Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann

Die Gärten der Medusa - Dieter Bachmann


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hatte. Was nicht mehr nachzuholen war –

      Um allein dort zu sein, wo Es gewesen war, um Es zu suchen, und, selbstverständlich, nicht wiederzufinden.

      Die Reisen der Vergeblichkeit. Die er nicht lassen konnte.

      Gibt es einen würdigeren Gegner als die Vergeblichkeit?

      Wenigstens noch einmal hinsehen.

      Man konnte unter dem kahlen Baum ein gefallenes Blatt umdrehen, das trocken dalag. Schön, die Maserung, wunderbar, darunter war keine Botschaft.

      Man konnte in ein Schaufenster sehen, und die Dinge lagen, schön, als hätten sie mit nichts anderem zu tun als mit sich selber.

      Man konnte vor einem geschlossenen Theater stehen, die alten Spielpläne lesen, und keine Neugier wurde geweckt. Strindberg, Tschechow, Ionesco, große Namen, verwehte Laute. Noch entließen sie einen schwachen Hauch, es war der von «vorbei». Man sah unter den Namen das stumme Papier, das Gilben.

      Amitiés à tous.

      Küsse, verweht, Umarmungen … Eine Ahnung noch vom Geruch einer Schulter, dieser Schulter. Die Schulter mit den Sommersprossen. Die Wärme von honigfarbener Haut, das Gedächtnis der eigenen Hand. Die Sommersprossen. Alles da, alles wieder einholbar im Netz des Erinnerns. Aber wo ist die Liebe? Sie selbst. In welchen Teil des Weltraums entwichen? Oder in welchem Weltinnenraum?

      Es geht nichts verloren, heißt es. Und die Liebe? Riech vielleicht an einem alten, an den Falten angegilbten Linnen. Wenn du es aus dem Schrank nimmst und aufschlägst und daran riechst, wer weiß?

      Wild war das kurze Stück zu Fuß gegangen, die Rue Cardinal Lemoine hinunter und hinüber zur Gare d’Austerlitz. Er hatte auf die Stahlbogen der Brücke geschaut, auf der die Metro, Linie 5, als Hochbahn über die Seine herüberkam, hatte zu der luftigen Haltestelle an der Gare d’Austerlitz hinauf gesehen, einer Station, wie Wild sie liebte. Man kam auf der andern Seite des Flusses irgendwo aus dem Boden, fuhr dann auf Augenhöhe mit den Fenstern der Menschenwohnungen durch einen Straßenzug, um unvermittelt über dem Fluss zu sein, Schnattern der Räder, Rasseln, Kreischen in der folgenden Kurve und sekundenkurze Aussicht auf den Fluss und die Stadt, das Blaugrau im Graublau, ein Glaubrau. Die hingebreitete, in die Tiefe gestaffelte Stadt, die Flussufer entlang Richtung Île Saint Louis und Notre-Dame, zwischen Quai de la Rapée und dem neuen Ufer.

      Es gab eine Parissehnsucht, die Sehnsucht blieb, obwohl man doch schon da war.

      Über den Boulevard de l’Hôpital nun die paar Schritte hin­über zum zaunbewehrten Eingang. Hohe Eisenstaketen mit vergoldeten Spitzen, zwischen zwei Pfeilern und an zwei plaudernden Beamten vorbei in den Jardin des Plantes, der sich wie eine höfisch-herrschaftliche Einladung vor Wild weitete. Das Portal durchschritt er das erste Mal.

      Die beiden Platanenalleen links und rechts, das große Feld in der Mitte, mit Rechtecken gestaltet und sich in die Tiefe ziehend, wo der Blick auf das ferne, das riesige Rechteck abschließende Palais stieß, die plumpe, über die Jahrhunderte immer wieder umgebaute «Galerie de l’Évolution», ehemals «Cabinet du Roi», als der Jardin noch zu den königlichen Gärten gehörte.

      Bevor Wild langsam und immer nur ein paar Schritte vorrückend die ganze Anlage in den Blick nehmen konnte, oder das, was er von dieser Stelle als ganze Anlage überhaupt erkennen konnte, fand er die großen Gewächshäuser ganz hinten auf der rechten Seite, das lang gestreckte Gebäude zur Linken, welches, wie Wild auf seinem Plan nachprüfen konnte, die Zoologie beherbergte, Skelette, mit denen man die Tierwelt in Klassen ordnete, und sah mit Behagen, wenn auch fröstelnd, über die in die Tiefe gestaffelten bepflanzten Beete, winterlich dürr und kahl, mit Sträuchern ohne Blätter, die mit kahlen Ästen hilflos in die Höhe fingerten. Dagegen die Akzente dunkler Zapfen von hohen, schmalen Taxusbäumen. Und dann wieder das sich flach, geometrisch, französisch oder ganz und gar unenglisch ordnende zentrale Wiesenfeld, blassgrün und in regelmäßigem Muster mit Blumenrabatten gerastert. Wunderbar, großzügig, streng; der große Atem im Körper der großen Stadt.

      Unübersehbar nun unmittelbar im Vordergrund auf seinem Steinsockel der Bronzekerl, übergroß, LAMARCK, am Sockel in Majuskeln angeschrieben, Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de Lamarck, Fondateur de la Doctrine de l’Évolution, 1744–1829, und damit die französisch-nationale Behauptung, einen Darwin vor Darwin gehabt zu haben – mehr als fünfzig Jahre früher.

      Interessant, dachte Wild, wie so ein Denkmal einen ganzen großen Raum strukturiert, wie ein Leuchtturm mit seinem drehenden Lichtbündel die umgebende Landschaft in Segmente teilt und gliedert. Und so war schon von hier aus, ganz am Ende der Plaine des Perspectives, die andere, die mit Lamarck über den weiten Raum korrespondierende Zwillingsskulptur zu erkennen, Buffon, wie sich noch herausstellen würde.

      Ein paar Schritte an Lamarck vorbei, und Wild erkannte nun zur Rechten die Reihe der instruktiven Lehrbeete bis hin zum Jardin Alpin, wie sich dann herausstellte in dieser Jahreszeit geschlossen, und dahinter die Niere-in-Niere angelegte Ménagerie, die Wild sich für den Schluss aufheben wollte, erst am Ende zurück zu den Tieren – jetzt aber auf in die Pflanzenwelt.

      Der botanische Garten schwieg. Aber die einzelnen Pflanzen, oder was von ihnen geblieben war in dem kalten Dezember, kahle Ästchen, feuchte Blätter, dürre Halme, vertrocknetes Laub, waren angeschrieben. Immer lateinisch, und teilweise französisch. Die Herkunft war Wild verständlich, die meisten Pflanzen erriet er aus der Erinnerung. Unwichtig. Schön war der kleine Mohn – Papaver alpinum –, der offenbar erst jetzt zu blühen begann, zartfarben bunt, der blühte gegen jede jahreszeitliche Erwartung.

      Der Garten war kurz nach der Revolution angelegt worden, mit aufklärerischem Auftrag, insgesamt wie ein Lehrbuch mit seinen der Klassifizierung der Pflanzen folgenden Anordnung, in seiner Gesamtgeometrie und den einzelnen Teilen die Überzeugung, dass die Natur erst zu sich selbst komme, wenn sie geordnet und für jeden, der die Mühe auf sich nimmt, einsehbar ist. Es schien Wild weise, dass im Hauptteil des Gartens keine Exoten wuchsen, nur das, was Europa schon immer hervorgebracht hatte zusammen mit dem vielen, das, vor allem aus dem Osten, dem Orient und Asien, eingewandert oder eingewandert worden war.

      Manchmal waren ihm Orte wichtiger als Menschen. Er wolle keine neuen Menschen mehr kennenlernen, hatte er einmal gesagt; auf Orte blieb er neugierig. Der Jardin des Plantes war ein besonderer Ort, einer, an dem für ihn keine Erinnerung hing, er war noch nie hier gewesen. Das gab dem Garten etwas berührend Unberührtes.

      Meist waren die Orte mit Erinnerung verbunden, und er ging an einen Ort, um sich zu erinnern. Solche Orte brachten ihm Menschen zurück, in der Erinnerung liebte er sie. Die Orte, die verlassen waren, gaben ihm für die Menschen, die er dort gekannt hatte, eine Zärtlichkeit. Mehr Zärtlichkeit, als er damals aufgebracht hatte, vielleicht. Dieselbe Zärtlichkeit spürte er dann für den Ort. Eine Zärtlichkeits-Dankbarkeit. Schauplätze, leer nun, an denen das Ereignis vergangen war. Nicht die Erinnerung: Hier habe ich einmal mit Norma ein paar Tage glücklich gewohnt, in diesem Haus Inge kennengelernt, hier mit Emilio im Kino gewesen. Norma und Inge und Emilio waren ihm wieder nahe. Vielleicht näher als damals. Dadurch, dass er nun mit ihnen allein war, sie in der Erinnerung besaß. Damals war nur Gegenwart gewesen, also alles unmittelbar vergänglich. Jetzt blieb die Erinnerung stehen, ein Andachtsbild.

      Die Liebe kam zurück mit dieser Zärtlichkeit: die Liebe, das Fest des Lebens, das Vertrauen in den Augenblick.

      An einem solchen Ort spürte er alles wieder, der Ort gab ihm den Augenblick als gelebtes Leben und Vermächtnis zurück. Er hatte geliebt, gelebt; verraten, vergessen; jetzt war es wieder da, und er musste nur stehen bleiben, an dem Ort.

      Der neue, der unbetretene Ort aber wurde zu einem neuen Theater seines Lebens, unverbraucht, nur leere Bühne. Blieb Wild stehen, irgendwo, etwa vor diesem vertrockneten Flieder, Syringa vulgaris, atmete er, sog er die Luft ein, dann war es ihm, als wünschte er sich nun, auch diesen neuen Ort mit einem Lebensmenschen, mit ihr, die nun doch fehlte, zu teilen. Das waren auch immer die Helen-Momente.

      Die Gegenwart verging, die Orte blieben. Wild, zerstreut, stand vor einer Hinweistafel, die auf einen früheren Mitarbeiter und seine besonderen Verdienste


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