Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann
Fenster gesehen hatte, nahm er einen Zettel und machte eine Liste. Er hatte immer gern Listen gemacht. «Alterszeichen» schrieb er, darunter «Ungefragte Antworten».
«Zum Arzt gehen und sich gegen besseres Wissen darüber freuen, gesundgeschrieben zu sein / Träume vom Zerfall / Sich im Traum nicht an ein Gesicht erinnern können und auch beim Aufwachen nicht dazu fähig sein / Immer müde / Nie mehr nach China wollen (resp. müssen; können schon) / Schlafmittel, Schlaflosigkeit / Desinteresse am Interesse / Schmerzen, wandernd am ganzen Körper, wie Zugvögel, die einen Winterplatz suchen / Briefe werden nicht mehr beantwortet / Freunde verschwinden, ohne zu sterben / Sexträume bei dauerhafter Sexabsenz / Autofahren aufgeben wollen und nicht aufgeben / Keine neuen Leute kennenlernen wollen / Lebens-Bilanzen (solche Listen) / Zunehmend Tote um sich / Eisenbahn: Wechsel in die Erste Klasse / Immer bessere Rotweine / Ärzte nun alle jünger als der Patient / Jüngere Freunde / Hautflecken, Hände und Gesicht; Warzen, Muttermale, Basalzellkarzinome, Plattenepithelkarzinome; Gesäßfalten; Nagelpilz / Die Frage ‹Was ist alt?› / Die Welt vorstellbar ohne mein Ich / Dankbar sein / Ordnung machen ohne Notwendigkeit / Häufiger Gebrauch des Worts «hinterlassen» / Nachts pinkeln müssen / Zärtlichkeit für Tiere / zunehmend Erinnerungen an die Eltern / Waldspaziergänge zunehmend / Angst.»
Wild war zehn Jahre älter, als Hemingway gewesen war, als er sich die Kugel in den Kopf geschossen hatte. Aber Wild wollte nicht aufhören. Es war nicht genug gewesen. Noch nicht, noch lange nicht.
He da, Contrescarpe, mir gehörst du jetzt! Die Bäume reckten die ausladenden Äste über die Sitzbänke.
Warum übernahm er nicht Borbakis’ Idee? Warum sollte nicht er sich für Hemingway interessieren? Warum nicht sich an Joyce erinnern? An Stein und Toklas? An Pound, Ford Madox Ford, an Anderson, Scott Fitzgerald. Und Hadley? Und Zelda? An eine andere Zeit denken?
Älter werden als Chance. Sogar Herausforderung. Wild sah auf die altmodische Normaluhr zu seiner Rechten, es war zwanzig nach zehn.
Als der Garçon vorbeikam, ein junger Typ in Cashmerepulli und Jeans, kein schwarzes Gilet und lange, weiße Schürze, bestellte er ein Bier. Un demi, une bière pression, s’il vous plaît. Vögel bewegten mit ihrem hastigen Hin und Her die violetten Blütenzweige mit den runden Blättern. Judasbaum, jetzt war Wild sicher. War das nun dasselbe wie Jacaranda?
In Zürich, in der «Jägerburg», hatte Wild sich kürzlich mit seinem alten Freund Diego getroffen. Wie Ziffel und Kalle in Brechts «Flüchtlingsgesprächen», zumindest kam es Wild so vor, sprachen sie hin und wieder über dies und das, über Beiläufiges und Essenzielles, Bücher, Philosophie, Sterben und Tod, auch darüber. Sie tranken ein paar Biere, während sie über Dinge sprachen, die niemand anderen etwas angingen und über die sie mit niemand anderem sprachen. Sie kannten sich seit Jahrzehnten, und viele Jahrzehnte hatten sie sich, ihre Wege verfolgend, nicht gesehen. Umstände und Alter hatten sie wieder zusammengeführt, älter geworden, nicht alt, beide seit Jahrzehnten mit der gleichen Frau verheiratet, und beide so, dass sie ihr Eigenes behalten hatten. Zum Beispiel an solchen Nachmittagen, beim Cardinal.
Über getrennte Wohnungen sprachen sie, jedenfalls eigene Schlafzimmer.
Muss sein! Da waren sie sich einig.
Zu mehr brauchte es, das gaben sie zu, eine besondere Gelegenheit, eine Alphütte, ein Luxushotel, eine andere Stadt.
Wild hatte Diego von Helen erzählt.
Warum schläfst du denn nicht in meinem Bett, bei mir, habe Helen ihn kürzlich gefragt. Und dazu gesagt: Eines Tages, wenn ich tot bin, wirst du meine Wärme vermissen.
Das habe ihn umgehauen. Ob man so etwas dem anderen überhaupt sagen dürfe?
Am andern Tag habe er Helen gestellt: Das darfst du nicht noch einmal zu mir sagen, habe er gesagt.
Und?
Helen habe nur mit den Schultern gezuckt, ihren immer noch schönen, festen, unter dem dünnen Pullover sommersprossigen Schultern: Das liege allein an ihm.
Als ob er, sagte Wild zu Diego, nicht schon die ganzen langen Jahre über, eigentlich, wenn er’s überlege, von Anfang an, den Augenblick herbeigefürchtet habe, an dem sie sterben könnte. Immer schon habe er vor ihr sterben wollen, und das sei etwas von dem wenigen, was sich nicht verändert habe.
Das war die Konstante, Diego: die Angst, Helen zu verlieren. Um dann mit der Schuld, oder wenn du willst: der Gewissheit zurückzubleiben, sie nicht genügend geliebt zu haben. Mit anderen Worten, sie immer nur enttäuscht zu haben. Als sei von ihm irgendwie zu wenig für sie da gewesen.
Das habe auch angehalten in den Zeiten, in denen sie getrennt waren, vielleicht am meisten in diesen.
Diego hatte genickt.
Ja, hatte er gesagt. Mir geht es nicht viel anders. Ich meine, was das Gefühl betrifft, ihr nicht gerecht geworden zu sein.
Hör bloß auf, sagte er, auch ich habe da viel zu büßen.
Sie. Die Eine, die einem anvertraut gewesen war, dachte Wild. Er dachte das merkwürdigerweise im Plusquamperfekt. Vielleicht meinte er einen Konjunktiv: anvertraut gewesen wäre. Und das «wäre» würde heißen: Lebensgeschenk nicht eingelöst, Chance vertan. Vertan ist mehr als verpasst, er könnte auch sagen verschleudert, veruntreut, verraten.
Nicht genügend lieben zu können, das fürchtete er doch schon, bevor er sich verliebte. Jedes Mal. Einmal nicht. Als er dann Helen kennenlernte. Was heißt kennenlernen?
Das gehörte zu der damaligen Verliebtheit, die er Liebe nennen durfte, dass er ihr zu genügen glaubte. Er hatte noch nie diese Sicherheit gehabt, dass es nun endlich, und für alle Zeiten, diese war.
Daran hielt er fest, als es schlecht ging, und davon ist er noch heute überzeugt.
Das heißt leider nicht, dass Wild das damals, dass er es überhaupt rechtzeitig begriffen hätte. Die drei großen G, die Ganz Großen Gefühle, schwanden auch wieder. Nicht, dass es verloren gegangen wäre. Aber es verbarg sich hinter so etwas wie zum Beispiel ihren zunehmenden Uneinigkeiten.
Beide hatten vor ihrer Beziehung selbständig gelebt. Keiner von beiden wollte von den Gewohnheiten etwas abgeben, jedenfalls nicht er, Wild.
Er war stolz auf sie und sagte es Helen. Das wollte sie nicht hören. Mit seinem Stolz konnte sie nichts anfangen. Was wollte sie denn? Ihn. Mit Haut und Haar?
Er konnte sich nicht bedingungslos einlassen auf sie. Das verdichtete sich später bei ihr in einen einzigen kurzen Satz: Du bist nicht bei mir! Und in dessen Variationen: Du bist nicht da, wenn du bei mir bist.
Er war also Helens Liebe nicht gewachsen, er hatte selbst nicht so viel davon, das wars.
Mit Diego besprach er solche Dinge, in der «Jägerburg», übrigens nur mit Diego.
So etwas führte sie immer gleich wieder zu Beckett.
Wild: Wo genau, Diego, steht bei Beckett dieser Satz: «Rittlings über dem Grab werden wir geboren, der Tag erglänzt einen Augenblick …»?
Wollte Wild damit sagen, angesichts der Kürze und der Einmaligkeit des Lebens könne man sich eine solche Liebesverschwendung gar nicht leisten?
Diego, der den halben Eichendorff auswendig konnte, der der letzte war, der noch Hofmannsthal las, sonst nur bei Lacan zu Hause war und weiter oben in der Philosophie, wo Wild nicht mehr hinaufsah, Diego zitierte ohne weiteres: «Le jour brille un instant, puis c’est la nuit à nouveau.»
Trümmer, sagte Diego, es gibt nur Trümmer.
Er zitierte. «Stechpalmenbeerenpflücken, sagte sie. Die roten. Sei wieder auf dem Hügel, an einem Sonntagmorgen, im Nebel, mit der Hündin, bleib stehen und lausche den Glocken.»
Sei wieder auf dem Hügel, an einem Sonntagmorgen, im Nebel, wiederholte Wild, leise.
Zeit verging. Die Serviertochter hinter dem Tresen las in einer Zeitung.
Merkwürdig, sagte Diego.