Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann

Die Gärten der Medusa - Dieter Bachmann


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sie arbeitete.

      Als Wild nicht nachgab, fuhren sie mit Berts blauem Deux Chevaux an die Rue Eugène Carrière, um sie abzuholen und mit ihr in ein Bistro zu gehen. Berts Bruder hatte ihm das Auto überlassen.

      Helen war noch nicht fertig, als sie die Treppen heraufgekommen waren. Sie hatte sich die Haare gewaschen und saß nun, um sie zu trocknen, auf dem Boden, mit dem Rücken zu einem Heizungskörper, ein blaues Tuch wie einen Turban um den Kopf.

      Paris war damals voll von Schweizern, Deutschen, Amerikanern, die in den grafischen Berufen, in Werbeagenturen und bei den Zeitschriften arbeiteten. Paris war die Hauptstadt der Kunst. Und die Ausländer beherrschten die Szene der angewandten Künste.

      Wild hatte einige von ihnen zusammen mit Bert in der Brasserie Coupole oben am Boulevard Montparnasse kennengelernt. Die Schweizer hatten die Geldscheine locker in der Tasche, die knisternden riesigen Francs-Noten. Bert zog sie lässig aus der Brusttasche seiner Jacke.

      So war auch Helen nach Paris gekommen, mit einer Mappe mit Zeichnungen aus ihrer Kunstschule in Wuppertal auf der Suche nach Arbeit. Eine zarte deutsche Blondine, eher klein; die hohen Absätze ihrer ausgesuchten Stöckelschuhe machten sie nicht viel größer. Sie war verletzlich, fraulich und schön, mit einem Augenaufschlag, der ihre blau getönten Lider wie zwei Markisen langsam über den strahlend grünen Augen hochgehen ließ.

      Ein Kriegskind ehedem. Im Nachkriegsdeutschland, aus dem sie kam, hatte sie wohl ihren Willen erworben; sie war aus dem Geschlecht derer, die niemals aufgeben. Zäh, mit einem jederzeit aktivierbaren Potenzial an Verzicht. Es ging bei ihr immer auch ohne, wenn es sein musste; ohne Geld und, wenn es sein musste, ohne den Andern.

      Der väterliche Teil ihrer Familie war eine oder zwei Generationen vor ihrer Geburt aus dem slawischen Osten gekommen, der damals noch deutsches Reichsgebiet war. Eigentlich hätte das katzenhafte Elena gut zu ihr gepasst. Später in Rom, als sie die «Signora» geworden war, die sie immer schon gewesen war, wurde sie für die neuen römischen Freunde doch noch eine Elena. Lebenslang blieb ihr im Deutschen aber die Helene erspart.

      Manchmal machte einer eine Anspielung auf Faust und die klassische Helena. Darauf wusste sie Entgegnung.

      «Finden Sie nicht auch, dass Goethe unendlich überschätzt wird?»

      Worauf am Tisch, nach einigem Staunen, sofort die Kon­troverse ausbrach.

      In ihrer eigenen Familie sagten alle Lena zu ihr. Hatte Wild mit ihr später eine Auseinandersetzung, wollte sie weder Lena noch Helen hören, dann wollte sie eine vollständige Helena sein. Das musste sie nicht aussprechen, klar war das allemal.

      Nach ihrer Scheidung von Wild nannte sie sich Helen, nahm aber ihren Mädchennamen nicht wieder an.

      Helen war in Paris von Agentur zu Agentur gezogen mit ihrer Mappe. Kreuz und quer durch die Stadt, in der Metro, die riesige Mappe unter dem Arm. Der Untergrundbahn, in der sie angestarrt, angerempelt und angefasst wurde und bald ihr Gesicht mit einem Tuch verhüllte, sich wie eine polnische Magd verkleidete, wie sie sagte.

      Sie klapperte die halbe Stadt ab, la sacrée allemande, und sie bekam ihre Stelle, in Montmartre, in einer der Straßen, die vom Pigalle zum Moulin de la Galette hinaufgingen, einer ehemaligen Guingette, einem Tanzlokal, in welchem immer schon Künstler verkehrt hatten, von Renoir und Pissarro zu Van Gogh und Picasso. Da fand Helen Arbeit in jener kleinen Agentur, an jener Rue Germain Pillon, um genau zu sein, für die auch Bert arbeitete, bei Orwell Publicité.

      Der Firmeninhaber nannte sie bald «Mademoiselle Outre-Rhin», er mochte sie offensichtlich. Als sie nach eineinhalb Jahren die Agentur verließ, sagte er zu ihr: Elène, ma chère, vous pouvez toujours revenir.

      Am Mittag ging man mitunter quer über die Straße in ein Lokal, in dem es einen günstigen Mittagstisch gab, und wo sich, ebenfalls schon am Mittag, eine Stripperin produzierte, der man einen Geldschein zwischen die Brüste oder sonst wohin steckte.

      Wild, der Student aus Bern, war nie dabei gewesen –

      Mit einer Italienerin, Ida, die von einem Jazzmusiker namens Gerry Mulligan unglücklich und allein in Paris zurückgelassen worden war, wohnte sie zusammen an der Rue Eugène Carrière, gleich hinter dem Cimetière Montmartre.

      Es war kalt in Paris, Geld knapp. Helen und Ida steckten ihre Füße gemeinsam in den Gasbackofen, um sie zu wärmen. Ida kochte Spaghetti gegen ihre Einsamkeit, Spaghetti warms the soul, sagte sie. Sie kam aus dem italienischen Süden, aus Salerno.

      Auf der Straße standen noch die Vespasiennes, die Pissotières, die Henry Miller so liebte. Und «Black Spring» stand, in der Ausgabe von Olympia Press, bei Ida und Helen, das verbotene Buch eines anderen Amerikaners, der Paris so geliebt und verstanden hatte, wie das nur Zugewanderte können.

      Man ging an diesem Abend, als Wild Helen endlich begegnete, zu einem Chinesen.

      Wild war noch nie bei einem Chinesen gewesen, er hatte überhaupt noch nie einen Chinesen gesehen.

      Aber an diesem Abend war ohnehin alles zum ersten Mal.

      Es war das erste Mal, dass er Helen sah. Er saß ihr gegenüber.

      Zum ersten Mal der Geschmack von Soja.

      Zum ersten Mal Reis aus einer Tasse.

      Zum ersten Mal Bambus.

      Glasnudeln.

      Kreuzkümmel.

      Litschis.

      Und Helen, die nach einem unendlich langsamen Augenaufschlag, dem Geschmack der Frucht nachsinnend, sagte: Die Pforte zum Paradies.

      Wild fands nicht kitschig.

      Der Chinese, als er die Wasserkaraffe brachte, sagte grinsend: Eau de palapluie.

      Alle lachten.

      Die Zeit wurde sehr jung.

      Helen beschwerte sich lachend über Bert, ein Langweiler, sagte sie, weil er nie mit ihr ins Theater gehe.

      Bert ging ins Kino. Film, sagte er, ist Kino, Kino ist gemeinsam geteilte, gemeinsam akzeptierte Illusion. Im Theater aber tun sie immer so, als ob das, was sie sagen, wahr wäre. Dabei weiß jeder, dass er im Theater ist.

      Da, wo Helen hergekommen war, einer deutschen Provinzstadt, in der Georg Büchner einst gelebt hatte, war Gustav Rudolf Sellner gerade daran, das deutsche Theater neu zu erfinden, mit Franzosen wie Sartre, Audiberti, Beckett und Ionesco.

      Helen wollte ins Theater gehen.

      Wild bot sich an. Er studiere das, sagte er. Möge Theater.

      Aber es brauchte einige Anrufe, bevor sie zusagte. Er spürte, als er wiederholt ihre Nummer einstellte, dass er eine Grenze überschritt, er spürte es an seiner Nervosität.

      Er traf Helena gleich vor dem Theater. Sie hatte die Haare am Hinterkopf zu einem Chignon zusammengebunden und mit einer schwarzen Schleife festgesteckt. Sie war sehr schlank, und sie betonte ihre schmale Taille mit einem knapp geschnittenen Mantel.

      Wild hatte die Tickets in der Hand, schon seit dem Vortag.

      Helen sah einschüchternd fraulich aus und sehr viel erwachsener, als Wild sich fühlte.

      Das Théâtre Mouffetard war ein Ort der Avantgarde, ein Stück von Ugo Betti war auf dem Spielplan. Von Ugo Betti wusste er nicht mehr, als dass er ein moderner, vielleicht ein avantgardistischer italienischer Autor war. Im «Pariscope» hatte er gelesen, dass es in dem Stück «Corruption au Palais de la Justice» um einen Richter ging, der im Lauf einer Strafuntersuchung auf seine eigene Schuld stößt. «Pariscope» hatte Ugo Betti mit Kafka in Verbindung gebracht. Zu Kafka hätte Wild etwas sagen können.

      Helen wunderte sich, dass der Zuschauerraum mit seinen schräg absteigenden Sitzreihen in einem grauen Halblicht lag. Wild war sofort Fachmann.

      Arbeitslicht, sagte er.

      Sie hatte sich zu ihm gewandt und ihn fragend angesehen. Es war


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