Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub

Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub


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schwarz auf weiß, dass er 1941 in H. verstorben sei. Aber was heißt H.? Warum weiß das seine Familie bis heute nicht?

      Was war so schlimm, dass man nichts davon wissen wollte? Eine Fahrt in seinen Geburtsort und ein Blick in ein Dokument genügen, um an diese einfachen Fakten heranzukommen. Verschollen? Warum verschollen? Er war in H. wohnhaft gewesen und daselbst gestorben! Zehn Jahre, bevor Tanner zur Welt kam. Aber was hatte er in H. gemacht? Die Frage ist auch, wie er ausgerechnet dahin gekommen ist. Ist er wieder gesund geworden und hat dort ein neues Leben angefangen?

      Er geht noch mal ins Büro der hilfsbereiten Stellvertreterin und bedankt sich artig. Sie schenkt ihm wieder ein verschwörerisches Lächeln. Das Rot ihrer Lippen ist eindeutig kräftiger als vorher. Bei seinem Eintritt hat sie verschämt etwas in ihre Handtasche gesteckt. Tanner winkt ihr zu und geht eilends aus dem Büroprovisorium.

      Am anderen Ende der Dorfstraße leuchtet weiß der schlanke Kirchturm. Auf dem breit geschwungenen Kirchdach hockt rittlings ein großer Korb. Eine Brutaufforderung an Störche. Das Grundgerüst zum Nestbau ist allerdings leer. Wahrscheinlich haben die wenigen Störche heutzutage eine breite Auswahl an Wohnmöglichkeiten. Nein, diesmal gehen wir nicht dahin, werden sie sich gesagt und das nächste Dorf ausgewählt haben. Es ist, als ob der leere Nistplatz die verlorene Seele des Dorfes symbolisiert. Eigentlich ist alles da: die Hügellandschaft, das Licht, einige alte Häuser, die Kirche, der Dorfbach. Neugierig blickt Tanner in den Innenhof eines alten Bauernhofes, dessen Eingangstor an den Eingang einer Burg erinnert. Zwei dickliche Hofhunde preschen plötzlich bellend und keuchend um die Ecke. Tanner geht sofort in die Knie und streckt seine Hand aus. Etwas irritiert stoppen die beiden zähnefletschenden Ungetiere und gucken ihn mit schräg gestelltem Kopf an. Aus der Remisentüre dringt eine scharfe Stimme. Jetzt erscheint die Gestalt zur Stimme, die beruhigend und in sympathisch badischem Dialekt auf die Hunde einredet. Ein groß gewachsener, knochiger Bauer mit weißem, spärlichem Haar begrüßt Tanner. Der erhebt sich, stellt sich vor und fragt den Bauern, ob er die Familie seines Großvaters kenne.

      Er streicht sich über den Kopf und meint, dass von dieser Familie ja seit langem niemand mehr hier am Ort lebe. Tanner fragt, ob er wenigstens wisse, wo die Familie gelebt habe, aber er schüttelt den Kopf und beeilt sich wieder zu seiner Arbeit zu gehen. Kaum ist der Bauer in der Remise verschwunden, stehen die beiden Hunde sofort wieder auf und beginnen zu knurren. Tanner tritt den Rückzug an und setzt seinen Gang durchs Dorf fort.

      Irgendwie hat er sich seinen Besuch im Geburtsort seines Großvaters etwas anderes vorgestellt. Aber wie? Dass er ihm hier begegnen würde? Nein, aber vielleicht hat er gehofft, ein Dorf anzutreffen, das seit der Zeit unverändert vor sich hin schlummerte, wodurch er sich die damalige Zeit besser hätte vorstellen können.

      Hinter der Kirche liegt ein überraschend großer Friedhof. Wenigstens gibt es hier Schatten.

      Mal sehen, vielleicht erzählen die Toten mehr als die Lebenden.

      Langsam und aufmerksam die eingravierten Namen lesend, schreitet er den vorwiegend in glatt poliertem Dunkel gehaltenen Grabsteinen entlang, als ob er eine Parade abnehmen würde. Nach der Qualität der Steine zu urteilen, muss es sich im Durchschnitt um eine reiche, zumindest gut situierte Gemeinde handeln. Immer wieder fallen gleiche Familiennamen auf. Aber auf Anhieb kann er den Familiennamen seines Großvaters nicht entdecken. Kein Wunder, wenn die meisten schon vor hundert Jahren nach Amerika ausgewandert sind. In einer separaten Abteilung des Friedhofs entdeckt Tanner, gruppiert um ein bronzenes Denkmal, ein regelrechtes Massengrab. Die Opfer eines Grubenunglücks. An die siebzig Opfer bei einem einzigen Unglück. Offensichtlich handelte es sich um ein Kalibergwerk, das Anfang der Siebzigerjahre stillgelegt wurde. Ist mit der Schließung das Leben im Dorf erloschen?

      Im Moment, als Tanner sich auf eine Bank setzen will, klingelt sein Mobiltelefon. Zuerst hört er eine Weile nur ein Rauschen, dann von ganz weit weg eine fremde Stimme. Er muss einige Male ins Telefon rufen, bis er den Namen versteht.

      Hier ist Michiko … Michiko! Sie haben uns doch Ihre Telefonnummer gegeben. Ich arbeite im Schlaraffenländli. Sie waren bei mir, gestern. Wissen Sie, wer ich bin? Sie waren ja nur ganz kurz bei mir – Tanner unterbricht ihren Redeschwall, den sie leise und keuchend von sich gibt, als ob sie Angst habe, dass jemand sie belauscht. Er sagt ihr, dass er sie nicht so schnell vergessen hätte.

      Ja, Entschuldigung, seien Sie mir bitte nicht böse. Ich muss Sie dringend sehen. Ich muss Ihnen etwas ganz Wichtiges sagen! Etwas, das ich unter keinen Umständen am Telefon sagen kann, verstehen Sie? Es ist ganz wichtig. Können Sie heute Nacht kurz vor Mitternacht beim Brunnen am Theater sein, bitte? Wissen Sie, dieser Brunnen mit den lustigen Maschinen …? Der Rest geht im Rauschen einer plötzlichen Störung unter. Dann endet die Verbindung abrupt. Oder hat sie aufgelegt, um ihm die Möglichkeit zu nehmen, Nein zu sagen? Er beschließt, sie zurückzurufen. Ihre Nummer ist jetzt in seinem Telefon gespeichert. Ihre Angst, die er so deutlich gespürt hat, legt sich kalt um sein Herz. Seine Hand zittert leicht, als er ihre Nummer wählt. Viermal ertönt das Zeichen, dann meldet sich eine Automatenstimme. Beunruhigt beendet er seinen Versuch. Er steht immer noch still, unfähig sich zu bewegen.

      Auch Michiko ist unfähig, sich zu bewegen. Die kräftigen Hände des Mannes, der hinter ihr steht, umschlingen ihren Hals. Hart stößt er seine Erektion an ihren Körper. Panik steigt in ihr auf. Sie spürt den Atem in ihrem Nacken. Sie kann nicht sprechen und nicht schreien.

      Nicht, dass sie keine Luft bekommen hätte, aber die Angst schnürt ihr die Kehle zu. Die Hände betasten beinahe zärtlich ihr Gesicht. Dann umfasst die eine ihre Stirn, die andere wandert zu ihrem Genick. Sie weiß, was die Finger dieser Hand suchen. Eine bestimmte Stelle zwischen ihren oberen Halswirbeln. Und sie weiß, dass er die Stelle finden wird. Diese Hände haben immer alles gefunden, alles bekommen, was sie je suchten. Die Erkenntnis macht sie unvermittelt ruhig. Einst liebte sie diese Hände, die ihren Körper besser kennen als sie selbst. Sie spürt die anderen Männer im Raum, aber sie kann sich nicht umdrehen. Ihr Kopf ist wie im Schraubstock. Sie schließt die Augen. In ihren letzten Sekunden sieht sich als Kind. Sie spielte so gerne am Wasser. In ihren Ohren beginnt es zu rauschen. Dann spürt sie nur noch die Hitze in ihrem Genick.

      Tanner steht immer noch starr. Seine Hand umklammert das Telefon.

      Was will sie ihm mitteilen? Was kann so schlimm sein, dass sie es nicht am Telefon sagen kann?

      Wohl oder übel muss er sich bis zu ihrem Treffen gedulden. Es muss ja irgendwie mit dem Tod des Japaners zusammenhängen. Was sollte sie ihm sonst zu sagen haben? Sie haben sich ja kaum kennen gelernt. Er hat sie zwar nackt gesehen, sie sogar kurz berührt, und zwar genau so lange, um mit Sicherheit sagen zu können, dass ihre herrliche Brust nicht nur aus Natur besteht, aber dann durchschnitt dieser grelle Schrei … und gleich darauf war er auch schon wieder draußen, ausgestoßen aus dem Schlaraffenland. Ohne von den Früchten genossen zu haben.

      VIER

      Zurück in der Stadt, weckt Tanner auf dem Zivilstandesamt ein paar Beamte auf, die von der übermächtigen Hitze überwältigt, ihre Siesta halten, ihm aber über seinen Großvater nichts, aber rein gar nichts, erzählen können, denn er existiert in ihren Unterlagen nicht. Natürlich, er ist weder in dieser Stadt geboren noch gestorben. Und geheiratet hatte er Tanners Großmutter wahrscheinlich in Deutschland oder in ihrem Geburtsort.

      Meine Herren, Sie können wieder in Ihren Dornröschenschlaf zurücksinken … verzeihen Sie die Störung!

      Mehr Glück hat Tanner in dem herrlich kühlen Staatsarchiv, über dessen Tor ein denkwürdiger Satz in Goldlettern prangt: Gott lässt seiner nicht spotten.

      Interessanter Hinweis, denkt Tanner amüsiert, aber was ist damit gemeint? Ist es eine Feststellung oder eine furchtbare Drohung? Droht der Satz mit dem berühmten Blitzschlag, der denjenigen treffen soll, der sich über Gott lustig macht?

      Tanner geht in den Lesesaal im ersten Stock. Nachdem er knapp sein Anliegen dargelegt hat – und zwar flüsternd, denn die Atmosphäre legt Flüstern nahe –, verweist ihn der zuständige Beamte, dessen Gesichtshaut längst die Farbe und Konsistenz von alten vergilbten Dokumenten angenommen hat und der offensichtlich gerade mit seiner Frau telefoniert, mit majestätischer


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