Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann

Die Gärten der Medusa - Dieter Bachmann


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      Wild dachte darüber nach, und nickte.

      Bemerkenswert, sagte Diego, und zugleich schwer zu verstehen.

      Das Bier schmeckte frisch und kräftig in der «Jägerburg». Es wurde hier noch in den alten hohen Gläsern serviert.

      Und die Angst vor dem Verlust verliert sich im Alter nicht, sagte Wild.

      Vielleicht ist der Tod ein fassbarerer Verlust als das Weggehen, sagte Wild. Helens Weggehen hat mich immer tief verletzt. Na ja, sie konnte jederzeit so weggehen, dass es ungewiss war, ob sie je wieder zurückkommen würde.

      Ich weiß das noch gut, wie das früher gewesen ist. Ich wartete auf sie, zu Hause, und wenn sie auch nur eine Stunde später kam als angekündigt, war ich schon völlig aus dem Häuschen, sauer nach der ersten Stunde, verzweifelt bald darauf.

      Sie konnte Abwendung, darauf verstand sie sich; ich war einer, der Abwendung nicht ertrug, warum auch immer, die Psychologie dahinter interessiert mich nicht besonders.

      Und ich glaube, das verliert sich nicht mit dem Abflauen einer Beziehung, fuhr er fort, der Beruhigung der Liebe auf eine flachere Sinuskurve mit der Gewöhnung, die eigentlich ein Geschenk sein könnte. Mit dem sogenannten Alltag. Im Gegenteil. Die Angst bleibt, vordergründig oder untergründiger.

      Ja, sagte Diego. Sie schwiegen. Er war vielleicht bei seiner eigenen Geschichte. Ihre Geschichten verglichen sie mitunter, und beruhigten sich damit.

      Und hat sie dich tatsächlich schon einmal verlassen, sagte Wild, dann trägst du die Erinnerung daran wie eine ruhende Infektion in dir, die jederzeit wieder ausbrechen kann.

      Ich träume viel davon, wie sie mich abweist, mich stehen lässt, mir die kalte Schulter weist. Diese Träume verfolgen mich seit Jahrzehnten, und ich hatte sie wohl schon vor unserer langen Trennung. Die demonstrative Gleichgültigkeit, die sie so deutlich zeigt und gegen die ich in diesen Träumen vollständig wehrlos bin, das ist für mich das Schlimmste. Also nicht nur ihre Abwendung, sondern meine vollständige Wehrlosigkeit dabei. Ich bin dann nur Schmerz.

      Samuel Beckett, dachte Wild, immer noch auf der Contrescarpe. Zwei Kinder waren auf Dreirädern mehrmals um das Rondell gekurvt, und er hatte ihnen dabei zugeschaut. Wären nicht möglich gewesen, damals, vor zwanzig, dreißig Jahren, diese Kinder.

      Beckett, auch der hätte in Borbakis’ Inventar gehört. Beckett allerdings zehn Jahre später in Paris angekommen als jene Phalanx der Amerikaner. Hemingway hätte ihm noch begegnen können. Zwei Schriftsteller, die nichts miteinander zu tun haben, aber im Kopf eines Lesers dürfen sie zusammenkommen.

      Borbakis hätte Netze darstellen können, literarisches Spinn­web, von dem das eine das andere durchwob. Fäden, die sich kreuzten, überschnitten, ergänzten, Muster bildeten. Ein unerhörter Reichtum.

      Aber Borbakis war ein Schwätzer. Und Wild auf diesem Gebiet nicht einmal ein Amateur. An den «Selected Letters» hatte ihm das Buch gefallen, das Objekt, das er in Händen hielt, und die Beziehung zu Paris.

      Warum Selected? Offenbar war auch diese Briefedition unvollständig. Wie alle Dinge, die man sammelt, dachte Wild: Trümmer, Stückwerk, Fetzen, Impromptus, Fragmente. Wie die Erinnerung. Diese Erfindung, die man Erinnerung nennt.

      Wollte nun doch bald aufbrechen, Wild. Oder kam noch etwas?

      Helen regte das auf, machte sie wütend: Sie saßen irgendwo in Gesellschaft, und Wild, der genug hatte, sagte zu ihr: Wollen wir gehen?

      Gleich stand Helen in Hut und Mantel bereit. Aber da hatte Wild schon ein neues Gespräch angefangen.

      Nur einen Augenblick, sagte er zu Helen, du wirst doch noch einen Augenblick warten können –

      Erinnerung. Das Aufgeschriebene ist nie mehr das, was es noch im Augenblick davor gewesen ist: Das Züngeln einer lebendigen Flamme, und in der ganzen Geschichte des Universums hat eine Flamme nur ein einziges Mal so gezüngelt.

      Wie die Zeilen sich aufs Papier niederlegen, enteilt am ­selben Faden der Augenblick. Aporie des Aufschreibens, Packen; und Verloren gehen. Der Fisch in der Hand zappelt einen Augenblick, du glaubst schon, ihn zu haben, und weg ist er.

      «Als wäre jeder Tag ein eigenes kleines Dasein», so hat es ein anderer Amerikaner gesagt.

      Man kann versuchen, die Zeit in kleine Zimmer zu sperren. Man wacht auf am Morgen, geht hinaus auf die Straße. Am Abend ist wieder ein Zimmer voll. Und dann?

      Zimmer an Zimmer, jedes nur einen Tag bewohnt? Der Summe entrinnst du nicht, Wild, wenn du dich umdrehst und auf dein Hotel Leben zurückblickst … Die Summe heißt: Es ist jetzt so. So und nicht anders. So geworden, und bleibt so.

      In dem Alter war er, Wild, dem Alter der Endgültigkeiten. Und einen Schritt weiter …

      Wie ist tot sein?, hatte der Vater in seinen letzten Notizen gefragt. Und sich dann diese Antwort gegeben: Bald werde ich es wissen.

      Hemingway. Hier um die Ecke, 22 Jahre alt, und in den Startlöchern. Hisste die Segel, ging in Boxerstellung, wollte Flagge zeigen. «Written a chunk of a novel», schrieb er, etwas unvorsichtig, wenn er denn wirklich erst «den Fetzen eines Romans» hatte, an einen Kumpel von der Piavefront.

      Vierzig Jahre später, am Ende seines Schriftstellerlebens dann das Buch, das Wild über alles liebte, das Buch, mit dem der Sterbende hierher zurückkam, an die Lemoine, die Place de la Contrascarpe, das Paris seiner Jugend.

      «Then there was the bad weather», so fing es an, Wild wusste das auswendig, konnte auch die nächsten paar Zeilen dieses wunderbaren Prosagedichts hersagen: «It would come in one day when the fall was over. You would have to shut the windows in the night against the rain and the cold wind would strip the leaves from the trees in the Place Contrescarpe. The leaves lay sodden in the rain and the wind drove the rain against the big green autobus at the terminal and the Café des Amateurs was crowded and the windows misted over from the heat and the smoke inside.»

      «A Moveable Feast», glücklich übersetzt mit dem deutschen «Paris, ein Fest fürs Leben», das war eines der Bücher, die Wild immer wieder hätte lesen wollen. Der Aufbruch dar­in, die Heiterkeit; Kraft, Saft, der Hunger nach Leben. Dem Atem jedes neuen Morgens, die Durchsichtigkeit der Luft, das Blau über der weißlichen, mit ihren Dächern taubengrau abschließenden Straßenschlucht.

      Was für ein Wunder, oder Geschenk, diese Geschichte der Wiederentdeckung der alten Manuskripte in einem Koffer, den Hemingway jahrzehntelang im Ritz hatte stehen lassen, und dieses Aufbäumen noch des gemütskranken alten Mannes, der das Buch noch so weit brachte, dass es nach seinem Tod, 1964, veröffentlicht werden konnte.

      Die jungen Amerikanerinnen waren damals noch ein gutes Vierteljahrhundert von ihrer Geburt entfernt, so lange war das nun schon her. Das ganze Quartier war anders gewesen, eine Gegend für Clochards, ärmliche Leute und ein paar Künstler, die in den Gassen um die Contrescarpe in billigen Hotels und Zimmern hausten. Bohème, das Wort damals noch nicht abgegriffen und verzuckert, Bohème, das sich wie Armut aussprach und anfühlte, selbstgewählte, einem Ziel, einer Sendung dienend, die vielleicht den Künstlern selbst nicht deutlich vor Augen stand. Die Clochards tranken Algerier aus Literflaschen, die neben ihnen auf den Belüftungsgittern der Metro standen, auf denen sie ihre Tücher und Lumpen, dicke Mäntel, Foulards, allerhand Kram ausgebreitet hatten. Die Künstler tranken den günstigen Pinard, den schon Hemingway gerühmt hatte.

      Und Wild wollte ihn wieder haben, wieder und wieder haben, den Anblick des Wassergesprudels, der hüpfenden Rinnsale, die die städtischen Angestellten jeden Morgen aus den im Boden versenkten Hydranten rauschen ließen, indem sie mit einem langen T-Eisen den Hahn im Boden aufdrehten und den Bach, mit Lumpen gelenkt und kanalisiert, durch die abschüssigen Straßen der Stadt plätschern ließen, wie zum Vergnügen und ohne dass man irgendwelchen Abfall auf dem Gequirl treiben sah, stundenlang, und manchmal lief das Wasser immer noch, wenn man am Nachmittag wieder vorbei kam.

      Hemingway als sein Medium, sein Parisführer und Animator, warum nicht? Er wollte nun wirklich von seinem Stuhl aufstehen vor


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