Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub

Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub


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Claudia verschließt die Tür und steckt den Schlüssel ein. Draußen im Flur stehen Odette und Michiko. Sie haben sich mittlerweile etwas übergeworfen und sehen wie zwei verschüchterte Schülerinnen aus, die auf ihre Bestrafung warten. Tanner verabschiedet sich von beiden. Michiko presst sich einen Moment an ihn, flüstert etwas in sein Ohr, was er aber nicht versteht. War das japanisch? Er küsst sie auf beide Wangen. Sie riecht nach Pfirsich. Klischees sind manchmal doch ganz schön, denkt Tanner, und drückt Odette die Hand, die sich bei ihm überschwänglich für die Ohrfeige bedankt.

      Wenigstens lächelt sie wieder. Es ist sicher nicht gerade angenehm, einen wildfremden Mann in den Armen zu haben, der plötzlich stirbt. Dieses Erlebnis wird sie ohne professionelle Hilfe nicht so schnell wieder los. So etwas bleibt haften. Hoffentlich kümmert sich die Polizei darum.

      Draußen auf der Straße holt er zunächst einmal tief Luft. Es ist immer noch heiß. Will es denn heute nicht abkühlen? Er überlegt, ob er nicht trotzdem auf die Polizei warten soll.

      Ach, die werden sich sicher melden, wenn sie etwas von mir wissen wollen. Er geht in Richtung Innenstadt.

      Also, das ist jetzt sein Ausflug in die Welt der Lust gewesen. Lächelnd schüttelt Tanner den Kopf. Verwundert bleibt er plötzlich stehen. Eigentlich hätte man schon lange die Polizeisirene hören sollen. Sie lieben es doch, in solchen Situationen mit Donner und Gloria einzufahren. Na ja, ist ja eigentlich nicht sein Problem. Wahrscheinlich ist der Mann ein Viagraopfer. Wieso sollte sonst ein kräftiger Mann, kaum älter als fünfundvierzig, während er Sex mit einer Frau hat, plötzlich sterben? Allerdings, der gelbe Schleim. Was hat der wohl zu bedeuten? Waren das Magensäfte?

      Tanner beschließt, den Rückweg trotz der Hitze zu Fuß zu machen. Die Luft fühlt sich schwer an. Es erinnert ihn an Marokko. Da waren solche Temperaturen an der Tagesordnung. Jetzt hätte ihn seine damalige Köchin mit ihrer herrlich kalten Suppe erwartet. In diesem Moment realisiert Tanner, dass er furchtbaren Hunger hat. Er winkt sich jetzt doch das Taxi heran, das gerade wie gerufen um die Ecke biegt. Im Taxi ist es erdrückend heiß, zudem pafft der Fahrer ungeniert eine Ekel erregende Villinger. Zum Glück ist die Fahrt nur kurz. Mürrisch bedankt sich der Fahrer für das Trinkgeld und versteht nicht, warum Tanner sich seinerseits für die sehr angenehme Atmosphäre in seinem Taxi bedankt. Einer aus den Bergtälern, der sich in die Stadt verirrt hat und noch immer nicht begriffen hat, dass er im Dienstleistungssektor arbeitet.

      In der Innenstadt sucht er sich ein angenehm gekühltes Restaurant und bestellt eine Portion spaghetti alle vongole.

      Nachdem er gegessen hat, wandert er gemächlich zu seinem Hotel. Der Portier händigt ihm merkwürdig verschmitzt seine Zimmerschlüssel aus. Die Hotelbar ist zu. Also keine Gewissensentscheidung mehr wegen Alkohol und anderer Sachen …

      Merkwürdigerweise ist sein Zimmer nicht abgeschlossen. Hat er es vergessen? Ist eigentlich nicht seine Art. Er verharrt einen Moment vor der Tür. Dann reißt er sie mit einem Schlag auf. Eine kleine Tischlampe brennt. Auf dem Tisch steht, in einem Kühler, eine Flasche Champagner, daneben zwei schlanke Gläser. Im aufgeschlagenen Bett räkelt sich die Blonde von der Bar und schaut ihn verdutzt an. Keiner rührt sich, beide starren sich an. Nach einer Weile lächelt sie und dann kommt der Ton zum Bild. Ihre Wahnsinnsstimme.

      Das hat aber lang gedauert, ich bin schon eingeschlafen. Willst du nicht die Tür zumachen?

      DREI

      Pünktlich um sieben Uhr steht der bestellte Mietwagen vor dem Hotel. Tanner unterschreibt die notwendigen Dokumente. Auch dass er mit dem Auto unter gar keinen Umständen nach Polen fahren werde. Der kleine BMW hat tatsächlich eine Klimaanlage. Das war gestern eigentlich seine einzige Forderung an das Auto gewesen. Es sieht nämlich nicht aus, als würde der neue Tag kühler werden.

      Nachdem er die Grenze passiert hat, kann er für eine Weile das Auto austesten. Dann verlässt er die Autobahn und fährt gemächlich über Nebenstraßen durch die Landschaft.

      Die Klimaanlage im Auto arbeitet zufrieden stellend, Tanner lehnt sich zurück, lässt die Rebberge und Bauerndörfer, die auffallend sanft in die Hügel eingebettet sind, vorübergleiten.

      Ein tiefes Wohlgefühl breitet sich in ihm aus. Die Quelle dieses Wohlbefindens sitzt in seinem Bauch. Die Nacht mit der blonden Barfrau ist von einer überraschenden Zärtlichkeit erfüllt gewesen. Wie ist es möglich, dass sich zwei fremde Menschen einzig durch die Berührung ihrer Körper für einen Augenblick so, äh … berühren können? Ist das ganze Gerede über die Liebe vielleicht doch nur Gewäsch? Vielleicht ist das alles nur von den Hormonen, den Körpersäften und dem Duft abhängig. Sie haben kaum ein Wort gesprochen. Als er zu ihr ins Bett stieg, hat sie ihm mit einer so rührenden Vertraulichkeit ihre schönen Brüste dargeboten, als sei es in ihrem Leben das erste Mal. Sie hob sie mit beiden Händen an, presste sie leicht. Dann blickte sie ihn mit ihren dunklen Augen an, ließ die Brüste los, lehnte sich zurück und spreizte langsam ihre Beine. Diese Bewegung hatte erstaunlicherweise nichts Obszönes. Sie öffnete ganz einfach, ohne Scham, ihren Schoß und bot ihm seinen Anblick. Gemeinsam betrachteten sie das Wunder. Da erfasste ihn eine Leidenschaft, wie er sie lange nicht mehr gespürt hatte. Und sie trug ihn in immer neuen Wellen durch die halbe Nacht. Bevor sie das erste Mal kam, hat sie ihm ihren Namen ins Ohr geflüstert. Und nach seinem Namen gefragt. Als er am Morgen mit einem Gefühl der Ruhe und Dankbarkeit aufwachte, war sie weg.

      In diesem Moment wird ihm klar, dass er soeben die Abzweigung verpasst hat. Er wendet und nähert sich langsam dem kleinen Ort.

      Das Dorf besteht aus einem heillosen Durcheinander von alten Bauernhöfen und neuen, gesichtslosen Gebäuden. Einzig der kleine Dorfkern in Richtung Kirche lässt etwas von einer vergangenen Harmonie ahnen. Das Rathaus, an dem Rathaus steht, ein pseudohistorisches Gebäude aus der Zeit des Führers, befindet sich gerade im Umbau. Gleich neben der Baustelle sind einige weiße Bürocontainer mit großen Fenstern scheinbar nachlässig aufeinander geschichtet. Hier werden während der Umbauphase die amtlichen Geschäfte getätigt. Die Standesbeamtin arbeite leider heute nicht, erklärt ihm ihre Stellvertreterin, nachdem er sein Anliegen formuliert hat. Da er aber extra aus der Schweiz gekommen sei – sie macht dabei ein so bekümmertes Gesicht, als sei er mindestens aus Übersee angereist – werde sie versuchen, ihm die notwendigen Auskünfte zu erteilen. Kurz darauf erscheint sie mit einem riesigen, altertümlichen Wälzer. Sie beugen sich beide über das stark nach Verfall riechende Buch. Nach kurzer Zeit des Blätterns legt sie, die hilfsbereite Stellvertreterin, mit einem kleinen triumphierenden Lächeln ihre schmale Hand auf eine bestimmte Seite.

      Da ist der Geburtseintrag ihres Großvaters Gustav Adolf Land!

      Sie lächelt den Mann aus dem fernen Land an. Leider kann er die alte deutsche Schrift nicht lesen. Stolz liest sie ihm die knappen Eintragungen mit fester Stimme vor.

      Aha, er ist also tatsächlich geboren.

      Etwas irritiert schaut sie ihn an.

      Und auch gestorben. Sehen Sie, hier unten an der linken Ecke steht ein Eintrag. Ihr Großvater ist am 1. Juli 1941 in H. gestorben.

      Dabei steht auch die Nummer vom Sterbebuch. Alles korrekt eingetragen.

      Bevor sie das Buch mit Schwung zuschlagen kann, bittet er sie um eine Kopie. Stirnrunzelnd überlegt sie eine Weile, ob sie dazu befugt ist. Schließlich siegt die Einsicht, dass er ja extra von weit her gekommen sei. Tanner bedankt sich höflich und zückt seine Brieftasche. Sie wehrt sofort ab und meint, nein, nein, wir machen das ganz inoffiziell. Sie lächelt ihn mit einem kleinen verschwörerischen Schmunzeln an. Nachdem sie ihm die Kopie betont verstohlen ausgehändigt hat, zieht sie ihn schnell in ein anderes Büro.

      Wir haben hier ein Exemplar des Kirchenbuches, das kürzlich gedruckt wurde. Da können Sie auch noch nachschauen.

      Richtig eifrig ist sie nun geworden. Sie legt ihm das Buch auf einen Tisch. Sie verlässt das Zimmer und meint, das könne er nun alleine lesen, es sei ja gedruckt, und zwar in modernen Buchstaben. Lachend schließt sie die Tür.

      Tatsächlich findet er sofort den entsprechenden Eintrag. Sein Großvater hatte neun Geschwister. Noch etwas, das er nicht wusste. Und er erfährt, dass


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