Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann

Die Gärten der Medusa - Dieter Bachmann


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herab, und auf der Flanke zeigte er eine große kahle Stelle. Er sei jüngst operiert worden, stand auf einem Schild, vielleicht schlief das Tier immer noch eine gewaltige Narkose aus.

      Es war warm und ruhig in dem großen, leeren Raum. Wild staunte in die leeren Käfige. Die Wärme, der schöne Raum, seine Großzügigkeit, das gäbe einen schönen Ort zum Wohnen ab, Alterswohnungen vielleicht? Der einsame Jaguar hätte gewiss nichts einzuwenden gegen ein wenig Gesellschaft, und wenn diese netten französischen Familien mit ihren kleinen verwöhnten Kindern ihm am Sonntag einen Besuch abstatteten, konnte es nichts schaden, wenn sie sich dabei auch ein wenig die Alten besahen.

      Vor dem Kassenhäuschen der Ménagerie heulten die Turbobläser der Gärtner, die ein bisschen Laub unter den Platanen zusammentrieben, und das Schreien der Sägen, mit denen sie daran waren, die Platanen der Allee, dieser zu einer Armee angetretenen Baumreihe, zu trimmen und ihnen einen militärischen Schnitt zu geben. Schnurgerade folgte der Blick der Baumreihe bis zu ihrem Ende, nach den geometrischen Rabatten und symmetrisch aufragenden Taxus-Türmen ein weiteres Exempel der klassischen französischen Gartenkunst – und merkwürdig unpassend in einem Botanischen Garten, in dem einer das Wuchern freier Natur erwarten durfte. Die Zone, in der das Schneiden und Trimmen tobte, war durch rot-weiße Bänder abgesperrt. Ein Traktor mit aufgepflanztem Arm, gerecktem Ausleger, an dessen Ende fünf Sägeblätter rotierten, schob sich langsam an der Baumreihe entlang und fräste in den Kronen die Ästchen ab, mehrere Turbobläser wehten mit Gedröhn ein paar Reste zusammen, riesiger Aufwand, wenig Effekt.

      Wo sind die Gärtner geblieben, fragte sich Wild, die Gärtner in der grünen Schürze oder dem blauen Overall mit dem Rechen in der Hand, wo sind sie, all die Straßenfeger und Hauswarte mit dem Reisbesen, wo bleibt das wunderbare Geräusch eines in der Stille Laub rechenden Menschen? Wo das Hin und Her einer langsam durch einen Ast dringenden Handsäge, wo das Schnappen der großen Heckenschere und wo das Bild jener an die Bäume gelehnten Leitern, auf denen geschickte Arbeiter hoch oben in den Kronen die Bäume fachmännisch beschneiden? «Achtung!» der Ruf, und der große Ast fällt krachend hernieder … Die Würde gut gemachter Arbeit hatte sich in Lärm aufgelöst, in das robotermäßige Hantieren gelb vermummter Männer, ineffizient, grob und unangemessen.

      Pelouse interdite.

      Pas de flash.

      Fermé au public.

      Eau non potable.

      Stationnement réservé au directeur.

      Chantier interdit au public.

      Amphithéâtre fermé.

      A titre provisoire le jardin des plantes vous ouvre cette pelouse.

      Sortie.

      Wild hatte den Mantelkragen gerafft, als er durch die Doppeltür hinaus in den Wind getreten war. Hinter den vor kurzem renovierten mächtigen Gewächshäusern aus den Dreißigerjahren begann eine Zone mit älteren Verwaltungs- und Servicegebäuden, die offensichtlich am Zerfallen waren. Das Restaurant «La Baleine» wirkte vernachlässigt und vernutzt, die älteren Gebäude dahinter aber zerfielen schon sichtlich; Putz blätterte, Läden hingen schief in den Angeln. Einige schienen nicht mehr benutzt.

      Wild wunderte sich über so viel Verwahrlosung. Den Niedergang dieser schönen Gebäude in einem öffentlichen Park in einer der reichsten Städte der Welt. Verschwendung von so viel bewohnbarem Raum in bester Lage. Hinter dem rückseitigen Parkausgang des Jardin des Plantes kam gleich das Cinquième, das belebte Stadtviertel mit dem Panthéon als Zentrum. Hier hätte er wohnen mögen, dachte Wild. Die Seine war ja auch nur ein paar Schritte entfernt.

      Borbakis fiel ihm ein, die Zürcher Gespräche. Des Schwätzers Plan, eine Art Bibliothèque Complète de la Présence Littéraire d’Immigration à Paris einzurichten. Eine der vielen Ideen, die im Nichts verlaufen waren, wie die Menschheitsgeschichte überhaupt nicht in erster Linie die Summe ihrer Erfindungen, sondern vielmehr ihrer aufgegebenen, verratenen, vernachlässigten, gescheiterten Projekte ist. Wäre nicht hier, genau hier, in diesen aus einer anderen Zeit herübergrüßenden alten Häusern Platz für ein solches Institut gewesen, für eine solche Bibliothek?

      Wild setzte sich auf die kreisförmige Ummauerung, die einen uralten Baum umgab. Es war die Platane, die Buffon 1785 gepflanzt hatte, vier Jahre vor der Revolution. Comte Georges Louis Marie Leclerc de Buffon, von 1739 bis zu seinem Tod im Jahr 1788 hier Directeur, 49 Jahre lang, während derer er den Jardin Royale des Plantes prägte und ausbaute, mit Gebäuden für Lehre und Forschung versah, die Fläche des Gartens verdoppelte und bis an die Seine erweiterte, neue Gewächshäuser errichten ließ.

      Riesig stieg die Platane hinter Wild in die Höhe, mächtig, kahl. Einen Solitaire nannte man ein solches einzelnes Exemplar von Baum wohl. Und welchen Ahnungen spürte er nach, Wild, ein Anthropologe, der die Menschheit floh? Was, wenn er zu den Gärten strebt, den Parks, den Reservaten, die man mit Hilfe künstlicher Natur aus dem Gewöhnlichen schneidet und damit dem Lärm, der Vulgarität des Lebenskampfs entreißt?

      Hinter dem flachen Grundstück, auf dem die alten Häuser standen, erhob sich ein Hügel, an dessen Seite ein bequemer Weg in die Höhe führte, an einer gewaltigen Libanonzeder vorbei, einem Monument, für welches das Wort Pflanze nicht mehr zu genügen schien, an deren Fuß ein Mädchen auf einer Bank saß, während ein junger Japaner, offenbar ihr Freund, ihr merkwürdige Tanzschritte vorführte, so etwas wie den Moonwalk von Michael Jackson. Von Wild nahmen sie keine Notiz.

      Ganz offenbar war hier eine Art «englischer» Garten gegen die Geometrie des zentralen Parks gesetzt worden, ein eher rührendes Unterfangen, war doch der Platz für eine nach englischem Muster großzügig gestaltete Natur-in-der-Natur viel zu beengt. Immerhin standen hier außer jener Zeder, die Jussieu 1734 gepflanzt hatte, die Buffon-Platane und, höher am aufsteigenden Hügel, der älteste Baum der Anlage, der kretische Ahorn, Acer sempervirens, den Tournefort 1702 gesetzt hatte.

      Von unten sah man einen kleinen, schlanken Pavillon auf der Kuppel des Hügels, der wurde natürlich sogleich Wilds Ziel. Um dorthin zu kommen, musste man die aufwärts führende Spirale benutzen und den Tumulus mehrfach umrunden, einen stumpfen Kegel, der vollständig und dicht mit einer Taxushecke bepflanzt war. Ein Labyrinth sollte das sein, in Wirklichkeit eine Schnecke, die sich, enger werdend, zu dem Pavillon hinaufzog. Der Weg führte zwischen den Hecken mählich in die Höhe, zu langsam offenbar für jene, die quer zum Hang und unter den untersten Ästen des Gestrüpps hindurch sich eine Art Tunnel und Schlupflöcher geschaffen hatten, durch die sie die Kuppe auf direkterem Weg, wenn auch gebückt oder halb kriechend erreichten. Wild hätte eine solche Abkürzung niemals benutzt, auch nicht in jüngeren Jahren. Dass man aufrecht gehen sollte, war einmal mehr als eine gesundheitliche Anweisung gewesen. Und hatte nicht gerade jene französische Revolution, auf die dieser Park zurückging, den Bückling überwunden?

      Zum Pavillon ging es noch ein paar Steintritte hinauf. Dann stand Wild in einem kleinen Rund, die Aussicht bescheiden: die Dächer der nächsten Straße, Bäume, er war nun auf der Höhe der Krone der riesigen Schirmpinie; das Palais des Jardin; die großen Gewächshäuser und ein Teil der Plaine des perspectives. Offenbar ging es hier nicht um Aussicht. Der Pavillon, «Gloriette» genannt und damit in guter Gesellschaft ähnlicher Konstruktionen, in Schönbrunn, Eisenstadt, in Muskau, auf der Wilhelmshöhe oder in Karlsbad, markierte zwar den hohen, den erhabenen Punkt, diente aber mindest so sehr der Einsicht wie der Aussicht, und diese Einsicht war die gleiche wie überall: Ich stehe oben. Glorietten dienten ursprünglich auch nicht dem Spaziergänger, sondern der Verherrlichung ihres Erbauers, Denkmäler der Landschaftsarchitektur.

      Der Pavillon filigran, Grazie aus Eisen. Acht schlanke, gegliederte Eisensäulchen trugen den runden Reif aus Eisen, der in seinem Durchmesser dem Rund des Innenraums und des Geländers entsprach; darüber schwang sich als rhombisches Netzwerk aus Eisen ein pagodenartig geschwungener zylind­rischer Strumpf hinauf und wurde zur Stütze einer im Durchmesser reduzierten Laterne, deren wiederum acht Eisensäulchen den Hut trugen – darauf, sich noch einmal aufschwingend, ein Türmchen und darauf wiederum zwei in sich schräg versetzte Reifen, wohl den Umlaufbahnen von Sonne und Mond entsprechend, darauf eine Wetterfahne, die mit einem Pfeil die Herkunft des Windes angab.


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