Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann

Die Gärten der Medusa - Dieter Bachmann


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sie war nicht willenlos gewesen, nicht Opfer, gar nicht, nur eben angesäuselt, hatte ihn mitgeschleppt, an der Hand die Treppe hoch, wenn er sich richtig erinnerte, und er war ihr Liebhaber. So ist das, Herr Portier!

      Wild hatte den Kragen des Regenmantels hochgestellt, übermütig. Prall mit neuem Atem, mit Elixier, grader geworden, ein Mann. Federnd ging er die Straße entlang, in einen Tag, wie schon lange keiner mehr, so schien es ihm, gewesen war.

      Lange her.

      Im Grunde unterscheidet uns wenig von den Männern dort auf den Bänken, sagte er zu Borbakis. Ein bisschen Seife am Morgen. Wir wechseln die Kleider vielleicht öfter. Aber wir sitzen mit ihnen auf derselben Bank, im selben Warteraum. Wir haben vielleicht Hemmungen, die sie nicht mehr haben. Die trinken schon am Morgen, während wir uns gegenseitig versichern, dass wir erst am Abend damit anfangen. Um dann doch schon um drei in der Schweizer Weinstube zu sitzen. Uns sieht man unsere geheizten Wohnungen an und unsere Behauptung, wir hätten noch etwas Wichtiges zu tun. Hast du es gehört, Borbakis, das noch?

      Borbakis sah in sich hinein.

      In dem noch ist die letzte Grenze auch schon eingezeichnet, nicht wahr? Die dort gehen ehrlicher damit um. Sie sitzen, die Bierbüchse in der Hand, vor ihrem Ende und schauen ihm ins Auge.

      Der hörte nicht zu. Borbakis mit seiner kubanischen Zigarre, nach proletarischem Muster ein Vorschuss auf das Glück der klassenlosen Gesellschaft, war schon wieder bei den letzten Fragen, oder denen, die er dafür hielt. Ob man unter Umständen, die später gesellschaftlich ausgeglichen würden, nicht sofort das Recht habe auf seine Neurosen? Und sonst noch auf dies oder jenes?

      Was sollte Wild sagen? Pascals Wein, ein südfranzösischer Syrah, hatte ihn zunächst aufgestellt, dann aber träge gemacht.

      Hast du dir schon überlegt, wie du begraben sein willst?

      Wild schaute Nikos an.

      Oder wo? Oder ob überhaupt?

      Ein Flugzeug flog über ihnen vorbei, so unangenehm bedeutungsvoll wie in einem Film von Ingmar Bergman. Westabflug in Kloten. Sie schauten nicht auf.

      Er nämlich, Borbakis, bitte darum, seine sterblichen Überreste, er sagte «sterbliche Überreste», nach Torcello zu bringen. Torcello, wiederholte er etwas lauter, du weißt schon, dort bei Venedig, die Insel mit der Kathedrale, Santa Maria Assunta. Du kennst doch das Mosaik, Madonna Theotokos?

      Was für ein Angeber war das.

      30000 Einwohner nach der Besiedlung durch die Veneter im fünften Jahrhundert, heute vielleicht noch fünfzig. Verlandet, versumpft, halb versunken das moorige Inselchen, schon am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Und gerade deshalb ein traumhafter Ort, reine, märchenhafte Schönheit nur dreißig Vaporettominuten von dem Gewimmel Venedigs. Ein Ort, an dem die Zeit schon vergangen ist.

      Dorthin mit meiner Asche, sagte Borbakis, fein gemahlen, in die Locanda Cipriani; ich war dort einmal für einen Augenblick lang glücklich.

      Ich verfüge, es ist mein letzter Wille: Mein pulverisierter Astralleib ist in die dortigen Salzstreuer umzufüllen, auf dass ich post mortem den guten, wenn auch nicht exzellenten Gerichten der Locanda zu mehr Geschmack verhelfen möge und ich auf diese Weise, im Darmverlies der über Burano auf die Fondamenta Nuova zurückkehrenden Ausflügler, und, bei ihrer Abreise – in Venedig bleibt ja keiner länger als ein, zwei Nächte – über die Lagune hinaus in alle Himmelsrichtungen reisen werde, wo, wenn dann immer noch etwas von mir da ist, und die Theorie weiß ja, dass nichts auf Erden je verloren geht, ich mit den entsprechenden Wassern den Weg schon selber weiter finden werde, weiter und weiter.

      Der Meienberg, der Paris-Fan, erinnerst du dich?, der hat sich in die Seine einstreuseln lassen. Das war ähnlich, wenn auch kürzer gedacht.

      Ja, Paris, sagte Borbakis jetzt. Nur noch vier Stunden entfernt, vier Stunden und drei Minuten.

      Wild sagte nicht, was ihm auf der Zunge lag. Viel zu nahe für seine Sehnsucht.

      Paris, Paradis. Für mich so etwas wie der Siebente Himmel, sagte Borbakis.

      Wild sah gleich das Kreuz auf Sacré Cœur und die Blitzableiter auf der Tour Eiffel und die Seine, wie sie über die Spitze des Île de la Cité herunterkommt, und den Fahnenmast auf dem Arc de Triomphe und die Himmelszeiger seines persönlichen Walhalla, die Fernsehantennen auf den Dächern rund um sein Hotel im Quartier Latin, an der Kreuzung Rue de Fleurus und Rue d’Assas, in dem er, im Herzen der graublauen Großstadt, das oberste Stockwerk, das sechste, das Mansardengeschoss, blechgedeckt, zu beziehen gewohnt war, Aussicht in das geliebte Taubengrau der Dächer.

      Und was willst du dort, mein Lieber?

      Da kam es auch schon. Er sei seit einiger Zeit mental beschäftigt mit dem Auf-, Ausbau einer Bibliothek jener besonderen Geister, der erlauchten Caféterrassenbewohner und Boulevardflaneure, der literarischen Parisbewohner.

      Lauter fantastische Typen.

      Er sagte «fantastische Typen», Wild schauderte, verträgt diese Art von Annäherung nicht gut, das Ranschmeißerische, hasste es auch, wenn einer Berühmtheiten beim Vornamen nannte, Fritz sagte, statt Dürrenmatt.

      Um das «Fest des Lebens» gehe es, sagte Borbakis, wie Hemingway geschrieben habe. Paris damals, und vor allem für die Amerikaner, die Essenz des Lebens, die Bouillon, der Brodo. Er stockte; das griechische Wort dafür fiel ihm nicht ein.

      Alles gute Freunde, diese Fremden, diese Zuzüger, diese Vorbeistationierer, wie es einer von ihnen genannt habe, meinte er, alle versammelt in der, nun ja, Bibliothèque Borbakis.

      Wild baff.

      Er setze sich noch einmal, spät im Leben, ein Lebensprojekt, sagte er großspurig.

      Borbakis hob die Stimme und sprach in Majuskeln: Mit ungewissem Ausgang! Nur weg von hier! Sammler, Erforscher, Kenner, Koryphäe wolle er werden auf dem Gebiet der literarischen Immigration nach Paris, und zwar in den Jahren 1930 bis 1960, den fruchtbarsten Jahren.

      Er fuchtelte mit Ausrufezeichen.

      Borbakis war einer von denen, die ständig lauter werden, wenn sie unterstreichen wollen, wie wichtig das ist, was sie sagen.

      Sein zukünftiger Stadtplan, das heiße der Plan, den er mit Paris vorhabe, mit dem er Paris überziehen werde, sein Plan Borbakis, er wolle die Wege und Wohnungen der Exilanten in Paris erforschen und dokumentieren, eine in die Literaturgeschichte vertiefte Landkarte der Heimatlosen in ihrer Wahlfremde. Die Engländer, die Iren, die Rumänen, die Amerikaner, Hemingway, Stein, Fitzgerald, Miller. Das ist Musik, was!, sagte er begeistert. Was findest du, he? Von Cioran zu Beckett, von Joyce zu Simenon.

      Warum kannte dieser Borbakis den Namen Cioran? Wild war verblüfft; Nikos’ Havanna und jener eisige Philosoph, wie passte das zusammen?

      Triumph sprach aus dem Elvetikos, Triumph über diese Entdeckung eines Spezialgebiets, das das reine Vergnügen versprach. Das alles aus diesem Bartgesicht, dieser verhaarten Bedeutungsmaskerade, er sah wohl auch schon den dazugehörenden Lehrstuhl zu seiner Bibliothek, als Komparatist an einer Pariser Uni; unter der Sorbonne würde der es nicht machen wollen.

      Und niemand, der ihm das Fachgebiet streitig machen würde. Wirklich niemand?, fragte sich Wild. Inzwischen brütete im übervölkerten Wissenschaftsbetrieb doch über jedem Furz schon ein spezialisierter Hintern.

      Nur, an seinem Thema schien etwas dran zu sein. Eine Bibliothek, ein Literaturausschnitt, eine größere Lektüre mit einem inneren Zusammenhalt, den es zu beschreiben gelten würde, ein literarisches Feld, das auch nicht zufälliger wäre als ein anderes, Spätromantik oder Frühmittelalter …

      Der Park war wirklich sehr schön geworden. Es begann zu dunkeln. Die alten Bäume mit ihrem hoch oben raschelnden Laub. Die Wiese, auf der noch ein paar junge Leute lagerten, Ball spielten; der Pavillon, vor dem man in Ruhe ein Bier trinken konnte. Ein Ort ohne Gedächtnis. Einer, den Wild mit keiner Geschichte, und also auch keinem Makel verband.

      Ob er die


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