Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub

Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub


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Sie verbrachten vier Jahre Seite an Seite in der Schule, siezten sich aus einer Laune heraus die ganze Zeit und gingen zusammen ins Theater. Das heißt, Bruckner arbeitete viele Abende im Theater als Platzanweiser. Er tat dies, um dem Theater näher zu sein. Er besorgte Tanner die Eintrittskarten und nach dem Theater aßen sie häufig bei dem alten Italiener. Immer bezahlte Bruckner. Er hatte Geld. Tanner hatte keins. So einfach war das. Nie lud einer den anderen zu sich nach Hause ein. Irgendwie war das tabu. Sie sprachen auch nie darüber.

      Bruckners Vater handelte mit Erdöl. Bei der Geburt jedes seiner Kinder kaufte er das Auto, das gerade en vogue war, und schenkte es dem jeweiligen Kind bei seiner Volljährigkeit.

      Eigentlich wusste Tanner wenig über seinen Freund. Bruckner hatte seines Wissens nie eine Freundin gehabt, er hat ihn aber nie gefragt, warum. Tanner hatte viele Freundinnen und Bekanntschaften. Bruckner äußerte sich nie dazu. Ob Bruckner heute verheiratet ist? Er wird es erfahren. Morgen Abend. Nach dreißig Jahren.

      Tanner geht an die kleine Hotelbar und bestellt einen Tomatensaft mit Eis. Alkohol ist bei der Hitze nicht angeraten. Ein wahrscheinlich eilig gekaufter Tischventilator verteilt wild entschlossen die Hitze. Die Frau an der Bar, eine blonde Enddreißigerin, nickt ihm zu, bereitet mit betont langsamen Bewegungen seinen Saft zu und betrachtet ihn durch ihre langen Augenwimpern. Ihr dünnes, weißes Kleidchen klebt verschwitzt am Körper. Tanner bemüht sich, nicht ständig auf ihre Brüste zu starren, die durch den transparent gewordenen Stoff auf- und abwippen. Zur Ablenkung blättert er in der Zeitung. Uninteressiert überfliegt er die Schlagzeilen und die mehr oder weniger langweiligen Artikel. Viele beschäftigen sich mit der ungewöhnlichen Hitze. Meteorologen fühlen sich bemüßigt, unnötige Erklärungen abzugeben. Azorenhoch, Winde aus Afrika. Auch sei mit Saharastaub zu rechnen. Der Ozonwert sei noch mal gestiegen. Wenn es so weiterginge, würden die Sommerferien für die Schüler vorgezogen.

      Eine Notiz erregt seine Aufmerksamkeit. In dem kleinen See, an dessen Ufer er seit kurzem eine Wohnung besitzt, habe bei einem Unglück ein Segler sein Leben verloren. Gleichzeitig habe man eine tote Kuh im See entdeckt. Seither habe sich das Wasser des Sees rot verfärbt. Einen Zusammenhang gebe es aber zwischen den beiden Ereignissen nicht. Der Segler sei aus noch nicht geklärten Gründen ohne Schwimmweste von Bord gestürzt und ertrunken. Seine Begleiterin, die ebenfalls über Bord gegangen sei, habe sich retten können. Der Tote sei japanischer Nationalität und Mitglied der Geschäftsleitung einer hiesigen Chemiefirma.

      Tanner leert sein Glas. Die Blonde blickt ihn fragend an. Sie meint wohl, ob er noch einen Saft möchte.

      Tanner nickt. Es ist schön, wenn sie sich bewegt. Zwar bewegt sie sich langsam, aber sie bewegt sich. Als sie ihm den zweiten Saft hinstellt, blättert Tanner weiter in seiner Zeitung. Hält inne bei den Sexanzeigen. Interessiert liest er die verschiedenartigen Angebote. Bei einer kleinen Annonce bleibt er hängen. Schöne Japanerin zu Gast, nur heute und morgen, im Studio Schlaraffenländli. Bei dem Stichwort schöne Japanerin denkt er heute schon zum zweiten Mal an Harumi.

      Stichwort Japan genügt – und er sieht die langhaarige Harumi vor sich, mit ihren vollen Lippen. Pawlow’scher Reflex. Kurz entschlossen greift Tanner nach seinem Mobiltelefon. Es meldet sich, nach kurzem außerirdischem Rauschen, eine automatische Ansage mit einer munteren Frauenstimme im breitesten Schwäbisch. Sie nennt sich Claudia und berichtet fröhlich über die Angebote im Schlaraffenländli. Schlaraffenländleee heißt das in ihrer süddeutschen Mundart. Tanner muss unwillkürlich schmunzeln, worauf ihn die Blonde schon wieder fragend anblickt. Sie richtet sich auf und versucht, einen Blick auf Tanners Zeitung zu erhaschen, denn sie hat bemerkt, dass er eine Nummer aus der Zeitung gewählt hat. Aber die Freude gönnt Tanner ihr nicht und legt die Seite um. Enttäuscht schmollt sie und wischt die saubere Theke mit einem schmutzigen Lappen. Ihre Brüste schaukeln entrüstet unter ihrem verschwitzten Kleid. Nachdem er Straße und Hausnummer gehört hat, unterbricht Tanner die eifrige Stimme des Anrufbeantworters. Ob sie bei der Arbeit auch so munter drauflosplaudert? Damit nimmt sie wahrscheinlich jedem Verklemmten sofort alle Hemmungen. Tanner schmunzelt immer noch, verlangt die Rechnung und bittet um ein Taxi. Die Blonde platzt fast vor Neugierde. Tanner gibt ihr ein großzügiges Trinkgeld. Sie bedankt sich mit einem kleinen Knicks und einem großen Augenaufschlag.

      Ich bin den ganzen Abend hier!

      Das erste Mal hört Tanner ihre Stimme. Beinahe wäre er vom Stuhl gefallen, so überrascht ist er. Ihre Stimme ist tief und aufreizend rau. Wie die einer Jazzsängerin aus vergangenen Zeiten. Eine Stimme, die einen sofort im Bauchfell kitzelt.

      Ich komme auch wieder zurück, schließlich schlafe ich ja hier im Hotel.

      Tanner sagt es gedankenlos. Erst zu spät realisiert er, dass sie ihm ein Angebot gemacht hat und er mit seinem unüberlegten Satz auf das Angebot eingegangen ist. Sofort schnurrt sie ein zufriedenes Okay und verschränkt gekonnt anmutig die Arme hinter ihrem Rücken. Die Wirkung auf die Topographie ihres Oberkörpers und auf die Spannung des eh schon engen Kleidchens ist enorm. Tanner reißt seinen Blick von ihr los und verlässt eilig die Bar.

      In der Hotelhalle ist es etwas kühler. Gleich darauf fährt das Taxi vor. Zum Glück ist es mit einer Klimaanlage ausgerüstet. Tanner nennt Straße und Hausnummer.

      Der Taxifahrer grinst frech in den Rückspiegel und meint, die hätten dort auf jeden Fall auch eine Klimaanlage.

      Na, dann ist ja alles in Ordnung.

      Tanner grinst entwaffnend zurück.

      Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, gehen Sie nicht zu Claudia. Die redet Sie in Grund und Boden. Wählen Sie sich Sophie, wenn Sie auf schlanke Frauen stehen, oder Odette, wenn Sie etwas mehr Fleisch zwischen den Händen haben wollen.

      Sehr nett, dass Sie sich Sorgen um mein Wohlergehen machen. Danke.

      Seufzend schließt Tanner die Augen. Es gibt doch noch zuvorkommende Menschen in diesem Lande. Noch ist nicht alles verloren.

      Blind lässt sich Tanner durch die Stadt fahren. Er weiß trotzdem in jedem Augenblick, wo sie gerade sind. Kurz vor dem Ziel öffnet Tanner die Augen. Der Taxifahrer hält vor dem entsprechenden Haus. Tanner zahlt.

      Und sagen Sie jetzt bitte nicht viel Vergnügen, ja?

      Der junge Mann nickt schweigend. Mit einem Blick auf die Taxikonzession, die am Armaturenbrett festgemacht ist, stellt Tanner fest, dass der Mann Türke ist. Spontan erhöht er das Trinkgeld. Der Mann bedankt sich artig.

      Tanner steht vor einem dreigeschossigen, biederen Haus mit hellblauem Anstrich. Aha, das ist also das Schlaraffenländli. Bei sämtlichen Fenstern sind die hellgrünen Rollläden geschlossen. Aus einem Erkerfenster im mittleren Stockwerk grüßt ein Schweizerfähnchen. Was soll jetzt das heißen? Ist es ein Ausdruck schweizerischer Bodenständigkeit, die das Haus seinen Besuchern verheißt, oder signalisiert es einfach, dass die Damen an Deck sind? Auf jeden Fall verfügen sie über Humor, so viel ist schon mal sicher. Entschlossen betritt er den gepflegten Vorgarten. Die Haustür ist offen. An der Wohnungstür im Parterre stehen drei französische Namen, die Freuden in angenehmer Ambiance verheißen.

      Er steigt die Treppe hoch. An der Wohnungstür im ersten Stock verkündet ein großes Schild die Gunst des japanischen Gastes. Durch die Tür hört man leise japanische Flötenmusik.

      Tanner muss lächeln und klingelt. Auch Harumi liebte diese Musik. Leise trippelnde Schritte, die Tür wird aufgerissen und im Halbdunkel des Flurs begrüßt ihn mit traditioneller Verbeugung eine langhaarige Japanerin. Ihr Gesicht kann Tanner nicht sehen, aber er erschrickt, denn er glaubt, Harumi vor sich zu haben, was ja gar nicht möglich ist. Genauso hat ihn Harumi an ihrer Haustür auch empfangen. Die dunkle Gestalt im Kimono tritt einen Schritt zurück. Sie hält eine Hand vors Gesicht, als ob auch sie erschrocken wäre. In perfektem Deutsch fragt sie, ob sie so hässlich sei, dass er sich erschreckt habe.

      Nein, nein. Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen, aber ich dachte tatsächlich, Sie seien Harumi, eine Freundin von früher. Im Gegenteil, Sie sind wunderschön. Guten Tag, ich heiße Simon. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.

      Danke, und willkommen im Schlaraffenland. Ich muss Sie enttäuschen, ich heiße nicht Harumi. Mein Name ist Michiko.


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