Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann
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Foto Ayse Yavas
Dieter Bachmann, geboren 1940 in Basel, 1988–1998 Chefredaktor der Zeitschrift «du», Autor der Romane «Rab», «Der kürzere Atem» und «Grimsels Zeit». Publizist und Herausgeber zahlreicher Sachbücher. Im 0Limmat Verlag erschienen zuletzt der Fotoband «Aufbruch in die Gegenwart. Die Schweiz in Fotografien 1840–1960» sowie der erzählende Essay «Unter Tieren».
«Dieter Bachmann hat ein monumentales Werk geschaffen.» Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung
Dieter Bachmann
Die Gärten der Medusa
Roman
Limmat Verlag
Zürich
Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, allzu tief in das Medusa-Antlitz der Geschichte zu schauen: in diesen Zorn, den Tod und unendliches Leiden. Das ist keine Drückebergerei. Im Gegenteil. Unsere Abneigung, uns versteinern zu lassen, entspringt genau dem, was das Leben erträglich macht: dem, was uns der Glaube sagt, unsere poetische und utopische Fantasie, unsere moralischen Ideale, unsere metaphysische Einbildungskraft, unser Geschichtenerzählen, die künstlerische Verwandlung der Wirklichkeit, unsere Leidenschaft für Spiele und unsere Freude an der Natur.
Robert Pogue Harrison, Gardens,
An Essay on Human Condition
Expedition
Die bauen ein Schiff, ein großes. Einen Ozeandampfer. Es kommen nur Gärten an Bord. Mit ihnen deren Hüter, die Gärtner. Und ein paar von denen, die gern in Parks, Alleen flanieren, atmen, Bäume lieben – und sich ihnen anvertrauen, den Gärtnern, den Gärten und dem Schiff.
Einzelne Personen an der Reling sind zu sehen, sie stehen allein und zu Gruppen auf verschiedenen Decks, manche am Heck schauen zurück. Ein Kleiner, im Blaumann, lächelt von fernher. Eine Frau, hochaufgerichtet, auf ihrem riesigen Hut wachsen Blumen. Man sieht Gehröcke, einen Schillerkragen. Jeans.
Da, ein Imker. Oder ist es eine Dichterin, mit einem Schleier am geschmückten Hut? Dort ein robuster Reisender im Khaki, mit Vollbart. Einer, ein Schmaler, im weißen Turnerleibchen: mit langen weißen Turnerhosen. Personen aus verschiedenen Zeiten, manche nur undeutlich, ein anderer fällt auf mit Turban und arabischem Umhang aus Seide. Einer wie Karl Marx, von der Reling aus sucht er den Horizont. Einem Kind ist die Gärtnerschürze zu groß.
Einer sieht aus wie ein trauriger Prinz. In einem maßgeschneiderten Zweireiher aus feinstem Kammgarn steckt er und fühlt sich nicht angezogen. Nackt, wie der makellos gezogene Scheitel im dünn gewordenen Haar: ein ewiger Junge, nicht zum Leben gekommen. So einer wäre lieber Gärtner geworden.
Ein Eremit wohnt mit den anderen und hat doch vor seiner Kabine ein Gartengespinst, in das keiner eintreten soll.
Sie alle wohnen mittschiffs, in kleinen, spartanisch eingerichteten Kabinen mit einem einzelnen elektrischen Licht, einer Birne, die im Rhythmus der Maschinen heller und dunkler wird. Die Kabinen fordern sie auf, durch das Schiff zu streifen. Sie durchwandern seine weiten Räume, riesige Hallen. Die Decks: sind Gärten, Parks, dichte Alleen mit Platanenlaub, grün das ganze Schiff, alle Arten von Grün, und Laub aller Größen, und Blumen. Es gibt lichte Wälder da, und Savannen, Flussläufe, der Mann im weißen Turnerleibchen winkt aus seinem Faltboot. Da ist heiliger Hain. Die zum Licht gewendeten Außenkabinen sind Gewächshäuser.
Stehen Statuen, hängen Bilder von den Frauen, die man immer vergisst, den Gärtnerinnen? Überhaupt, ist der große Speisesaal mit Gartenbildern vollgehängt? Mit den dunkel vergrünenden Tiefen eines Parks? So wie umgekehrt in Wilds kleiner Bar in Paris, Rue Vavin, auf festestem Festland, die Fotos von der alten Queen Mary hängen? Das Gruppenbild lachender Menschen im Speisesaal Erster Klasse?
Von der hohen Kommandobrücke sieht man bis Rom, nach Paris hinein und nach Polen hinüber; der Riesendampfer fährt durch Kanäle, die auf beiden Seiten blühendes Land zeigen, Felder und Hügel; er nimmt Kurs aufs Nordmeer, schifft durch die Barentsee, schiebt Packeis beiseite, erreicht die Beringstraße. Und dann?
Auf einem hohen Hinterdeck wachsen regelmäßig große, bekrönte Bäume, die Stämme werfen Schattenstreifen auf den hellen Sandboden. Eisenstühle stehen verstreut, niemand sitzt. Zwischen den Stämmen geht ein kleiner zarter Mann, alt und alterslos, in sich gekehrt. Arm würde man ihn nennen, oder besitzlos vermuten, in seinem abgetragenen, dunkelbraunen Pullover unter dem Kittel, wäre nicht die große Welle starker Haare, dunkelblond und grau meliert und aus der Stirn nach hinten gekämmt: der Haarbusch, der Schopf, der Wiedehopf, eine Widerstandsbehauptung. Fürstlich.
Auf allen Decks aber, an der Reling, steht eine schöne Frau, immer dieselbe, nur ist sie da noch jung, hier älter geworden; hier hat sie zwei Kinder an der Hand, dort steht sie mit Sonnenbrille und Kopftuch allein: einen gefleckten Hund neben sich.
Im Speisesaal sitzt man unter Bäumen, auf Gras, auf das die weißleinenen Tischtücher hängen, ein Wind geht auch. In der Bar Zur Erinnerung regnen Blüten. Musik aus dem Ballsaal, mit seinen Glasfenstern zum Himmel, Vögel in den Zweigen. Berühmte Schauspieler, die berühmte Schauspieler spielen, spielen berühmte Schauspieler. Hinter ihnen läuft der Film über die Reise des Schiffs durch das ewige Eis. Das schmilzt.
Keime werden gezogen in der Küche, Stecklinge gesteckt in den Vorratskammern. Die Wassertanks bewässern das Schiff von oben nach unten, da sammelt sich das Wasser im Kiel.
Da unten aber schuftet eine Bande von Ungeheuern, sind es Menschen? Man sieht ihnen die Wälder an, aus denen sie gekommen sind. In zottigen Tierfellen stehen sie, die Geschlechtsteile hängen auf ihre Knie, mit Zahnlücken im groben Gebiss, grausigem Bartwuchs, waldschrattigem: Wilderer, erfahren darin, den Vögeln den Hals umzudrehen und mit Giftbällen die Hunde der Jäger zu vergiften. Brandstifter und Brandschatzer. Maulhelden, Wortbrüchige, Lügner und Betrüger. Vor die Kessel gestellt, schaufelt die Bande bis zur Erschöpfung ihre vor Aberjahrtausenden versteinerten Wälder ins Fegefeuer. «Und werden das Licht nicht mehr sehen», steht geschrieben, «auch nicht an dem Tag, an dem das Schiff sich neigt und über den Bug in den Wassern versinkt, und an Deck sich noch einmal alle umarmen.»
Das Schiff läuft aus vom letzten Hafen, dem der Umnachtung; es hält Kurs auf die Helle der Nacht.
Wild.
Drei Reviere des
Flaneurs
Bäckeranlage mit Borbakis
Kaum im neuen Stadtteil angekommen, die Straßen noch unbegangen, geschweige denn vertraut, noch keineswegs eingerichtet in der neuen Wohnung und noch lange nicht bereit, den Tratsch an der Ecke aufzunehmen, traf Wild auf Borbakis.
Kannte ihn von früher. Nicht besonders gut. Man war im selben Milieu junger, aufstrebender, eingebildeter Möchtegernkünstler gewesen, eine biografische Streifkollision. Erinnerte sich sogar an den Vornamen. Nikos. Ein Typ vieler Begabungen, Tausendsassa, in allem verdammt geschäftig, in keiner Sparte außergewöhnlich. Griechischer Abstammung.
Den Namen hatte er vom Vater. Von seiner italienischen Mama die Schwammigkeit, mit der er auftrat: ein Menschenpudding. Krause Fantasie, genau wie der Haarkranz, den die Griechen um den Kopf herum haben. Ein Champion der Ungenauigkeit. Weltmeister des Ungefähr. Das wusste Wild nun wieder, sofort.
Sie standen an einer Straßenecke. Die Häuser bildeten mit ihren Übereckfassaden ein der Kreuzung eingeschriebenes Quadrat. Über ihnen ein schmaler Balkon, Blumentöpfe. Wild wollte weiter, ging solchen Begegnungen instinktiv aus dem Weg, wollte nicht aufgehalten werden durch Bekannte, wollte niemanden kennenlernen und niemanden wiedersehen. Warum fiel von dem Balkon kein Topf auf Borbakis’ Schädel?
In der Schweiz aufgewachsen. Es bleibe ihm, sagte er jetzt ungefragt auf Wilds Trottoir, und er sagte schon immer alles ungefragt, es bleibe ihm bei allem Dazugehören doch immer ein Gran des Fremden, ein Millimü, das ihn nicht ganz heimisch werden lasse, etwas, was er das Peloponnesisch-Widerständige