Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub

Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub


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sie kleine Gegenstände in Plastiktüten. Hauptkommissar Schmid sitzt immer noch in sich zusammengesunken auf derselben Bank. Dann und wann beugt sich der neben ihm stehende Natter zu ihm hinunter und flüstert ihm etwas zu. Schmid nickt dann bloß oder wiegt skeptisch seinen Schädel. Einmal führt Schmid mit seinem Handy ein kurzes Telefongespräch. Vielleicht mit seiner Frau? Um ihr zu sagen, dass er später als sonst nach Hause kommt? Vielleicht beauftragt er sie, an seiner Stelle in den Garten zu gehen, da er wegen des neuen Falles auch den ganzen Tag über im Dienst bleiben muss.

      In der Zwischenzeit hat sich die Menge der Leute hinter der Absperrung verlaufen, denn es gibt nichts Spannendes mehr zu sehen. Einzig Tanner sitzt noch auf seiner Treppenstufe. Die Nachtluft ist endlich angenehm kühl. Still ist es geworden. Die Straßenbahnen fahren nicht mehr und Autos sind nur noch sporadisch zu hören.

      Tanner stellt sich die kleine Gedankenaufgabe, wie er es anstellen würde, mitten in der Stadt eine nackte Leiche im Brunnenbecken zu platzieren. Über Motiv oder Tathergang kann er ohne Anhaltspunkte gar nicht nachdenken. Er weiß ja nicht einmal, wie Michiko ermordet wurde. Wegen der Distanz zum Brunnen konnte er weder eine Verletzung noch eine Schusswunde erkennen.

      Es müssen auf jeden Fall mehrere Täter gewesen sein. Mindestens drei. Für eine professionelle Nachtaktion mitten in der Stadt wären vier oder fünf Männer besser. Die Männer kommen mit einem Auto – wahrscheinlich mit einem Lieferwagen – und fahren so nahe wie möglich zum Brunnenbecken. Es gibt zwei Stellen, wo ein Auto unweit des Brunnens relativ unverdächtig anhalten könnte. Wenn die Polizei weg ist, wird Tanner aufstehen und beide Stellen überprüfen. Also, bei der einen oder anderen Stelle hält ein Lieferwagen. Drei bis fünf Männer sitzen im Auto. Sie kurbeln die Fenster runter und beobachten ruhig den Brunnen und die Umgebung. Wahrscheinlich flanieren noch ein paar Leute beim Brunnen. Das eine oder andere Paar sitzt auf dem Beckenrand, küsst sich und hält sich liebevoll umschlungen. Die Männer im Auto haben Zeit und Geduld. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da ist plötzlich die Luft rein. Blitzschnell steigen sie aus dem Auto. Zwei behalten weiterhin die Umgebung scharf im Auge. Die beiden anderen packen die leblose Michiko, die wahrscheinlich in ein dunkles Tuch gehüllt ist – oder in einem großen Behältnis oder Wäschekorb liegt – und tragen sie ruhig zum Brunnen. Schwer war Michiko ja nicht. Tanner erinnert sich an den Moment, wo sie auf seinen Knien saß. Nach einer weiteren Sicherheitsüberprüfung steigen die zwei Träger in den Brunnen und legen die Leiche ins Wasser. Die ganze Aktion könnte nach Tanners Berechnung in neunzig Sekunden erledigt gewesen sein. Die zwei Träger, die in das flache Brunnenbecken steigen mussten, haben jetzt nasse Schuhe. Oder sie haben Stiefel getragen. Das Tuch, in das Michiko gehüllt war – oder der Transportbehälter, in dem sie lag – wird zurück ins Auto getragen. Alle steigen wieder ein – der Fahrer ist wahrscheinlich sowieso im Auto sitzen geblieben – und weg sind sie.

      Wie auch immer, auf jeden Fall deutet alles darauf hin, dass es sich um professionelle und skrupellose Täter handelt. Professionelle Täter handeln zwar – nach Lehrbuch – im Verborgenen und versuchen, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen. Trotzdem kann man sich die Aktion, die hier stattgefunden haben muss, nicht von Amateuren ausgeführt vorstellen. Dass die Leiche Michikos in einen öffentlichen Brunnen mitten in der Stadt gelegt wurde, ist eine Botschaft. Aber an wen ist sie gerichtet? Auf jeden Fall müssen sich die Täter oder ihre Auftraggeber geradezu unverschämt sicher fühlen.

      Die Scheinwerfer erlöschen. Die Polizei hat ihre Untersuchung beendet. Eine Untersuchung, die für Tanners Geschmack etwas oberflächlich war und vor allem ziemlich schnell abgebrochen wurde. Zum Beispiel wurde das Brunnenbecken nicht methodisch und gründlich abgesucht. Tanner hätte auf jeden Fall das Wasser abgelassen und filtriert, um zu schauen, ob im Wasser irgendetwas zum Vorschein gekommen wäre, was Rückschlüsse auf die Täter oder das Opfer erlaubt hätte.

      Ja, ja, du! Du hättest … du bist aber nicht mehr im Dienst, und gerade mit solchen Aktionen, wie zum Beispiel hier mitten in der Nacht das Wasser des ganzen Beckens abzulassen, hast du dich nicht gerade beliebt gemacht …

      Tanner lacht über seine eigenen Gedanken. Und zuckt einen Augenblick später zusammen, als plötzlich eine hohe Fistelstimme spricht. Lach nur! Lach! Dir wird das Lachen schon noch vergehen, wenn der Gerechte kommt und dich packt.

      Die Stimme kommt aus einem Gebüsch dicht unterhalb der Brunnenanlage. Es sind mehrere mannshohe, dornige Büsche, die zusammen ein undurchdringliches Gebüsch bilden. Nach kurzer Pause spricht die Stimme weiter.

      Die Stadt lebt in Sünde. Die Menschen dieser Stadt sind alle zum Sterben bestimmt. Zuerst kommt der Tod leise. Als Mahnung und Vorwarnung. Dann, wenn sich die Tage erfüllt haben, kommt ein brausendes Feuer vom Himmel mit großem Lärm über die Stadt.

      Tanner steht auf und geht näher an den sprechenden Busch heran.

      Wir wissen, dass wer von Gott geboren ist, der sündigt nicht, sondern wer von Gott geboren ist, der bewahrt sich, und der Arge wird ihn nicht antasten. Erstes Buch Johannes, Kapitel fünf, Vers achtzehn …

      Die Stimme schweigt. In der Stille hört Tanner ein leises Rascheln. Es klingt, als würde jemand in Plastiktüten wühlen. Dann wird eine Flasche entkorkt. Gleich darauf hört man deutlich Trinkgeräusche. Jetzt spricht sie wieder, die Stimme aus dem Busch.

      Was ist das Größre vor dem Herrn? Ein ausgespiener Apfelkern, ein Hund, ein Kind, ein Halm im Wind oder die Reue einer Dirne?

      Schweigen. Dann wieder Trinkgeräusche.

      Prost! Auf Ihre Gesundheit! Darf ich Sie kurz stören?

      Kaum hat Tanner gesprochen, wird es sofort wieder still im Gebüsch. Tanner versucht, durch die Zweige ins Innere des Gestrüpps zu sehen, aber es ist einfach zu dunkel. Dann wieder die Fistelstimme.

      Hau ab, Mensch, sündiger. Du störst. Wenn du beichten willst, komm morgen wieder. Verschwinde, sonst jag ich meine Hunde auf dich … Und wie zur Bestätigung hört man das Knurren mehrerer Hunde. Es klingt, als ob es große Hunde wären. Tanner beschließt sich zurückzuziehen.

      Also gut, ich komme morgen wieder. Abgemacht?

      Die Antwort ist ein Knurren. Man kann nicht sagen, ob es der Laut eines Menschen oder der eines Tieres ist. Tanner nimmt es als Bestätigung und zieht sich zurück.

      Ein seltsamer Wohnort. Mitten in der Stadt und trotzdem unsichtbar. Tanner ist gespannt, was für ein Wesen sich hier sein Nest gebaut hat. Er hat schon Penner und Clochards in Kartonschachteln gesehen, in Abfallcontainern, in ausgebrannten Autos, unter Brücken, in Berge von Zeitungen eingehüllt, in umgestürzten Telefonkabinen. Aber in einem Busch, einem schier undurchdringbaren Gestrüpp … das ist neu. Und wie geht er rein und raus? Das Rätsel wird sich im Tageslicht lösen. Abhauen wird er ja bis morgen nicht. Möglicherweise hat das Wesen im Busch etwas von den nächtlichen Vorgängen beobachtet.

      Tanner inspiziert die beiden Stellen, die er in seinem Gedankenspiel vorhin als mögliche Halteorte für das Auto der Verbrecher eruiert hat. Aber er findet nichts. Keinen einzigen Anhaltspunkt.

      Enttäuscht und aufgewühlt geht er in Richtung Innenstadt. In Richtung des breiten Stroms. Der Fluss teilt die Stadt in einen größeren, älteren Teil, in dem sich Tanner zur Zeit befindet, der traditionell immer der reichere, gebildete, bürgerliche Teil der Stadt war; und in einen kleineren Teil, auf den früher die Bewohner des größeren Stadtteils naserümpfend hinunterblickten. Nur in dem kleinen Stadtteil war früher das Laster angesiedelt. Heute hat sich alles und jedes auf beide Stadtteile verteilt.

      Die Straßen sind wie ausgestorben. Durch die andauernde Hitze der letzten Tage hat die Stadt einen ganz fremden Geruch angenommen. Einen mediterranen goût. Beinahe riecht sie schon wie eine Stadt im Süden. Eine weiße Stadt im Nahen Osten vielleicht. Es ist diese schwer zu definierende Duftmischung aus heiß gewordenem Asphalt, Abgasen, überreifen Früchten, die schon bald vergären, und Abfällen, die zu lange der Tageshitze ausgeliefert waren. Es fehlt nur der Salzgeschmack eines nahe gelegenen Meeres.

      Er muss an Michikos Schicksal denken. Er hat sie ja nicht eigentlich kennen gelernt. Er hat bloß ihren makellosen Köper gesehen und ihn einmal kurz berührt. Und dann hat er ihren Schrecken beim Angstschrei ihrer Kollegin gespürt.


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