonneneinstrahlung.

      Michiko, es ist etwas mit Michiko passiert, dachte er sofort, als er von weitem die vielen Fahrzeuge der Polizei, das Feuerwehrauto und den Krankenwagen erblickte. Er brauchte nicht zu warten, bis die Polizei die Leiche im Wasser umdrehte. Ein Blick von weitem auf den makellosen, hell schimmernden Körper bestätigte seinen schlimmen Verdacht.

      Dass Tanner zu spät gekommen ist, tut eigentlich nichts zur Sache, denn es ist ganz offensichtlich, dass Michiko nicht hier in der Öffentlichkeit umgebracht worden ist. Dass sie tot und nackt hierher gebracht und ins Wasserbecken des berühmtesten Brunnens der Stadt gelegt wurde, stellt eine unglaublich freche Provokation dar. Normalerweise werden Leichen im Wald verscharrt. Oder zerstückelt und in separaten Paketen an verschiedenen Orten versteckt. Oder die Leiche wird in ein tiefes Wasser versenkt. Auf jeden Fall geht es immer um die – meist trügerische – Hoffnung des Verbrechers, dass die Leiche möglichst lange unentdeckt bleibt, und damit auch er selber. Ohne Leiche kein Verbrechen.

      In Michikos Fall haben der oder die Mörder es auf eine sofortige Entdeckung geradezu angelegt. Es handelt sich um Kalkül. Aber mit welcher Absicht?

      In diesem Moment lassen die Scheinwerfer der Polizei den Brunnen in hellem Licht erstrahlen. Ein Polizist macht von allen vier Seiten Fotos des Leichnams. Dann treten drei Polizisten mit Gummistiefeln über den niedrigen Beckenrand, nähern sich langsam dem reglosen Körper, als ob sie ihn nicht erschrecken wollten, und greifen vorsichtig ins Wasser. Sie tragen ihn auf eine neben dem Becken bereitgestellte Bahre. Bevor sie ihn auf die Bahre niederlassen, sind die drei Polizeibeamten unschlüssig, ob sie den Körper sofort umdrehen oder ob sie ihn zuerst auf den Bauch legen sollen. Die drei verständigen sich stumm durch Blicke und Bewegungen ihrer Köpfe. Sie beschließen, die Leiche sozusagen in der Luft zu drehen. Dazu müssen die drei Polizisten ihre Griffe an dem nassen, wahrscheinlich glitschigen Körper ändern und es entsteht für einen Augenblick eine eigenartige Skulptur von drei sich bückenden Gestalten um den in der Luft schwebenden makellosen Körper von Michiko, mit sechs sich teilweise kreuzenden und ineinander verschlungenen Händen und Armen. Im Moment, wo Michikos Körper auf die Bahre gelegt wird, kommt der Polizeiarzt angerannt und die drei Beamten treten von der Toten zurück. Sie sind sichtlich erleichtert, dass sie ihre schwierige Aufgabe ohne größere Schwierigkeit gemeistert haben. Verstohlen wischen sie die Hände an ihren Hosen trocken.

      Tanner ist ratlos. Wenn ihn Michikos Tod etwas angeht, muss er jetzt aufstehen und der Polizei mitteilen, was er weiß. Aber was weiß er denn schon?

      Komm, hör auf. Keine billigen Ausflüchte. Du weißt vielleicht nicht viel, aber vermutlich mehr als die Polizei, murmelt Tanner leise zu sich selbst.

      Dass der Tod Michikos in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit dem Tod des japanischen Kunden im Schlaraffenländli steht, liegt eigentlich auf der Hand. Weil beide Japaner waren? Natürlich nicht. Aber ihr Anruf kann doch nur etwas mit diesem Ereignis zu tun haben. Was sonst hätte sie ihm mitzuteilen gehabt. Der Tod des Japaners und seine zufällige Anwesenheit waren ihre einzige Verbindung. Obwohl er sich darauf noch keinen Reim machen konnte. Es handelte sich ja wahrscheinlich um einen Unfall. Das einzig Seltsame an diesem Unfall ist, dass davon bisher nichts in der Zeitung stand.

      Bei ihrem Anruf sprach Michiko unglaublich hastig und ihre Stimme klang, als ob sie unter Druck stehe. Hatte sie Angst? Wusste sie damals schon, dass sie in Gefahr war? Was hatte sie ihm mitteilen wollen? Tanner beginnt sich Vorwürfe zu machen, dass er nicht sofort in die Stadt gefahren ist und versucht hat, Michiko zu finden. Vielleicht hätte er ihren Tod verhindern können.

      Es ist ihm natürlich klar, dass er mit der Polizei sprechen muss. Schon allein wegen seiner Telefonnummer, die in Michikos Mobiltelefon gespeichert ist. Falls es von der Polizei gefunden würde, stände er ganz schön blöd da. Er hat aber absolut keine Lust, jetzt aufzustehen, durch die Absperrung zu gehen, sich anschnauzen zu lassen, dass er da nichts zu suchen habe … und so weiter. Er wird einfach später aufs Präsidium gehen, es liegt sowieso ungefähr in Richtung seines Hotels.

      Vorerst wird er aber noch auf seinem warmen Stein sitzen bleiben und dem Treiben der Polizei zusehen. Vielleicht kann er später noch selbst die Beckenränder und die Umgebung des Brunnens auf Spuren untersuchen. Schließlich ist der Transport einer toten nackten Frau in ein Brunnenbecken ein aufwändigeres Manöver, als eine Glücksmünze in einen Brunnen zu werfen.

      Der Polizeiarzt


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