Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann
Lusttempelchen? Es ging auf viel frühere Zeiten zurück. Der Gartenführer gab Auskunft. Bereits im vierzehnten Jahrhundert war an diesem Ort der Bauschutt der eben entstehenden Faubourgs aufgehäuft worden. Der künstliche Hügel wurde im sechzehnten Jahrhundert unter Colbert mit Reben bepflanzt, die im achtzehnten wieder entfernt wurden. Damals nämlich errichtete der Architekt Edmé Verniquet in den immer noch königlichen Gärten das «Labyrinth» und auf seiner Kuppe das Tempelchen, den Kiosk zu Ehren von Buffon. Ganz abgesehen davon, dass schon das Wort Kiosk ein Import aus dem Arabischen war und an den Orientalismus der Zeit erinnerte, war dies, so zart er wirkte, ein kühner Bau. Sechzig Jahre vor Baltard und seinen Eisenstickereien, über ein Jahrhundert vor Eiffel entwarf Verniquet die Gloriette, eine der ältesten Metallkonstruktionen der Welt.
Ausgeführt in schwerer Bronze, mit Bronzeapplikationen und Dekorationen aus Blei, Kupfer und Gold, trug der Pavillon damals auf seiner Spitze einen Gong statt der Wetterfahne, ein Gong, der jeweils am Mittag schlug – sein Klöppel wurde ausgelöst durch das Durchbrennen eines Fadens, der unter einer Lupe barst. Ein Spielzeug der Aufklärung. Doch die Zeit schmolz mit den Jahrzehnten und Jahrhunderten Verniquets polymetallische Konstruktion zu einer Legierung, die der Elektrolyse, dem Wasser und dem Wetter nicht mehr widerstand. Die Erneuerung in den Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts stellte die Konstruktion des Kiosks wieder her, verzichtete aber auf den Gong.
Wild sah in die Runde wie von einer Kanzel. Die Gloriette stand am Ende des spiralförmigen Wegs, der zu ihr hinaufführte, an dem Punkt, an dem die Spirale ihr Zentrum hatte. Von hier oben, ganz am Rand des Jardin des Plantes, war deutlich zu sehen, wie dieser Park – anders als die klassischen Lustgärten, in denen ein Labyrinth das Geheimnis der Mitte birgt oder ein Hortus conclusus einen geheimen Schwerpunkt bildet, wie dieser Garten ohne Zentrum war. Merkwürdig spannungslos. Groß und ausgebreitet, doch ohne die Balance zwischen Kultur und Wucherung, zwischen Ordnung und Entropie, jenes fragile Gleichgewicht, das den Gartengestalter beflügelt und dem Flaneur die Ruhe gibt, die Gelassenheit, die er an einem solchen Ort sucht.
Warum sonst hätte er herkommen sollen?
Klar, dass Wild sich jetzt an jenen Text erinnerte, den er sich vor einiger Zeit aus dem Englischen übersetzt hatte. Die Exzerpte aus dem Buch eines amerikanischen Philosophen, geboren in Izmir, Lehrstuhlinhaber in Stanford für italienische und französische Literatur, Moderator der Radiosendung «Entitled Opinions» des uni-eigenen Senders, Gitarrist der Rockband Glass Wave, offenbar ein Tausendsassa. Der hatte über Epikur ein paar bemerkenswerte Seiten geschrieben; Wild hatte einiges abgetippt, obwohl er damals keine Verwendung dafür sah. Es ging um Epikurs Garten, gleichzeitig seine Akademie vor den Toren Athens.
«Um zu verstehen, wie der Garten den Kern von Epikurs Philosophie spiegelt oder sogar verkörpert», hatte Robert Pogue Harrison geschrieben, «muss man sich vergegenwärtigen, dass es sich bei diesem Garten zuallererst um einen Pflanzgarten handelte, der von den Schülern gepflegt wurde, welche sich von Früchten und Gemüse nährten, das sie zogen. Und doch war es nicht wegen des Gemüses und der Früchte allein, dass sie den Boden so eifrig bearbeiteten. Ihre Gartenarbeit war zugleich eine Art Erziehung in den Dingen der Natur, den Zyklen des Wachsens und Vergehens, ihrem allgemeinen Gleichmut, dem ausgewogenen Zusammenspiel von Erde, Wasser, Luft und Sonnenlicht. Hier, in der Konvergenz der natürlichen Kräfte im Mikrokosmos des Gartens offenbarte der Kosmos seine großen Harmonien, hier konnte die menschliche Seele ihre essenzielle Verbindung zur Materie wiederentdecken, hier zeigten lebendige Dinge wie dankbar sie antworten auf die Sorgfalt und die Umsicht des um sie besorgten Gärtners. Die wichtigste Lektion jedoch, die der epikureische Garten denen erteilte, die ihn beackerten, war, dass Leben – in all seinen Formen – unausweichlich vergeht und dass die menschliche Seele das Schicksal teilt von allem, was auf der Erde wächst und wieder verschwindet. Damit bestärkte der Garten den fundamentalen epikureischen Glauben daran, dass der Mensch zugänglich ist für moralische, geistige und intellektuelle Zucht, dass er kultiviert werden kann wie ein Garten.»
Wild hatte es gefallen, wie Epikur den abgenutzten Begriff von «Glück» ganz praktisch auffasste und mit der Arbeit im Garten verband.
«Epikur verstand Glück als einen geistigen Zustand und glaubte, er bestehe in erster Linie in der ‹Ataraxia›, was wir als ‹Seelenfrieden› oder als ‹Gemütsruhe› übersetzen könnten (…) Insofern wäre Ataraxia ein in hohem Grad erworbener Geisteszustand.» Ataraxia sei von der gleichen Spannung getragen wie die Heiterkeit des selbst angelegten Gartens, besonders der Spannung zwischen Ordnung und Entropie. Die Epikuräer, die im Hortulus arbeiteten, hätten gewusst, dass unablässige Wachsamkeit und Arbeit nötig war, um die wilden Kräfte der Natur im Zaum zu halten. Ataraxia habe die gleiche Wachsamkeit verlangt, um tief wurzelnden Beunruhigungen wie der Todesfurcht oder der Furcht vor den Göttern die Stirn zu bieten. Mit anderen Worten: Die Furcht sei durch das Leben in der Philosophie nicht überwältigt als vielmehr verwandelt worden, gleich wie Gärten – seien sie nur richtig angelegt – die Natur verwandeln und nicht vergewaltigen.
Für Epikur sei es notwendig gewesen, dass jeder selbst für sein persönliches Glück sorgte. Wie der Garten verlange persönliches Glück nach der eigenen Pflege, der culture de soi, wie Michel Foucault es genannt habe. «Epikurs Rückzug aus der Öffentlichkeit war kein Rückzug ins Private», hatte Harrison geschrieben. «Der Garten war privater Besitz, gewiss, und dieser Privatbesitz war wesentliche Voraussetzung für die Freiheit am Rand der behördlichen Autoritäten. Das intensive gemeinschaftliche Leben innerhalb der Gartenschule straft die Absonderung, die man diesem Rückzug nachsagte, Lügen.»
Es war nicht nur der kalte Tag gewesen, der Wild den Mantelkragen hatte hochschlagen lassen. Hier war alles auf Belehrung ausgerichtet, die Pflanzgärten, die Ausstellungen, die Sammlungen und die Gewächshäuser. Selbst die Beete im Bereich der großen Allee wussten nur von Ordnung und nichts von Hinfälligkeit und Sterben. Immer noch die alte, die königliche Behauptung. Immer noch der Rasterplan von Versailles.
Repräsentanz bedingt Ordnung. Hier hatten die Blumenbeete wie Soldaten anzutreten.
Erst die Gloriette, dachte Wild, als er langsam den Hügel hinunterging, erst dieser sozusagen ungerade Ort, dieses hortensische Seitenkabinett mit Erinnerungsbäumen, Tempelchen und dieser Spirale, diese von ihrem Kern her abgewickelte Wegschnecke, haben nun etwas bei mir bewegt. Mich auch nicht zufällig an meinen Pückler erinnert und Branitz mir vors Auge gerufen.
Vor dem Hauptgebäude, einem ehemals fürstlichen Gebäude, das nun nach zahlreichen Umbauten die Grande Galerie de l’Evolution beherbergte, standen in Kübeln eine Reihe von Weihnachtsbäumen, weiß gespritzt und gepudert wie die barocken Perücken der ehemaligen Bewohner des Palais, eine merkwürdige Entstellung von Pflanzen ausgerechnet in einem Botanischen Garten.
Da stand auch das Denkmal, hier am Ende der großen Fläche, dieses botanischen Aufmarschfeldes, Champ de Mars, das Denkmal, das dem ersten dort unten an der Seine, beim Eingang, entsprach. Dort Lamarck, hier aber Buffon, der große Zoologe. Eine überlebensgroße Bronze mit bronzener Perücke. In der Rechten ein Buch, in der Linken einen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln, saß Buffon auf einem bronzenen Sessel. Dieser wiederum stand, wie merkwürdig, auf einem bronzenen Löwenfell. Der Schädel des Tiers ragte auf der einen Seite unter dem Fauteuil hervor, auf der andern sah Wild die Hinterläufe, hing der Schwanz, bronzen, herunter. Der Tierforscher auf dem Löwenfell, das musste eine Zeit gewesen sein, da die Zoologen sich noch mit der Entstehung der Arten beschäftigten und nicht mit ihrem Aussterben.
Wild, ça suffit!
Einen Garten sucht man auf, um ihn wieder verlassen zu können. Wild wollte zurück in die Ruppigkeit der Stadt, ins Gedränge, den Lärm, ins Heftige. Ein Seitenausgang führte in die Rue Buffon.
Knapp vor dem Gittertor, auf den letzten Metern, zog ein Gartenrechteck Wilds Aufmerksamkeit auf sich. Quadratische Beete, Rosentreppen und eine helle Steinfigur im Hintergrund. Betreten war hier nicht verboten. Wild trat über einen feuchten, leicht sumpfigen Eingangsbereich in den kleinen Garten. Winterruhe. Eine einzelne Rose blühte, die Pflanze hatte nur noch wenige, feuchte Blätter. Der früh gefallene und inzwischen wieder geschmolzene Schnee hatte das Blattgrün zerkocht und faulig zurückgelassen, braun wie welken Salat.
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