Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub

Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub


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die Ellbogen ins Wasser gehalten und die beiden steinernen Köpfe betrachtet, die als Wasserspeier dienen und irgendwie an Asterix und Obelix erinnern, bevor er stur seinen Plan ausgeführt hat, den Turm trotz der quälenden Hitze zu besteigen.

      Er war vom Bahnhof zu Fuß auf alten Wildwechseln in Richtung Münster gegangen. Seit vielen Jahren ist er das erste Mal wieder in seiner Geburtsstadt. Eine Flut von Erinnerungen begleitete jeden seiner Schritte.

      Bei dem alten Kasten in der Nähe des Bahnhofs zum Beispiel, in dem er während des Studiums aushilfsweise unterrichtet hatte.

      Was für ein ohrenbetäubender Lärm in seiner Klasse. Die Schüler waren zu Beginn kaum zu bändigen. Die Gelegenheit war günstig. Er hatte nächtelang nicht mehr schlafen können, bis er im Umgang mit der Bande eine halbwegs brauchbare Strategie fand. Er ließ sie sich in Rollenspielen austoben, bis die anderen Lehrer Einspruch erhoben. Nach fünf Wochen hatte er sich geschworen, sein Studiengeld in Zukunft anders zu verdienen.

      Er arbeitete in der Folge nachts bei der Bahnpost oder machte für kleine Transportbetriebe die Buchhaltung.

      Er musste unwillkürlich lächeln.

      Oje, ich und meine Buchhaltervergangenheit!

      Er verstand nämlich selber nicht viel davon, aber die ölverschmierten Kleinunternehmer, die alles aus ihren dicken Portmonees bezahlten, die sie aus der Gesäßtasche zogen, egal ob es sich um private oder geschäftliche Ausgaben handelte, verstanden noch weniger von Zahlen als er. Er staunt noch heute über sich, wenn er an die Berge von Rechnungen denkt, die er in dieser Zeit sortierte. Meist saß er in schlecht gelüfteten Wohnungen an Esstischen, die sich unter der Last unbezahlter Rechnungen krümmten. Aber er war süchtig nach den Geschichten der Fahrer, die ihm von ihren Erlebnissen erzählten, von Russland, dem Nahen Osten oder dem hohen Norden. Damals hatte er ein geradezu schmerzhaftes Fernweh.

      Um das städtische Theater hat er vorhin bewusst einen weiten Bogen gemacht. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass seine Gedanken während des ganzen Weges um seine Theatersehnsucht kreisten, die ihn einen Großteil seiner Jugend- und Studienzeit fesselte. Dem Ort, in dem sich damals seine Leidenschaft kristallisierte, wollte er heute nicht leibhaftig begegnen. Vielleicht morgen.

      Da er den Gang am Theater vorbei vermied, kam er auch nicht am zweitwichtigsten Tatort seiner Jugendzeit vorbei.

      In den Augen der Eltern war dieser Ort der Drogenumschlagplatz der Stadt. Womit sie sicher Recht hatten. Er ging heimlich hin. Zeitweise jeden Abend. Drogen interessierten ihn nicht. Aber er war dabei, als Cat Stevens mit seiner Gitarre auftrat, bevor seine Weltkarriere begann. Und er war fasziniert von der schummrigen Atmosphäre des Lokals. Und von der Möglichkeit, Mädchen kennen zu lernen. Das war das Wichtigste. Es spielte sich zwar nur in seiner Phantasie ab, aber immerhin war es sehr aufregend. Er war damals viel zu schüchtern, ein Mädchen anzusprechen.

      Einmal lernte er eine Frau kennen. Das heißt, ein Mann sprach ihn im Club an, ob er nicht Lust hätte, einer Freundin ohne männliche Begleitung Gesellschaft zu leisten. Sein Herz schlug bis zum Halse und er brachte kaum ein Wort heraus. Sie hatte pechschwarze Haare, tiefblaue Augen und war etwa dreimal so alt wie er. Nach einer Stunde, in der praktisch nur sie gesprochen hatte, beschloss die kleine Gruppe, in einen Grenzort des Nachbarlandes zu fahren. Man fuhr mit zwei Autos. Schon auf der Fahrt über die nahe Grenze hielt sie irgendwo am Straßenrand, küsste ihn, griff ungeniert nach seinem Schwanz. Kaum hatte sie ihn berührt, machte er auch schon seine Hose nass, was sie in Begeisterung versetzte. Er schämte sich seiner Unerfahrenheit. Nachdem sie zwei Stunden in einem öden Nachtlokal verbracht hatten, fuhr sie ihn nach Hause. Da in dieser Nacht seine Eltern nicht zu Hause waren, gingen sie in die Wohnung. Kaum waren sie in seinem Zimmer, riss sie sich mit dramatischen Bewegungen die Kleider vom Leib. Durch die grünen Holzjalousien der Fensterläden fiel helles Mondlicht auf ihren schlanken Leib. Er wusste nicht recht, was tun. Danach sprachen sie kein Wort. Als sie gegangen war, sah er auf dem Teppich einen Fleck, und so hantierte er mitten in der Nacht mit Teppichschaum und Staubsauger. Seine Mutter bemerkte am nächsten Tag einen fremden Geruch in der Wohnung. Er stellte sich dumm, fühlte aber, wie die Hitze in sein Gesicht strömte, floh in sein Zimmer und versuchte nicht mehr an die Nacht zu denken.

      Tanner bog in eine der unzähligen Gassen, die sternförmig von allen Seiten auf das Münster zuführen. Bevor er ins Münster ging, schlenderte er durch den Kreuzgang. Der quadratische Innengarten leuchtete grell hinter den schlanken Säulen.

      Im Münster war es vollkommen leer und kühl. Tanner setzte sich eine Weile auf eine der Holzbänke. Es herrschte absolute Stille. Die Sonne brach mit goldenen Lichtfingern in den hohen Raum und ergriff von dem hohen Raum Besitz.

      An der Kasse, wo man für die Turmbesteigung bezahlen muss, schlief ein Mann mit offenem Mund. Leise hat Tanner das Geldstück auf die kleine Kassentheke gelegt und ist in die Wendeltreppe eingestiegen.

      Endlos ist der Aufstieg. Immer schmaler werden die Treppen und Durchgänge. Die Luft ist zwar verhältnismäßig kühl, aber trocken und muffig. Auf der Höhe des Uhrwerks angekommen, betrachtet er das technische Wunderwerk, die unzähligen Zahnräder, die Unruh, den Schwinger, die Wellen, die Schnecken und die Gestänge mit derselben Faszination wie damals, als er noch ein Kind war.

      Als er die letzten Stufen der schmalen Holztreppe erklimmt, die sich an den mächtigen Glocken vorbei in die Höhe windet, und er auf den umlaufenden Balkon des Turmes tritt, trifft ihn die heiße Luft wie ein Schlag ins Gesicht. Als hätte jemand vor seiner Nase eine Backofentür geöffnet. Einen Moment lang kann er kaum mehr atmen. Der Temperaturunterschied beträgt mindestens dreißig Grad, gefühlsmäßig. Er stützt sich schwer atmend auf die Sandsteinbrüstung.

      Da liegt sie nun, seine Geburtsstadt.

      Verkleinert und perspektivisch zusammengestaucht. Die ineinander gefügten Dächer mit einer Vielzahl von Lukarnen leuchten matt in allen nur denkbaren Rottönen. Es herrscht eine dumpfe Stille. Als ob unsichtbar ein gewaltiges Tier die Stadt niedergerungen und sich rittlings auf ihre Dächer gesetzt hätte und mit heißem Atem alles Lebendige in Schach hielte.

      In Richtung Westen liegt der große Strom. Wasser wie Blei, das die Stadt in zwei Teile zerlegt. In nördlicher Richtung erkennt man die Anlagen der chemischen Industrie, in der sein Vater sein Leben lang schuftete. Ohne sie wäre die Stadt nichts. Gar nichts.

      Er hatte jahrelang Reagenzgläschen gewaschen, wie er immer wieder stolz betonte. Später musste er nachts die laufenden Versuche in den Labors überwachen. Seine Chefs, die Chemiker und Doktoren, waren seine Götter. Sein Vater musste in dieser Welt das absolute Ideal eines pflegeleichten Arbeiters verkörpert haben. Noch in den ödesten Arbeitsvorgängen hatte er seine Pflicht mit Sorgfalt, Hingabe und absoluter Treue ausgeübt. Für ein lächerliches Entgelt. Und er identifizierte sich mit seiner Firma bis zur Selbstaufgabe. Wehe, es fiel ein kritisches Wort. Noch in den krassesten Momenten der Ausbeutung hatte er Verständnis und verteidigte auch ganz offensichtlich zynische Maßnahmen seiner Firma.

      Als man in Westafrika Pflanzenschutzmittel einer chemischen Firma entdeckte, die zu Kriegszwecken verwendet wurden, war sein Vater erbost über die Berichterstattung, nicht über das Verbrechen.

      Als er zwei Jahre vor dem Pensionierungsalter in den Ruhestand trat, kürzte man ihm kaltschnäuzig die Rente. Der Vater schluckte es und beschwor seinen Sohn, die Kriegsvorbereitungen gegen die Firma einzustellen. Tanner wusste damals nicht, ob er die Firma oder seinen Vater hassen sollte. Dass die geliebte Firma einen Großteil ihrer Gewinne im Ausland erzielte, auch auf Kosten der Dritten Welt, verdrängte sein Vater immer. Genauso wie er an die Märchen von der starken Landesverteidigung während des Zweiten Weltkrieges glaubte, hatte er auch die Mär vom auserwählten Fleiß des Landes und seiner Bewohner verinnerlicht. Nun ist der Vater schon lange tot und seine geliebte Firma hat sich einen poetischen Namen zugelegt. Tanner beugt sich über die Brüstung und sammelt Speichel in seinem Mund. Er spuckt, verfolgt das scheinbar langsame Fallen. Wie damals als Kind fragt er sich, wie es wohl wäre, selber zu fallen. Wie lange würde der Fall dauern? Würde man den Aufschlag gerade noch spüren und erst danach wäre man tot? Oder fliegt man geräusch- und schmerzlos ins andere Land? Wie durch ein Schlupfloch in der Zeit vielleicht?

      Aber


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