"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!". Heinrich Lienhard
senkrechten Felsabsatz zu und stürzte über diesen hinaus in die Tiefe. Weinend rief Heinrich zum Elternhaus hinunter um Hilfe, worauf bald der ältere Bruder bei ihm erschien. Er hörte sich die Geschichte an und machte sich dann auf die Suche nach dem Tier, «mich noch versichernd», so Lienhard, «dass ich dafür vom Vater ganz sicher eine recht ordentliche Portion Prügel bekommen werde».6
Der Bemerkung Peters hätte es kaum bedurft, denn Heinrich wusste selbst, was ihn erwartete: «Es war bereits dunkel, als ich unter grossem Bangen unser Haus erreichte, Vater und Bruder waren noch an der Stelle, wo der junge Ochs endlich nicht mehr weiter rollen konnte. Was mir die Mutter vom Vater mich betreffend sagte, war wenig ermunternd für mich. Sie hiess mich in die Wohnstube gehen, wo ich hinter dem Ofen fast mit Todesangst die Ankunft des Vaters erwartete.»7 Dass er an diesem Abend ohne Schläge davonkam und der Vater nur schimpfte, erschien ihm wie ein Wunder; er ahnte wohl, dass er dies der Fürsprache seiner Mutter zu verdanken hatte. Doch auch der scharfe Tadel prägte sich ihm tief ein: «Die Worte des Vaters, er würde mich dem Ochsen nachgeschmissen haben, wenn er dabei gewesen wäre, machten ein unvergesslicher Eindruck auf mein Gemüth, war es mir doch, als ob ich bereits über die Felsen und Abhänge des Lattenzugs hinunter stürze, Hals und Knochen bräche und natürlich mause Tod unten ankomme.»8
Der Zwischenfall hatte ein Jahr später ein Nachspiel, indem sich an derselben Stelle das gleiche Unglück ein zweites Mal anbahnte. Die Worte des Vaters noch deutlich im Gedächtnis, unternahm Heinrich ein riskantes Klettermanöver, um das Tier vor dem Hinunterfallen zu bewahren. Als er später dem Vater davon erzählte und ihm die gefährliche Stelle zeigte, meinte dieser, Heinrich hätte sich wegen des Tieres nicht derart in Gefahr begeben dürfen. Der Knabe erinnerte ihn darauf an seine früheren Worte, «da wurde er noch ernster und besonders still; er sagte mir, dass wier einen Zaun bauen werden, damit dann keine solche Gefahr mehr mir entstehen soll».9 Und mit besonderer Genugtuung erfüllte es Heinrich, als er abends den Vater zur Mutter sagen hörte: «Das war eine rechte Torrheit von mir, dass ich dem Jungen damahls sagte, dass, wenn ich dabei gewesen wäre, als der frühere Stier den Lattenzug hinunter fiel, ich ihn auch mit hinunter geschmissen haben würde. Wäre der arme Junge jetzt tod, so müsste ich mir mein Leben lang Gewissensvorwürfe machen!»10
Für Kaspar Lienhard war es selbstverständlich, dass seine drei Söhne Bauern würden. Für seine Frau und Kinder blieb dies nicht ohne Folgen: «Da mein Vater trotz seinem Zeitunglesen denselben Grundsätzen wie die meisten übrigen Bauersleute huldigte, nämlich: ‹Bleibe im Lande und nähre dich Redlich!›, so meinte er, dass seine Söhne ganz Dasselbe Leben treiben müssten, wie er, sein Vater und sein Grossvater es getrieben, und so glaubte er sich verpflichtet, so viel Land zu kaufen, dass jeder von uns die Bauerei auf ähnliche weise wie er betreiben sollte. Da er aber dieses viele Land nicht alles bezahlen konnte, musste er sich in Schulden einlassen, und nun gab es erst recht alle Hände voll Arbeit.»11 Während der grosse Bruder auf dem Hof zupackte, wie der Vater es von ihm erwartete, entwickelte sich Heinrich schon früh in eine andere Richtung. Er hütete ungern Kühe, liess sich vom älteren Bruder nur widerwillig Befehle erteilen und nahm auch die ihm vom Vater verordneten Arbeiten in Feld und Stall ohne grosse Begeisterung an die Hand. Er war ein neugieriges Kind und ging gerne zur Schule, wo sich schon bald andere Interessen und Begabungen bemerkbar machten. Kaspar Lienhard beobachtete diese frühen Anzeichen von Unabhängigkeit mit Argwohn und war offensichtlich entschlossen, auch Heinrich zum Bauern zu erziehen – wenn möglich durch Arbeit, wenn nötig durch Strafen.
An die harten, oft ungerechten Strafen erinnert sich Lienhard mit bitteren Gefühlen: «Die Jahre vergiengen auf diese weise auf gleichförmige art. Ich hatte bei den gewöhnlichen Arbeiten mitzuhelfen; schon im neunten Jahre musste ich helfen Heu rechen und Grund umgraben, und war ich da nicht so fleissig, wie mein Vater meinte, dass ich sein könnte, so gab es Ohrfeigen in Hülle und Fülle, so dass eines Abends ein Nachbar meinem Vater ordentlich Vorwürfe derwegen machte. Ich erinnere mich noch sehr wohl, dass ich beorfeigt wurde, blos weil ein Nachbar einige (wie mein Vater glaubte) ungerechte Ausdrücke gegen ihn sich erlaubte. Freilich that es ihm gleich nachher wieder recht leid derwegen, aber die Straffe war damit nicht Ungeschehen zu machen, und es war für mich nur ein schlechter Trost, ja ich war schon lange gewöhnt, mich selbst als eine Art Sündenbock zu betrachten, indem ich fast immer nach Vaters Ansicht der allein Schuldige für alles sein musste, wenn etwas nicht gieng, wie er es wünschte.»12
Umso wichtiger war für Heinrich der Einfluss seiner Mutter. Sie versuchte stets zu vermitteln und zu schlichten, und ihre vernünftigen Worte bewirkten oft, dass eine Strafe des Vaters milder ausfiel als befürchtet: «Meine Mutter war eine anständige, brave Frau und gute, sorgsamme Mutter, welche ihre Liebe gleichmässig auf ihre Kinder vertheilte. Sie war viel mehr befähigt, die Eigenschaften ihrer Kinder zu beurtheilen, als der Vater. Wenn sie es für nöthig hielt, konnte sie auch strafen, und ihre Strafe war empfindlich, aber sie versuchte es doch auch mit gütigen Worten und Mahnungen, und diese hatten immer ihre guten Wirkungen.»13
Neben der Mutter fand Heinrich in der Person des Gemeindepfarrers von Bilten einen wichtigen Verbündeten. Rudolf Schuler war ein engagierter Kämpfer für die allgemeine Schulpflicht und ein grosser Förderer des Glarner Schulwesens.14 Dank seinem unermüdlichen Einsatz gab es in Bilten früher als in den meisten anderen Gemeinden des Kantons ein Schulgesetz, das die Eltern verpflichtete, ihre Kinder bis zum 16. Altersjahr zur Schule zu schicken,15 und er sorgte auch dafür, dass es befolgt wurde: «Genaue Absenzenverzeichnisse wurden geführt und die saumseligen Eltern und Kinder erst ermahnt, dann vor Stillstand citirt, und wenn dies nicht fruchtete, gab es auch einzelne Fälle, die der Obrigkeit verzeigt wurden.»16 Während der Pfarrer für die unteren Klassen einen Hilfslehrer einstellte (aber die Aufsicht über alle Klassen vertrat), übernahm er die oberen Klassen der Dreizehn- bis Sechzehnjährigen selbst. Sein Lehrplan umfasste Sprache, Religion, Rechnen, Vaterlandsgeschichte, biblische Geschichte, Geografie sowie Zeichnen und Musik. Rudolf Schuler galt als strenger Lehrer, doch Heinrich verlor seine Angst vor ihm schon am ersten Schultag, als der Pfarrer auf ihn zutrat, ihn nach seinem Namen fragte und für seine ersten Schreibversuche lobte. Er merkte bald, dass der Pfarrer die Schüler, die sich Mühe gaben, freundlich behandelte und nicht überforderte, «er war mehr gegen Nachlässige oder Possenreisser manchmahl etwas scharf, welche es aber auch gewöhnlich wohl verdienten.»17
«Ich machte im Ganzen wenn auch gerade keine riesigen, doch zimmliche Fortschritte in der Schule», meint Lienhard rückblickend, «so dass ich die zwei letzten Jahre meistentheils, das letzte Jahr aber fast Fortwährend der Oberste in der Klasse18 beim Pfarrer war. Geographie, Gegensätze19 und Aufsätze waren mir angenehme Beschäftigungen, und gab es einmal zur Abwechslung Naturhistorische Geschichte, so war ich mit Leib und Seele dabei. Ich gestehe, dass es aber auch Dinge gab, welche ich nicht gern lernte, ja sogar eine art Antipaty dagegen hatte. Eines war Noten lernen, ein sehr langweiliges Geschäft für mich, da ich ja bald jede Melodie nach ein paarmahligem Abhören schon auswendig konnte. Dann war das ortographisch Richtigschreiben mir ganz Wiederwärtig. Ich begreife Heute noch nicht, warum ich mich in diesen zwei Fächern nicht besser befleisste, besonders im Letzten. Gramatikalisch und Ortographisch Richtig schreiben können ist gewiss zu jeder Zeit eine Hauptsache. Dieses wusste ich indessen Recht wohl, aber der Wiederwillen dagegen war leider zu gross, als dass meine Vernunft darüber gesiegt hätte.»20
Pfarrer Johann Rudolf Schuler (1795–1868), Lehrer und Förderer Heinrich Lienhards.
Ungeachtet dieser Abneigung gegen die Orthografie schrieb Heinrich gerne Aufsätze, wobei der Pfarrer ihn nach Kräften unterstützte. Er bedachte die Arbeiten seines Schülers stets mit lobenden Worten und vermittelte ihm dadurch Selbstvertrauen im schriftlichen Ausdruck sowie Freude am Erzählen, Eigenschaften, ohne die später vermutlich weder Reisenotizen noch Manuskript