Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub
Während Tanners Kindheit gab es um Gustav Adolf Land, seinen Großvater mütterlicherseits, den er nie kennen gelernt hatte, ein großes Geheimnis. Er war drüben aufgewachsen und sei später in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verschwunden.
Verschollen.
Was für ein Zauberwort. Es begleitete seine Kinder- und Jugendzeit. Später bezeichnete er ihn gerne als den verschollenen Land. Er freute sich spitzbübisch an der ungewohnten Verbindung vom Wort Land mit dem männlichen Artikel.
Hätte er ihn gekannt, hätte er ihn sicher Großvater oder Großpapa genannt, so aber nannte er ihn einfach Land. Gustav Adolf Land besaß wohl als Einziger in der ganzen Familie eine große und schlanke Statur. Wie er. Seine Mutter sagte es oft genug.
Du wirst genauso groß.
Die beiden Dinge hat er sein Leben lang mit seinem Großvater verbunden. Den Hinweis auf die Größe und das Wort verschollen.
Wie hatte dieses Wort die Phantasie des kleinen Tanner beschäftigt. Er sah Land gegen Schneestürme in Sibirien kämpfen, in den Wüsten Afrikas Goldschätze vergangener Königreiche ausgraben oder in einem Unterseeboot die Weltmeere durchpflügen. Später, mit mehr Kenntnis der Geschichte, dachte er, sein Großvater teile wahrscheinlich das Schicksal vieler Soldaten, die irgendwo in der Welt verscharrt worden waren. Irgendwann dachte er dann nicht mehr an ihn.
Bis Tanners Vater starb. Da erzählte seine Mutter überraschend Fragmente einer neuen Geschichte. Voller Anspielungen. Er sei in einer Fabrik angestellt gewesen und dort sei etwas passiert und man habe ihm die Schuld gegeben. Was dieses etwas gewesen sei, wisse sie nicht mehr. Dann sei er krank geworden, und zwar in der Seele. Seiner Mutter war das Aussprechen dieser Tatsache peinlich. Auch noch sechzig Jahre später. Er sei dann lange Zeit in der psychiatrischen Klinik gewesen. Hier in dieser Stadt. Bis die hiesige Krankenkasse nicht mehr bezahlt habe, da Großvater ja von drüben gewesen sei. Also sei er ganz einfach über die Grenze abgeschoben worden. Ganz einfach? Aus ihrem Mund klang es auf jeden Fall irgendwie selbstverständlich. Und seitdem fehle jede Spur von ihm. Tanner war damals entsetzt über die Geschichte und er löcherte seine Mutter mit Fragen. Aber sie gab vor, nichts zu wissen, sie könne sich an nichts mehr erinnern. Tanner war mit seinen Fragen alleine. Wie konnte man einen kranken Menschen, der eine Familie hatte, einfach über die Grenze abschieben? Wo war sie denn, diese Familie? Wusste sie davon? War das mit dem Einverständnis von Tanners Großmutter geschehen? Wie konnte sie mit so einer Katastrophe weiterleben?
Er muss an das Bild denken, das sich in seine Seele einbrannte, als er sie vor vielen Jahrzehnten zum letzten Mal im Altersheim besuchte.
Sie saß still und schmal auf einem Stuhl vor dem einzigen Fenster ihres kleinen Zimmers. Ihre Hände lagen im Schoß. Die Fingerspitzen berührten sich leicht. Durch den zugezogenen Tüllvorhang erschien die Außenwelt wie aufgelöst. Ohne Konturen. Ein Schwarzweißfoto, das zu lange belichtet wurde. So saß sie während Wochen und Monaten auf ihrem Stuhl, dem letzten Möbelstück, das man ihr gelassen hatte. Jeden Tag.
Wegen ihres Mannes ist Tanner nun in seine Geburtsstadt gekommen. Nach vielen Jahren. Er fand, dass es Zeit wurde, die Wahrheit zu erfahren. Eines Morgens ist er aufgewacht und hat beschlossen, der Frage nach dem Verschwinden seines Großvaters, dem verschollenen Land, auf den Grund zu gehen.
In einer Situation, in der er selber nichts mehr weiß und sich keine Zukunft vorstellen kann, solange Elsie nicht aus ihrem geheimnisvollen Tiefschlaf erwacht, kann er vielleicht wenigstens diese Frage lösen.
Die Wahrheit ist, dass ihm das Warten und der Stillstand den Atem abzuwürgen drohten. Wie ein Taucher, der sich vorgenommen hat, nur noch unter Wasser zu leben, sich aber über seine Sauerstoffreserven Illusionen gemacht hat, taucht er auf. Heftig nach Luft ringend. Begierig von neuem die Vielfalt des Lebens einzuatmen. Zu leben.
Die alte Ruhelosigkeit hat wieder von ihm Besitz ergriffen und jede Faser seines Daseins fordert ungestüm Bewegung. Sein Geist sehnt sich nach neuen Herausforderungen. Er hat sich sogar überlegt, ob er nicht wieder zurück in seinen Beruf soll. Zum Glück sind seine Ersparnisse immer noch nicht aufgebraucht, so dass er sich noch nicht entscheiden muss. Seinen Beruf hat er zwar immer geliebt und sich nie wirklich eine andere Tätigkeit vorstellen können. Aber nach über zwanzig Berufsjahren erträgt er die Innenwelt der Polizei, und besonders die ihr eigenen Werte- und Verhaltenskodexe, kaum mehr. Und schon gar nicht die Hierarchie.
Er hat sich also in den Kopf gesetzt, am äußersten Rand seiner eigenen Geschichte noch einmal von vorn zu beginnen. Morgen wird er über die Grenze fahren. In das Dorf, wo Gustav Adolf Land geboren wurde.
Tanner steht unvermittelt vor dem kleinen Hotel, in dem er ein Zimmer reserviert hat. Das Gepäck hat er am Nachmittag per Taxi ins Hotel liefern lassen. Er trägt sich ein, lässt sich für den nächsten Morgen ein Auto reservieren und stellt sich für eine herrlich lange Zeit unter die kalte Dusche. Als er endlich durch und durch friert, legt er sich, ohne sich abzutrocknen, auf das Kingsizebett. Er fällt sofort in einen traumlosen Tiefschlaf.
Zwei Stunden später fährt er erschrocken hoch. Er ist schweißgebadet. Hat ihn jemand gerufen? Draußen ist es schon dämmrig. Die Hitze hat noch immer kein bisschen nachgelassen. Er stellt sich noch einmal unter die Dusche und überlegt sich dabei genüsslich, wie schnell sich der Lebensrhythmus in diesem Land verändern würde, bliebe es so heiß.
Als er aus dem Badezimmer kommt, bemerkt er einen Briefumschlag, den jemand unter der Tür durchgeschoben hat.
Wer weiß, dass er in diesem Hotel ist? Er setzt sich auf die Bettkante und wiegt den Brief in seiner Hand. Ein Briefumschlag der teuersten Sorte. In schwarzer Tinte gestochen scharf sein Name. Er riecht an dem Umschlag. Kein besonderer Geruch. Für eine Weile genießt er die Spannung. Dann öffnet er den Umschlag. Der Brief ist von seinem alten Schulfreund Richard Bruckner. Stimmt. Tanner hat ihm vor ein paar Tagen angekündigt, dass er wahrscheinlich heute in die Stadt kommen und in diesem Hotel absteigen werde. Er hat den Brief aufs Geratewohl an die Bank geschickt, in die Richard Bruckner nach seinem Studium eingetreten war. Eine der großen Banken, in der auch Tanner seine Ersparnisse angelegt hat.
Schau mal an, er hat sich an das Datum erinnert und er arbeitet immer noch bei derselben Bank.
Eine Tatsache, die für Tanner schier unvorstellbar ist. Die ganze lange Zeit in der gleichen Stadt und an der gleichen Arbeitsstelle!
Lieber Tanner, ich freue mich, dass du dich nach so langer Zeit bei mir meldest. Gibt es was Neues am neuen Hofe, Sir? Wenn du Zeit hast, könnten wir morgen Abend zusammen essen. Am alten Ort, wenn du einverstanden bist. Zwanzig Uhr? Gib bitte meiner Sekretärin Bescheid, falls du nicht kannst. Und um es gleich jetzt schon zu klären: Ich lade dich ein! Verstanden, Herr Tanner? Keine Widerworte. Wir fangen nichts Neues mehr an, auf unsere alten Tage, gell … Bis dann. Bruckner. Telefonnummer.
Der alte Ton, als ob keine Zeit vergangen wäre. Sogar das Shakespeare-Zitat, mit dem sie sich jeweils begrüßten, weiß er noch.
Tatsächlich hatte damals immer sein Freund bezahlt, denn er stammte aus einer reichen Familie. Und er war unglaublich großzügig. Zudem bewunderte Bruckner ihn immer ein wenig. Wofür eigentlich? Oder war es nur Dankbarkeit, dass er sein Freund war, denn er hatte sonst keine Freunde. Bruckner war damals ein schlanker Jüngling mit dichten, relativ kurz gehaltenen Haaren. Hellroten Haaren. Er hatte in seinem Stil etwas bewusst Englisches. Gab sich meist bescheiden und reserviert. Für die anderen war er wahrscheinlich die Arroganz persönlich. Tanner wusste es besser. Bruckner war scheu. Warum? Tanner wusste es nicht. Aber es war eindeutig. Vielleicht war er zu lange auf teuren Internaten gewesen? Und wer weiß, was ihm dort widerfahren war? Bruckner hat nie darüber gesprochen. Ihre Freundschaft war auf jeden Fall klar entschieden, als sie das erste Mal das gemeinsame Klassenzimmer betraten und sich ganz selbstverständlich in die hinterste Schulbank am Fenster setzten. Und, oh Wunder, sie ergänzten sich perfekt in den Schulfächern. Überall, wo Tanner schwach war, war Bruckner besonders gut und umgekehrt. Es war eine Arbeitsgemeinschaft, die vier Jahre bis zur Maturität perfekt harmonierte. Gleichzeitig teilten sie ein leidenschaftliches Interesse fürs Theater.
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