Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann
die real existierende «Normandie» und all die Modelle von ihr bis zu Catherine Anne Porters «Ship of Fools», das keinen Namen hat; die schreckliche «Tirpitz» und das Balsafloß «Kon Tiki». Fellinis «Rex» und sein Dampfer in «E la nave va» – wie heißt er denn?
Die Schweizer im Anhang, «Rapperswil» und «Stadt Zürich»; die Blüte des vierwaldstättischen Dampferwesens, «Wilhelm Tell», «Gallia», «Rütli», «Winkelried» und «Stadt Luzern», wenn denn Süßwasserkähne überhaupt erlaubt wären, als Minima Helvetica wenigstens und wegen ihrer Bordrestaurants und Salons. Die «Medusa» samt ihrem Floß, ein Segelschiff, das scheiterte und sein Rettungsboot, das der Toten und gleichzeitig das der 68 Überlebenden, die an die afrikanische Küste kamen. Die «Argos», Medusas Vorläufer, die «Flying Dutchman», und die Gewinner, «Santa Maria» und die «Nieuw Hoorn». Mit einem Sonderdossier über die Arche, na klar, die namenlose Arche.
Die «Biblioteca Theodoriana», vielleicht auch einfach die «Neptuniana» genannt, der Eingang von einem Meeresanrainer, dem Barcelonesen Calatrava gestaltet, als Dampfer-Bug aus Metall und Glas. In ihrem Lesesaal mit der Aufsichtskanzel als Kommandobrücke – an der Wand als Großgemälde und Zentralmetapher Fellinis Filmbild von der vorüberziehenden «Rex», dem Dampfer und den Menschen in den Booten, die zu ihm hinüberwinken –, im Lesesaal würden die Bücher aufliegen, eine nautisch-mariniere Präsenzbibliothek, Auswahlprinzip Wilds Wünsche. «Moby Dick» selbstverständlich, in allen erreichbaren europäischen Ausgaben, auf dem Index aber alle amerikanischen, da die Amerikaner nicht fähig gewesen waren, das Buch bei seinem Erscheinen auch nur im Entferntesten zu würdigen, obwohl es doch die große Meeres-Saga einer nur bedingt seetüchtigen Nation darstellte. Alles von Joseph Conrad, Mirakuli wie Michael Ondaatjes «Katzentisch», und selbstverständlich auch Corréards und Savignys Bericht über Untergang der französischen Fregatte «Méduse» und das Schicksal ihres Floßes.
Schön das, dachte Wild, gut, dass er sein Perrier immer noch nicht bezahlt hatte. Hier, in diesem Lesesaal, in diesem dem großen Salon der «Normandie» nachgebildeten Art-Déco-Lesesaal würden einige der Werke geschrieben werden, die bis heute zu fehlen scheinen:
«Es wird Nacht in den Tropen. Kulturgeschichte eines Mythos.»
«Ablegen. Eine Phänomenologie des Abschiednehmens.»
«Die Ufer bei Joseph Conrad: Das Meer und seine hängenden Gärten & Promenaden.»
«Titanikisch Untergehen. Die Katastrophe als Sehnsucht und Sehnsuchtserfüllung.»
Es reicht wieder mal, Wild! Wild hatte Helens Stimme sofort im Ohr. Ihm wäre allerdings noch einiges in den Sinn gekommen.
In der Mitte dieses Lesesaals, erhöht und in einem Glaskasten, stünde das Boot der letzten Überfahrt. Jedenfalls nannte Wild es so.
Wild hatte es am Tag zuvor hier in Paris gesehen. Es stand in einer Vitrine in dem neuen, von Jean Nouvel direkt an die Seine gebauten Quai Branly, stand also an einem Weg zum Meer, stand in der Ozeanienabteilung des Musée des arts et civilisations d’Afrique, d’Asie, d’Océanie et des Amériques, einer hinreißenden Sammlung, die Wild jedem empfahl, von dem er hörte, er reise demnächst nach Paris.
Obwohl ich Anthropologe bin und ihr mir gerade deswegen misstrauen werdet – geht an den Quai Branly, um Gottes willen.
Das Boot war aus einem einzigen Baumstamm gehauen und an die zwei Meter lang. Die geschwungene Form des Nachens glich einem schmalen Halbmond, der auf dem Rücken lag, so wie bekanntlich in den Tropen auch die Sichel des Mondes als Barke über den Nachthimmel gleitet. In der Mitte des Bootskörpers war eine rechteckige Öffnung ausgespart; in dieser lag ein bleckender Schädel, die Augenhöhlen zum Bug hin gerichtet.
Südsee.
Der Nachen hatte der Überfahrt von diesem Leben in ein anderes gedient. Dieses Leben war nur ein vorübergehendes, auf der andern Seite der See aber warteten die Geister der Ahnen, die, wie diese Seele hier, unsterblich waren. Die Insulaner gaben der Barke mit der Asche des Verstorbenen einen Stoß. Sie trieb aufs Meer hinaus und verschwand, entkam für immer, denn sie fuhr mit ihrem Passagier in eine andere Zeit, in einen andern Raum.
Wild war sitzen geblieben. Es spürte die Eile nicht, die ihn sonst immer weitertrieb, mahnte, obwohl er keine Eile hatte. Das Perrier war ausgetrunken. Sollte er sich, an diesem historischen Ort der Trinker und Chômeurs, nicht ein Glas Weißwein bestellen?
Der Kellner stand mit dem Rücken zu ihm. Als er sich umdrehte, übersah er Wilds erhobene Hand. Dann drehte er sich wieder weg. Wild, ein Gaststättenduckmäuser, wagte nicht, zu rufen.
Monsieur!, das hätte genügt. Aber sein «Monsieur» hätte keine Ausrufezeichen gehabt. Er hätte das gar nicht fertig gebracht, diesen einfachen Ton, der einen französischen Kellner in Bewegung setzt.
Garçon, konnte der Franzmann neben ihm sagen, halblaut bloß, und sofort rief der weit entfernt einen Tisch wischende Kellner: J’arrive!, Monsieur. Wilds «Monsieur?» tönte wohl so ähnlich wie «Lieber Herr Kellner, würde es Ihnen wohl etwas ausmachen, einen Augenblick zu mir herüber zu kommen; ich möchte bloß zahlen, Sie müssen mir nicht noch einmal etwas bringen, bitte sehr, bitte die Störung zu entschuldigen, gewiss haben Sie, und grad in diesem Augenblick, Wichtigeres zu schaffen …»
Die Contrescarpe lag nun im vollen Licht des Juni. Ohne dass Wild weiter etwas gesagt hätte, kam der Kellner an seinen Tisch.
L’addition, Monsieur?
Es ging gegen Elf. Alle Dunkelheit von damals vertrieben, ausgelüftet, verweht. Der Wohlstand, also Geld. Das neue Europa.
Wild bestellte nun doch noch ein Glas Weißwein.
Paris war eine dunklere Stadt gewesen, nicht nur nachts, als es noch finstere Gegenden gab hier, im historischen Zentrum. Es schien auch tagsüber grau zu bleiben. Grau, wo es heute weiß war. Geweißelt.
Ende der Fünfzigerjahre. Nicht viel mehr als zehn Jahre war es her, dass die Deutschen, die Besatzer, die durch die Stadt dröhnende, marschierende, lungernde Wehrmacht abgezogen war. Die Fotos von damals zeigten einen Schmerz im Gewebe der Stadt.
Damals schon, als er zum ersten Mal nach Paris gekommen war, war es für Wild unvorstellbar gewesen, dass sie es überhaupt gewagt hatten, die Hauptstadt der Franzosen, die Ville Lumière, zu besetzen. Einen Ort, von dem sie in ihren ernsten Städten nirgendwo auch nur einen Abglanz hatten.
Keinen blassen Schimmer von Charme und Eleganz des Art Déco mit seinen femininen Rundungen, die Deutschen, die mit ihrem Bauhaus die Welt über Schnittkanten definierten und, viel schlimmer, das alte Rom vor Augen, mit dem hitlerischen Nürnberg ihre morose Weltanschauung, ein Wort, das im Französischen bezeichnenderweise nur als «la weltanschauung» existiert, in Sandstein umgesetzt hatten. Oder hatten umsetzen lassen.
Was war das bloß für ein Spuk gewesen, diese Soldaten und Offiziere in Paris, die Wehrmacht samt Gestapo, mit ihrer eng uniformierten, wassergescheitelten, stiefelbewehrten, waffenknarrenden Soldateska?
Bert hatte die Zeit genutzt, um weitere Reisen zu unternehmen. Auch für Bert war die Aare nicht Fluss genug.
Von Basel war er auf dem Rhein mit einem Lastkahn bis Antwerpen gefahren. Wild bekam eine Ansichtskarte des Hafens, die mit einer mäandernden Tintenkrakelei übermalt war.
Bert war Gestalter, Wild eher der Intellektuelle. In den Museen, den Ausstellungen lernte er viel von Bert, vor allem das Sehen. Bert profitierte allenfalls ein wenig von Wilds wachsendem Hintergrundwissen. Als eine einzige Person wären sie vollständig gewesen. Als zwei Freunde teilten sie jede freie Minute.
Bert war einer von vielen jungen Künstlern und Gestaltern, einer jener Fotografen und Grafiker, die Anfang der Sechzigerjahre nach Paris kamen. Bert arbeitete in einer Grafikbude als Sachfotograf, in Montmartre, in der Nähe von Pigalle, Orwell Publicité.
Bert, der große Einzelgänger, hatte nun eine Freundin, Helen. Wild war neugierig.
Aber Bert zeigte Helen nicht vor. Es schien immer einen Grund zu