Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann

Die Gärten der Medusa - Dieter Bachmann


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war wieder mal nicht auf dem Quivive und stellte auf Borbakis’ Einwurf hin automatisch die Gegenfrage. Und verwünschte sich deswegen im gleichen Augenblick.

      Angst als Begleiter, dein Schatten, sagte Borbakis philosophisch. Unsere Furchtsamkeit, und deine persönliche Angst. Oder die Ängste. Wenn ich sie analysiere, sagte er, finde ich nicht nur die Angst vor dem Unnennbaren, das vor mir liegt, also Sterben, Totsein, sondern, und noch viel mehr, eine Art Angestautes. Ja. Langsam wächst es, langsam wird’s sichtbar: die Schuld gegenüber den anderen.

      Die Leichen, die in deinem Schrank sind, sagte Wild wütend, sie beginnen also zu stinken. Und sich zu bewegen, während du zerfällst. Und du hast nur Angst, dass deine Sauereien dich überleben.

      Der Schmerz, den du anderen zugefügt hast, sagte Borbakis, überraschend mild. Dies, und tiefer noch das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Angst vor der Wahrheit, gegenüber dir selbst versagt zu haben. Dich vielleicht sogar verpasst zu haben. Wie man allein im wildfremden Land von der Angst überfallen wird, wenn man die Augen aufschlägt: Was mache ich da? Die anderen, die dich nicht kennen, sehen dich nicht, und du bist nichts.

      Wir sind gegen unser persönliches Unheil, unser Ungenügen nicht versichert, Borbakis, dachte Wild. Schwieg aber.

      Es wurde Abend. Das Licht, das vom Pavillon her über die Tische kam, hätte den beiden genug sein müssen für ein kleines Glück.

      Nikos sann, ein Kloß, ein Koloss, den eine unsichtbare Kraft zum Innehalten gebracht hatte. Abwesend. Er war so stumm, dass es schien, dass er seine Einsicht verschluckt habe an einen Ort in seinem riesigen Körper, an dem er sie nie wieder finden würde. Er hatte aufgegeben zu sagen, was er sagen wollte. Oder auch nur den Faden verloren.

      Wild, ohne weiteren Zusammenhang, dachte, dass es kein Recht für uns gebe, sich zu beschweren. Wo sollten wir das Recht herhaben?

      Eine Straßenbahn, ein innen erleuchtetes Bügeleisen, zog leer um die Kurve am Rand ihres Gesichtsfelds. Hinter der Führerkabine lehnte ein Mann am heruntergelassenen Fenster; er reckte den Kopf in den Führerstand und sprach mit dem Fahrer. Die Straßenbahnen, nachts, fuhren wie in einem anderen Aggregatzustand. Sie wollten mit Beförderung nichts mehr zu tun haben, sie fuhren nun für sich selbst. Zum Vergnügen der Tramführer, die nun die Schienen für sich hatten.

      Hunger, bald werden wir beide Hunger haben, dachte Wild, plötzlich entsetzt. Und der da wird ein Abendessen vorschlagen, nur um noch ein weiteres Lokal aufzusuchen. Dieser Sack. Fresssack.

      Es ist schwer, den andern von sich fernzuhalten, wenn man mittelschwer betrunken ist. Wie in diesen Boxkämpfen. Man kommt einfach nicht mehr auseinander.

      Weiche von mir! Aber so einfach ist das nicht, wenn man stundenlang vorgegeben hat, ein Freund oder wenigstens ein Zuhörer zu sein. Wild wollte gern ein Fuchs sein, der einsam dahinschnürt.

      Irgendwie schaffte er es. Saß, es war spät geworden, allein an einer Kreuzung, an der alle vier Ecken von je einer Kneipe erleuchtet waren. Das Licht traf sich in der Mitte der Kreuzung. Die im Zentrum hängende Straßenlaterne schnitt darüber einen Kegel aus der Dunkelheit heraus. Es war einer der schönsten Salons, die Wild je gesehen hatte. Nutten stöckelten vorbei, Lateinamerikanerinnen mit ihren Brüsten in der Rockauslage, ihren Auberginen, tiefschwarze Frauen, zu alt für den Beruf, dick und schwer. Stöckelten anscheinend erfolglos. Wer mochte ihre Kundschaft sein, wer die Liebhaber dieser schwarzen Damen, die bereits am Morgen früh vor ihrem Salon standen, dem Schaufenster mit der Jalousie, hinter der ein Fernseher stand, ein Stuhl knapp sichtbar war? Begehrte man sie, oder hatte man sie einfach nur nötig gegen die Einsamkeit?

      Eine trug eine Lehrerinnenbrille und einen Mittelscheitel in ihrem ölig schwarzen Haar und, wenn es kühl war, eine Jacke bis über die Knie. Sie machte keine Anstalten, sich anzubieten. Sie stand da, an die Hausmauer gelehnt, stumm in ihrer tiefen Schwärze, wie verirrt.

      Nicht wie jene grellblonde Schweizer Kollegin, die Wilds Hund angemacht hatte, als er mit ihm an der Leine an ihr vorbeikam. Sie hatte den Rock gehoben und, immer zum Hund, gesagt: Na, willst du ficken? Natürlich zog Wild den Hund von ihr weg.

      Trinker mit tiefen Furchen im Gesicht kamen vorbei vor dem kleinen runden Blechtisch. Wild musste immer ein wenig den Kopf heben, er hatte die Rolleiflex-Perspektive, den Blick auf die Welt vom Bauchnabel aus. Ausgemergelte Männer, abgerissene, wo hatten sie das Geld zum Trinken her? Allen hier, den Jungen, den Alten, den Neugierigen, den Gewohnheitstrinkern, schien das Geld fürs Bier niemals auszugehen.

      Vier Kneipen übereck, jede einer andern gegenüber. Alle warfen sie ihr Licht auf die Straße, einen hellen Teppich. Wie das gelbe Licht vor van Goghs Café in Arles, dachte Wild, eines seiner Lieblingsbilder. Das ist doch die Welt, dachte er verblüfft, sie kommt zu dir, du musst nur sitzen bleiben.

      Es war ein großer Friede in dieser Zeitweil, die sich wie ein aus dem Mund gezogener Kaugummi in die Länge zog. Ein Mann mit einer Handharmonika hatte vor der Bar gegenüber zu spielen begonnen. Er saß vorn auf der Stuhlkante und zog und drückte den Balg. Musette, was sonst. Einer neben ihm hatte zwei Holzlöffel zwischen die Finger genommen und schlug einen wirbelnden Takt abwechselnd in seine Hand und auf den Tisch. Und dann tanzten zwei junge Leute, zwischen Nutten und Trinkern aus dem Innern der Bar aufgetaucht, tanzten zum Musettewälzerchen eng und leicht. Es kümmerte sich keiner um sie, sie tanzten in dem gelben Licht und schoben dann ineinander verwoben zum Dunkel hin, dorthin, wo die Hinterhöfe sich auftaten, dorthin, wo der Schein aus den Wirtschaften verdämmerte, wohin der Klang der Handorgel hinter ihnen herlief wie ein Hund.

      Am Morgen war diese Straße ohne Erinnerung. Früh war eine Reinigungsmaschine durchgefahren, zuerst auf der Straße, indem sie einen engen Bogen um jedes geparkte Auto beschrieb und einen kompliziert gewundenen Nassstreifen auf dem Asphalt hinterließ. Danach fuhr die städtische Arbeitsbiene mit wichtigtuerischem Gelärm auf dem Trottoir auf und ab. Papierfetzen, zerknautschte Büchsen, die üblichen Zigarettenstummel, den ganzen Vergnügungsmüll wischte sie mit gegeneinander drehenden Bürsten in ihr aufgeworfenes Hinterteil. Die eisernen Läden vor den Kneipeneingängen waren heruntergelassen.

      Wochen später stellte sich heraus: Borbakis war unfähig gewesen, auch nur einen Fuß nach Paris zu setzen. Wild traf ihn auf dem Markt am Helvetiaplatz, wo er, der erfahrene Genießer, ihn, den Neuling, auf den Verkaufswagen eines Metzgers aufmerksam machte. Nur allerbeste, ausgewählte Ware, sagte er, da, schau, Lammgigot aus Sisteron!

      Er war nicht nur nicht in Paris gewesen, es war vielmehr, als wolle er von seinem Projekt nichts mehr wissen. Nur noch der Metzger schien ihn zu interessieren, der Käsehändler, der Stand des Bäckers.

      Gut, so weit.

      Place de la Contrescarpe

      Wo war Helen? Wo zum Teufel? Die Frage war Wild nicht fremd. Nein, nur zu gut bekannt.

      Helen war Abwesenheitsweltmeisterin. Entweder war sie grad in Tokio oder auch nur in einem Seminar im Oberengadin, mehrmals im Jahr und spurlos darin verschwunden, mit der schwierigen Vereinigung von Körper und Geist befasst. Oder aber auch nur in der Stadt unterwegs, dies dafür erstaunlich ausgiebig. Es war hell gewesen und wurde wieder dunkel, aber Helen war noch immer nicht zurück. In früheren Jahren hatte Wild sich oft gefragt: Wen kennt sie nur, den ich nicht kennen darf?

      Also entweder nicht da. Oder aber da und nicht da: in sich gekehrt. Schweigsam, eben zum Beispiel darüber, wen sie in der Stadt getroffen hatte. Unmitteilsam in einem Maß, das Wild auch nach Jahren immer noch verletzte. Freiwillig sagte sie nie, wo sie hinging. Wenn Wild sie fragte, sagte sie es eher mürrisch und im Was-geht-es-dich-eigentlich-an-Ton. Hatte er aber gefragt, kam er sich selber dumm vor, nicht eifersüchtig nach all den Jahren, nur dumm. Er hätte es nicht wissen müssen, es änderte nichts an der Tatsache ihrer Abwesenheit, wenn sie sagte, dass sie zum Zahnarzt ging.

      Im übrigen habe sie ihm das schon zweimal gesagt, die Handtasche unterm Arm, die Haustür hinter sich zugezogen.

      Mit ihrer Abwesenheit erzeugte sie eine Abwesenheitsanwesenheit, in der sie anwesender war, als wenn sie da gewesen wäre.

      Sie


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