Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub

Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub


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entflammbar bist. Bist du?

      Richard, hast du dein Auto dabei? Lass uns wie früher eine nächtliche Spritzfahrt machen. Du fährst. Ich sitze neben dir und erzähle dir einige Dinge.

      Bruckner nickt und springt auf.

      Gute Idee! Ich gehe in die Küche und bezahle beim Alten.

      Kurz darauf sitzen sie in Bruckners angenehm kühlem und komfortablem Jaguar und fahren in Richtung Süden, aus der Stadt hinaus, durch das merkwürdig fremde Tal, das schon früher ihre Lieblingsstrecke gewesen ist. Es ist noch nicht ganz dunkel und die Hitze ist immer noch unerträglich.

      Vielleicht wird es weiter oben kühler, da, wo sich das Tal verengt, manchmal fast schluchtartig. Erinnerst du dich?

      Tanner nickt.

      Bis sie die Zementfabrik passiert haben, mit dieser ewig langen, leicht schräg gestellten Röhre, in der Kalk und Ton gebrannt werden und die sich langsam dreht, schweigen sie beide. Man hört nur das leise Schnurren des Jaguars. Ein Motorengeräusch kann man das kaum nennen. Zufriedene Wohllaute einer ausgefeilten Technik. Für ein paar ausgewählte Reiche, zu denen sein Freund ohne Zweifel gehört.

      Tanners Augen streifen bewundernd über diese Mischung von Leder, Wurzelholz und digitalen Raffiniertheiten. Bruckner fährt mit großer Gelassenheit und Sicherheit. Liebevoll steuert er den schweren Wagen durch die jetzt schnell hereinbrechende Nacht. Er passt perfekt in das Interieur des Autos. Als wäre das alles für ihn maßgeschneidert worden. Tanner mustert seinen Freund von der Seite und staunt wieder über dessen jugendliche Züge. Und wie früher fragt sich Tanner, wie wohl die dunklen Seiten seines Freundes aussehen. Denn, dass es sie bei jedem Menschen gibt, darüber besteht kein Zweifel. Um den Reichtum hat Tanner ihn früher dann und wann beneidet, aber er hat ihm das viele Geld nie missgönnt, zumal Bruckner die gleiche Leidenschaft für Kunst, Politik und Gerechtigkeit an den Tag legte wie Tanner.

      Übrigens, Simon, ich kenne in groben Zügen die Geschichte deiner Taten in Marokko. Ich weiß auch, wie unfair du von der Regierung behandelt worden bist. Wie gesagt, ich kenne Gott und die Welt. Das bringt mein Job so mit sich. Und mit deinem Fahndungserfolg hier in unserem Land vor einiger Zeit waren die Zeitungen ja voll. Ich habe natürlich alles genau verfolgt, wie du dir denken kannst.

      Tanner nickt, behält aber seine Verwunderung für sich. Was heißt das: alles genau verfolgt? Spricht er von den oberflächlichen Berichten in der Zeitung, oder besitzt sein Freund andere Informationskanäle? Bruckner schweigt.

      Tanner hat keine Lust nachzufragen, streckt seufzend seine Beine ganz aus und überlässt sich der Magie der nächtlichen Fahrt. Bruckner betrachtet mit einem schnellen Seitenblick seinen Freund, macht die Musik an – Mozart, wie eh und je – und drückt aufs Gaspedal. Nach und nach stellt sich bei Tanner die Trance ein. Wie früher.

      Der schwere Wagen wiegt sich leise durch die Kurven. Der Körper wird schwerelos. Die Materie löst sich auf. Die kinetische Energie der Bewegung wird scheinbar null. Nicht das Auto fährt, sondern die Landschaft rast und fließt dem Auge entgegen. Das Licht sägt aus dem Dunkel einen Film mit rasch wechselnden Bildern. Das monotone Band der Straße mit seiner weißen, regelmäßig unterbrochenen Linie bildet die stetige Basslinie, den Takt des rasenden Bilderreigens. Der schwarze Asphaltfluss reiht tausend Bildfetzen aneinander. Von grellen Scheinwerfern der schwarzen Nacht entrissen. Kaum geschaut, selten ganz begriffen, blitzen Gegenstände flüchtig auf und werden sofort wieder unwiderruflich in ihre dunkle Existenz entlassen. Zurück in das Nichts. Bäume, Sträucher, Gehsteige, Fragmente von Häusern, Gärten, Brücken, Bäche, nicht zu identifizierende Gegenstände am Straßenrand. Auch die banalsten Gegenstände bekommen durch die rasende Abfolge ihrer kurzfristigen Erscheinung eine neue Bedeutung. Die schnellen Schnitte schaffen neue Zusammenhänge. Ein Verkehrsschild warnt vor Schleudergefahr, ein Fuchs starrt mit seinen diamantenen Augen ins gleißende Licht, das fahl erleuchtete Fenster einer allein stehenden Hütte, der verlorene Kinderschuh am Straßenrand, aus dem offenen Fenster eines am Waldrand parkierten Autos blendet die weiße Haut eines nackten Frauenarms.

      Der nackte Frauenarm …

      Als er Elsies nackten Arm über den Bettrand hängen sah – das Erste, was er erblickte, als er das letzte Mal in ihr Zimmer trat –, wusste er Bescheid. Sie würde nie mehr erwachen. Sie würde aus dem Koma direkt ins andere, ins ferne Land wechseln. Wie konnte er das an ihrem über den Bettrand hängenden Arm erkennen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er es sofort und mit erschreckender Klarheit erkannte. War es dieses schwer fassbare Leuchten, das in den letzten Stunden ihren ganzen Körper umgab? Dreizehn Monate, drei Tage und sieben Stunden dauerte bis zu diesem Zeitpunkt ihr Koma. Seit einem Jahr lebte er wie betäubt in seiner Wohnung am See, die er nach den Ereignissen im Eiskeller bezogen hatte. Er konnte nicht alleine im Haus von Elsie leben, die Kinder waren ja sofort zu Ruth und Karl gezogen. Nach Elsies wahrscheinlichem Tod würden sie die Kinder adoptieren. Er, Tanner, verließ das große Haus am See, dessen obersten Stock er bewohnte, nur dann, wenn er seine stumme Geliebte im Spital besuchte. Sie, Elsie, sie war jetzt plötzlich zum Dornröschen geworden. Und er konnte sie nicht aufwecken. Er war offenbar nicht der Prinz, der über diese Fähigkeit verfügte. So vergrub er sich in dem alten Haus, spielte Tag für Tag stundenlang sinnloses Zeug auf dem alten Flügel, den der Hausbesitzer im unbewohnten Parterre des Hauses hatte stehen lassen.

      Elsies Kinder haben sich damals sofort instinktiv an Ruth und Karl geklammert. Und genauso instinktiv haben sie sich von Tanner zurückgezogen, als ob er für ihre armen kleinen Seelen zu stark mit Elsie verknüpft war, oder schlimmer noch: Vielleicht gaben sie ihm unbewusst die Schuld am Zustand ihrer Mutter? Würden sie ihm später auch einmal die Schuld an ihrem Tod geben?

      Ich muss dringend wieder einmal Ruth anrufen, denkt Tanner. Dann zuckt er zusammen.

      Apropos Anruf … so ein Mist, sagt Tanner unvermittelt laut in die Stille. Wie spät ist es, Richard?

      Es ist kurz nach elf. Was hast du denn? Du kannst einen vielleicht erschrecken.

      Entschuldige, Richard. Es gibt eine ganz wichtige Sache, die ich beinahe vergessen hätte. Ich muss gegen Mitternacht in der Innenstadt sein. Ich kann dir das jetzt nicht näher erklären. Und schau mich nicht so schief an. Es geht um eine Informationsübergabe. Dreh bitte sofort um, es ist wichtig.

      Mehr will Tanner seinem Freund nicht preisgeben. Viel mehr weiß er selbst ja auch nicht. Und über die Umstände, wie er Michiko kennen gelernt hat, will er mit Richard nicht reden. Der ist taktvoll genug, nicht weiter zu fragen. Etwas anderes hat Tanner von ihm auch nicht erwartet.

      Warum er das Treffen mit Michiko beinahe vergessen hat, ist ihm schleierhaft. Die ganze Zeit hat es ihn beschäftigt, nur in den letzten paar Stunden war der Gedanke an diese Verabredung wie ausradiert gewesen. Er findet keine Erklärung für diesen Vorgang. Und das beunruhigt ihn.

      Nachdem Bruckner das Auto bei der nächsten Gelegenheit gewendet hat, redet sein Freund nur noch über Belangloses. Anekdoten von ehemaligen Schulkollegen und deren beruflicher Entwicklung, über die er ziemlich gut Bescheid weiß. Das schöne Schweigen ist anscheinend nicht mehr möglich und Tanner fühlt sich außerstand, seinem Freund von Elsies Zustand zu erzählen. Es wird sicher eine andere Gelegenheit geben. Bruckner lässt sich nichts anmerken und plaudert munter drauflos. Er lässt Tanner irgendwo in der Nähe der Innenstadt aussteigen. Obwohl Tanner schon zwanzig Minuten zu spät ist, will er die letzten Schritte zu Fuß gehen. Bruckner soll nicht denken, er habe beim Theaterbrunnen ein Rendezvous. Denn der Ort, wo Michiko ihn hinbestellt hat, ist wirklich einer der beliebten Treffpunkte für Liebespaare. Zumindest war es früher so. Sie verabschieden sich etwas steif und förmlich. Trotzdem haben beide das Gefühl, dass der unterbrochene Kontakt wieder geknüpft ist und dass man sich in Zukunft öfter sehen wird. Unter welchen Umständen das sein wird, kann sich noch keiner der beiden vorstellen.

      SECHS

      Zwanzig Minuten nach zwölf ist der Platz um den Brunnen bereits großräumig abgesperrt. Laut Protokoll meldete sich exakt um Mitternacht bei der Hauptwache der Polizei ein anonymer Anrufer, der stammelnd von einem Toten im Brunnen mit den komischen Maschinen berichtete. Danach habe er sofort das Gespräch beendet. Der Mann


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