"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!". Heinrich Lienhard


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wissen wollte. Der Gedanke, was aus mir werden sollte, wenn ich unter fremden Leuten krank würde, schien ihn sehr zu quälen, und dass ich seinen derartigen Gedanken nicht gehörig Rechnung trug, schien ihm fast Räthselhaft.»68

      Auch spontane Einfälle brachten nicht den gewünschten Erfolg: «Unseren fortwährenden desshalbigen Verdriesslichkeiten müde, meinte ich einst, den Vater damit zu erschrecken und vielleicht gefügiger für meine Amerika-Pläne zu machen, als ich drohte, wenn ich nicht nach Amerika könne, so werde ich heirathen. Aber das war dem Vater eben gerade Wasser auf die Mühle, denn sogleich war er damit einverstanden: ‹Thue das›, sagte er, ‹das ist das Gescheidteste, was Du thun kannst!› Ich sah mein Irrthum sogleich ein und erwiederte ihm, dass ich dazu noch viel zu Jung sei.»69

      Dann kam ihm eines Tages unerwartet ein Bruder des Vaters zu Hilfe: «Nachdem Unkel Peter sich zu uns gesetzt und er einige Worte mit uns gesprochen hatte, wandte er sich plötzlich zum Vater mit der Bemerkung: ‹Bruder, Du zankst Dich immer mit deinem Jungen, nur weil er nach Amerika will. Lass ihm doch sein Willen, und lass ihn gehen! Wenn etwas Ordentliches aus ihm wirdt, wenn er einmahl Dort ist, so sollst Du darüber Froh sein; sollte er aber ein Daugenichts werden, so sei Du zufrieden, dass er so weit von Dir fort ist! Er hat eine gelehrige Hand, er wird wohl wie andere junge Leute dort auch sein Auskommen finden. Bruder Jakob und ich, wir Beide haben je ein Sohn in Amerika, und wir sind es zufrieden. Warum willst Du es denn deinem Heinrich absolut verwehren?›»70 Die Übermacht von Bruder und Sohn scheint Kaspar Lienhard für einen Moment aus der Fassung gebracht zu haben, denn «halb Drotzig, halb Unwillig» wandte er sich an Heinrich mit den Worten: «Nun, wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen! Wenn es Dir dort gut geht, so bin ich auch damit zufrieden!»71

      Nach den erlösenden Worten des Vaters wollte Heinrich Lienhard keine Zeit mehr verlieren. Er wusste, dass sein Nachbar Jakob Aebli schon lange auf einen Begleiter wartete, mit dem er nach Neu-Schweizerland72 in Illinois reisen könnte, wo Verwandte von ihm lebten. Unverzüglich überbrachte ihm Heinrich nun die gute Nachricht, dass sein Reisepartner gefunden sei. Gemeinsam legten sie das Abreisedatum auf den 24. August 1843 fest und begannen mit den Reisevorbereitungen. Aeblis Bruder war in einer Advokatur tätig und organisierte ihre Fahrt bis Le Havre durch die Agentur Rufli in Sisseln, Kanton Aargau. Später sollte sich zeigen, dass dies nicht nötig gewesen wäre: «Ich war damahls wie die meisten Erstlinge oder Grünlinge in solchen Dingen noch sehr Unerfahren. So viel fanden wir indessen spähter heraus, dass wir die Reise von [zu] Hause nach Havre vollkommen so billig und in viel kürzerer Zeit per Post auf viel angenehmere Art hätten machen können.»72

      Die bevorstehende Reise von über zwei Monaten erforderte gute Planung, umso mehr, als sie sich bis nach Le Havre selbst verpflegen wollten und dies auf der Atlantik-Überfahrt von Zwischendeck-Passagieren ohnehin erwartet wurde. «Diese Ausrüstung, wenn sie nach damahliger Idee einigermassen für den Schiffsraum und [die] selbst Verköstigung hinreichend sein sollte, verlangte von 30 bis 60 Pfund Käse, dürre Zwetschgen und dito Kirschen von [zu] Hause aus. Der Käse wurde dann an der Französischen Grenze versiegelt (blumbirt); solch versiegelter Käse durfte erst auf dem Meer angeschnitten werden. Für Federbetten auf dem Meere hatte Jeder auch selbst zu sorgen, dann noch eine küpferne Kochpfanne durfte nicht fehlen. Zwei bis vier vollständige Kleideranzüge, ein bis zwei oder Mehr Dutzend Hemden, ein oder zwei Dutzend Nastücher und wo möglich dito baumwollene und wollene Strümpfe nebst einer Flinte und einer Pistole und vielleicht eine Büchse, um sogleich den vielen Hirschen, Bären, Pänter und Büffel nach Ankunft in Amerika den Gar ausmachen74 zu können, waren durchaus als Nöthig angesehen.»75 Für den Transport liessen sie sich jeder einen grossen, mit Metallbeschlägen verstärkten Überseekoffer anfertigen und mit gelber Farbe ihren Namen darauf malen.

      Zwei Wochen vor der Abreise begaben sie sich nach Glarus auf die Kanzlei, um ihre Pässe abzuholen. Lienhards «Reise-Pass» datiert vom 10. August 1843, und das «Signalement des Tragers» lautet wie folgt: «Alter: 21 Jahre; Grösse: 5 Fuss 8 Zoll; Haare: dunkelbraun; Augenbrauen: item; Stirne: gewöhnlich; Augen: hellbraun; Nase, Mund: mittler; Kinn: rund; Gesicht: oval; Besondere Kennzeichen: keine.»76 Nachdem sie das lang ersehnte Reisedokument sicher in ihrer Tasche wussten, mischte sich auf dem Nachhauseweg sogar ein wenig Wehmut in ihre Vorfreude: «Auf dem Rückweg von Glarus über Mollis nach Hause besahen wir noch unsere romantischen Glarnerberge. Da erhoben sie sich so Majestätisch, und doch sahen sie so friedlich aus an diesem freundlichen, sonnigen Augusttag. ‹Werden wir diese herrlichen Berge wieder sehen?›, fragten wir uns, ‹es ist halt doch schön hier!›»77

      Am 24. August fiel der Abschied vom Vater so versöhnlich aus, wie Heinrich es sich immer gewünscht hatte: «Während meine Brüder Peter und Kaspar meine Reisekuffer hinten auf das Chaisechen78 für mich befestigten, waren mein Vater und ich noch allein im Hause. Wir tranken etwas Wein zusammen und vergaben uns jeden Fehler, welchen wir gegen einander begangen haben mochten. Plötzlich sagte der Vater zu mir: ‹Heinrich, bleibe hier! Ich will Dir gern alle Auslagen ersetzen, wenn Du hier bleibst.› Daran erkannte ich deutlich genug, dass der Vater mich doch noch lieb hatte, woran ich früher so oft zweifelte. Freilich konnte ich seinem Wunsche nicht entsprechen, denn ich sagte ihm, dass, wenn ich auch wirklich wollte, so dürfte ich mich so etwas nicht unterstehen, indem man mich für immer verhönen würde. Jetzt war Unten alles fertig, der Vater wollte mich noch bis Lachen begleiten. Aber aus dem Väterlichen Hause, in welchem ich das Licht der Welt zum Erstenmahl erblickte, in welchem ich meine Kindheit durchlebt und gross geworden durch die gütige Pflege und Vorsorge meiner Eltern, besonders meiner nun modernden, unvergesslichen Mutter, deren Augen ich zudrückte – es that mir doch Wehe, ich mochte mich dagegen wehren, wie ich wollte.»79

      In Lachen stiegen die beiden jungen Männer mit ihren Angehörigen zu einem letzten gemeinsamen Mittagessen im Gasthof Zum Bären ab. Später begaben sie sich zum Landungssteg, wo das Botenschiff nach Zürich wartete, und nahmen Abschied. «Der Vater blieb noch längere Zeit an der Landung stehen», erinnert sich Lienhard, «wahrscheinlich glaubte er, mich zum Letztenmahl gesehen zu haben. Ich schwenkte ihm noch manchmahl mein Nastuch, bis auch er endlich den Platz verliess.»80

      Nach einer unruhigen Nacht auf Heu und Stroh war Lienhard frühmorgens der Erste, der das unbequeme Lager verliess. Selbst die vielen Flohbisse der vergangenen Nacht vermochten seine frohe Aufbruchstimmung nun nicht mehr zu trüben. In Zürich angekommen, besorgte er sich er sich ein deutsch-englisches Wörterbuch, während sich Aebli auf die Suche nach einem Transportmittel für ihre Weiterfahrt Richtung Basel machte, mit gutem Erfolg: Beim Landeplatz der Frachtkähne erklärte sich einer der Bootsleute bereit, ihn und seinen Reisegefährten – als einzige Passagiere – für wenig Geld bis nach Laufenburg mitzunehmen. Ihr Gepäck sowie «einige schwere Stücker Roheisen und eine Anzahl fetter Kälber für die Bäder in Baden»81 wurden eingeladen, dann ging es auf dem langen, spitzen Kahn in schneller Fahrt via Limmat, Aare und Rhein flussabwärts. Am Abend machte man bei einem Gasthof Halt für die Nacht: «In dem Wirtshaus fanden wir noch ganz unerwartet einen unserer nächsten Nachbarn, Friedolin Streif, welcher mit Schabzieger handelte und am nächsten Tag nach Zurzach wollte, welches unweit von Da zwischen der Aare und dem Rhein liegen soll. Durch Streif sandten wir unsern Verwandten noch einmahl Grüsse heim.»82 Am Nachmittag des 26. August erreichten sie Laufenburg, von wo sie mit einem Fuhrwerk nach Sisseln gelangten.

      Hier wartete bereits ein junger Mann von Ruflis Reisegruppe: «Wir fanden bei unserer Ankunft nur ein einziger Passagir von St. Gallen namens Jakob Behler, welcher wie wir Highland83 als das Endziel seiner Reise nach Amerika betrachtete. Behler hatte die selbe Broschüre von Salomon Köpfli über Neu Helvetia84 gelesen wie wir, und seine zwei Brüder und er wurden dadurch ebenso sehr wie Aebli und ich für das neue gelobte Land begeistert, als welches wir Highland dieser Beschreibung gemäss halten mussten. Wir betrachteten uns, als wären wir schon alte Bekannten, und hatten, soviel ich mich erinnere, keine Ursache, späther diese Bekanntschaft bereuen zu müssen.»85

      In den folgenden Tagen trafen nach und nach weitere Reisende ein, vor allem Leute aus den Aargauer Gemeinden Küttigen, Erlinsbach und Frick, darunter viele Familien mit Kindern. Als


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