Die Bargada / Dorf an der Grenze. Aline Valangin

Die Bargada / Dorf an der Grenze - Aline Valangin


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an die offenen Fenster und starrten hinein, schnell von der Heiterkeit gewonnen. Neugierige drängten nach. Bald waren alle Fenster mit Pyramiden von Leuten angefüllt, die kreischend zusahen, wie Bernardo mit größter Ruhe die Fliegen, ohne je eine zu verfehlen oder eine Bewegung zuviel zu machen, eine nach der andern einfing. Er begriff nicht, wie es zuging, er hatte nie geübt, Fliegen zu fangen. Es ist wie beim Bocciaspiel, dachte er, es geht von selbst. Man klatschte ihm maßlosen Beifall, der sich bis auf die Straße fortsetzte. Im Taumel seines Erfolges vergaß er den Hut aus der Heimat, den Riesenmarmel und die Bärin. Er war glücklich.

      In später Nacht, nach viel Tanzen und Singen unter den lampionbehangenen Bäumen des Wirtschaftsgartens, holte er sich bei Teresina den Dank für sein Geschenk.

      II. Zwiespalt

      Als Bernardo ins Alter kam, erhielt er den Befehl, sich zum Militär zu stellen. Die Armini waren keine Soldaten. Sie hatten es immer noch verstanden, sich dem Dienst zu entziehen. Mochten andere sich dazu hergeben. Sie nicht, sie waren dafür zu gut. Bernardo entschloß sich aber, ohne bestimmten Grund, es anders zu halten. Bis dahin hatte er selten der Heimat gedacht. Stiegen in ihm Erinnerungen auf, verscheuchte er sie mit einem Witz. Nun aber, als er das Aufgebot in der Hand hielt und darauf starrte, war es ihm, er schaue in einen Guckkasten und erblicke darin, von Wetterschein ungewiß beleuchtet, die Bargada. Gut denn: das gab Gelegenheit, einmal nach den Alten zu sehen.

      Pfeifend und singend packte er seinen Handkorb und nahm Ab­schied. «Für kurze Zeit, für kurze Zeit!» rief er den Kameraden zu, die ihn zur Bahn begleiteten. Solange der Zug durch die Ebene klapperte, sah er, die Füße von sich gestreckt, die Hände in den Taschen, gleich­mütig Felder sich drehen, auf denen der junge Mais schon hoch stand, Bewässerungsrinnen das Land durchziehen, einzelne große Höfe in ihren weiten Anlagen stehen. Es ging ihn nichts an. Er schälte sich eine Orange und warf die Schalen unter die Bank. An der Grenzstation hielt der Zug lange. Über das Dach des Bahnhofgebäudes ragten Berge auf. Schau, Berge! Schnee lag noch auf den höchsten Kuppen. Frühling! ­Bernardo schnupperte die Luft. Sie roch nach Kohle. Er schneuzte sich in sein frisches Taschentuch. Es wurde schwarz. So ein Dreck, dachte er. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr durch hügeliges Gelände in raschen Kurven dem Gebirge zu. Bernardo stand aufrecht und schaute hinaus. Er reckte den Hals oder zwängte den Kopf durchs halboffene Fenster, um mehr vom Vorüberflirrenden zu fassen. Es ging dem Seeufer entlang, an Dörfern vorbei, die sich immer rascher folgten, durch Tunnels und Schluchten, auf die Höhe, von der aus über üppige Kastanienwälder hin die Mauern und Türme der Hauptstadt zu sehen waren. Sie lag da auf niedrigen Hügeln, vor dem Eingang des Tales, abwehrend, finster und stolz. Da wären wir denn. Er fühlte sich halb schmerzlich, halb freudig bewegt. Der Zug rasselte in Hast den Hang hinunter, als könne er nicht mehr warten, anzukommen. Die Lokomotive pfiff schrill bei jeder Brücke, jedem Übergang, daß es Bernardo in den Ohren gellte. Er nahm seinen Korb, riß die Türe auf und fuhr das letzte Stück auf der Treppe, über das Getrommel und Gehämmer der Räder lachend, barhäuptig im starken Wind.

      Statt auf die Post zu warten, machte er sich zu Fuß auf den Weg in sein Tal hinauf. Je höher er stieg, desto schöner erschien es ihm. Hatte er das alles früher nicht gesehen? Angebaute Felder, Wiesen und Matten, hohes Gras und Blumen, Hügel an Hügel, Gehölz, wilde Kirschbäume in Blust, Tannenwälder, Wasserfälle, die schäumend über Felsen stürzten, Flühe, Gräte, Spitzen hinter Spitzen, darüber ein seidiger Himmel, in dem ein dünnes Mondschiffchen dahinfuhr, und ganz weit oben, inmitten der Herrlichkeit, der grüne Buckel der Bargada. Wo hatte er seine Augen gehabt? Begeistert zog er bergan und gönnte sich vor Ungeduld kaum eine Rast.

      Doch kurz bevor die Straße in die Bocca delle Torre einbog, setzte er sich an den Wegrand. Er überlegte. Sie ahnten zu Hause nicht, daß er komme. Er würde sie überraschen. Auch er würde vielleicht überrascht sein von der Bargada, wie ihn das Tal überraschte, dieses Tal, von dem er erst heute begriff, wieso der Vater in ernstem Tone sagen konnte, es sei das schönste Tal der Welt. Er suchte sich seine Leute vorzustellen, den Vater, die Mutter, die Alte, die Schwester. Er konnte sich kein Bild von ihnen machen, er wußte nicht mehr, wie sie aussahen. Darüber nachsinnend, folgte er mit dem Blick dem Berggrat im Norden. Schau, über dem Kirchturm des Dorfes, der von unten her darauf wies, lag die Frau. Mit gespreizten Beinen und hochaufgewölbtem Leibe, nicht anders als früher, wenn er sie auf dem Schulweg betrachtete und sich über ihr Benehmen schämte. Ein weißer, sehr dünner Schleier deckte sie halb zu. Trotzdem erkannte Bernardo jede Einzelheit: die gewölbte Stirne, den langen Rücken der Nase, die wulstigen Lippen, Kinn und Hals, die schweren Brüste, den kugeligen Leib, von wo aus die Beine sich öffneten – genau so lag sie, wie er sie zum ersten Male sah. Nicht einmal das einzelne Haar, das ihr unter der Nase stand, hatte sich verändert. Bernardo spürte es sauer im Munde aufsteigen, aber das kam vom Sauerampfer, den er gekaut.

      Beim Hause angekommen, trat er ein und stieß die Türe zur Küche auf. Drei Frauen hockten um den Tisch und rührten stumm in ihren Kaffeetassen. Er erkannte nicht sogleich, welche von ihnen die Mutter war, so ähnelten sie einander, so gleich alt sahen sie aus. Alle verrunzelt und grau, mit tiefen Furchen neben der Nase und Säcken unter den Augen, das strähnige Haar wirr um den Kopf. Aus der Herdasche erhob sich eine Katze und machte gähnend einen Buckel. Die Türe zum Keller stand halb offen. Dort hinten tropfte Wasser. Es roch nach Moder und Rauch.

      Die Frauen hielten im Rühren inne und schauten Bernardo an, als wäre er ein zudringlicher Fremder. Endlich rief die Mutter aus: «Nein, er ist es!» Bernardo trat herzu und küßte Detta, die vor Freude schluchzte, auf beide Wangen, reichte der Schwester die Hand – er fand, die ihre fühle sich an wie ein Lappen – und nickte der Alten zu. «Setz dich und trink mit!» forderte Orsanna ihn auf, «und berichte, was dich herführt!»

      «Wo ist der Vater?» fragte Bernardo dagegen. «Im Garten», meckerte die Tante und wackelte mit dem Kopf.

      Bernardo stellte seinen Korb zur Seite und eilte davon, die kleine Treppe zum Garten hinauf. Der Duft der Pfingstrosen stieg ihm in die Nase, so süß, fast widerlich, daß er die Hand aufs Herz drückte. Er ging der Mauer entlang. Die Steine waren warm. Eine Eidechse sonnte sich darauf. Sie guckte ihn pfiffig an und verschwand dann in einer Spalte. Beim Gartenhaus sah er den Vater stehen. Er sprang ihm entgegen.

      «Da bist du ja», sagte Tomaso, ohne die Augen von der Rebe zu heben, die er eben aufband. «Siehst du, sie schlägt aus.»

      Die Männer setzten sich nach der Begrüßung auf die Mauer, den Rücken der Sonne zugekehrt, und schauten schweigend zu den steilen Hängen hinauf. Die Wiesen davor standen voller Blumen, und dort, wo das Gestrüpp begann, loderte gelber Ginster. Der Vater streifte Bernardo mit einem Blick und sagte, stolz und ergeben in einem: «Schöner Tag!» Bernardo nickte. Schöne Bargada, schönste Bargada! Wie lange war er fort gewesen und hatte das alles vergessen! «Bald könnt ihr heuen», gab er zurück.

      «Ja, Arbeit ist genug, es ist nicht das, was hier fehlt», sagte Tomaso mit Bedeutung. Bernardo verstand. Sollte er nun ausrufen, er, er werde mähen? Einen Herzschlag lang glaubte er, es sei getan, er sei wieder zu Hause und fange gleich morgen mit Heuen an. Da rief Orsanna mit schriller Stimme nach den Männern. Die drei Frauen in der Küche fielen ihm ein, gleich alt, gleich häßlich; sie rührten in ihren Tassen, als hätten sie all die Jahre hindurch nichts anderes getan; die gähnende Katze, das Glucksen des Wassers tief im Keller, der Modergeruch … Im Zwiespalt seiner Gefühle würgte er hinunter, was er eben hatte herausschreien wollen. «Wir kommen», rief der Vater. Doch blieb er sitzen und wartete, als könne er damit den eben verflossenen günstigen Augenblick zurück­rufen. Er fand Bernardo verändert, jetzt, da er ihn aufmerksam betrachtete. Aus dem Buben war ein Mann geworden. Noch hatten seine Augen den frühern weichen Glanz, doch verrieten sie mancherlei Erfahrung, die der Vater mehr ahnte, als daß er sie hätte benennen können. Das Haar trug er seitlich kurz geschnitten, auf dem Kopf zu einer welligen Mähne aufgebauscht. Die Nase war die Armininase, groß und kühn. Der Mund aber war fremd. Niemand in der Sippe hatte diese aufgeworfenen breiten Lippen. Die mußte er sich von Mutters Seite her geholt haben. Sonst war er ein ganzer Armini, schloß der Vater stolz die Prüfung, gleich­zeitig bedrückt, daß dieser Armini die angestammte Pflicht nicht übernehmen wollte.

      Im Laufe des Abends


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