Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann
Vater war Nordgrieche gewesen, aus Saloniki. Von wegen Peloponnes! Als Früchtehändler war der in die Schweiz gekommen. Das heißt: so hatte er sich hier etabliert. Fünfzigerjahre, alle waren unterwegs. Auf dem Weg nach Norden war er in Italien Nikos’ Mutter begegnet, in Bari, wo sein Schiff gelandet war. Zusammen kamen sie in die Stadt, in dieses Quartier, wo damals die Südländer wohnten, Italiener, Spanier, Griechen, später Portugiesen. Heute auch Tamilen, Nigerianer, Ex-Jugoslawen, Albaner, ein paar Türken. Versprengt: Schweizer.
Der Laden war ein griechisch-italienisches Lebensmittelparadies gewesen. Nikos hier geboren. Nikos Elvetikos, ein Secondo. Im Laden seiner Eltern hatte er dann eine Kunstgalerie eingerichtet. Zum Kunsthändler hatte es gereicht.
Und jetzt noch die jüngsten Ereignisse in Athen, sagte Borbakis. Eine Katastrophe!
Warum Katastrophe? Nordeuropa zahlt euch ja alle Schulden mit dem vielen Geld, das sie an euch verdient haben, also könnt ihr genauso weitermachen wie bisher.
Er ächzte. Und unsere Tabakfelder, sagte er, was glaubst du, was die jetzt für Grundstücksteuern draufknallen.
Der Ärmste. Er hatte Tabakfelder.
Warum hörte Wild ihm zu? Warum war er stehen geblieben? Verdammt. Seine unausrottbare Höflichkeit. Oder Feigheit. Oder Unvorsichtigkeit.
Das wusste er doch: Jede Begegnung, die man nicht vermeidet, noch die unbedeutendste, wird Teil des Schicksals. Wild wusste das. Und schlug es schon wieder in den Wind. Mit jeder Sekunde Wirklichkeit gehen Myriaden von Möglichkeiten verloren, unrettbar. Man weiß nicht einmal, was einem fehlt. Und Wild blieb da stehen, mit Borbakis. Nikos. Dem Elvetikos. Mit einem zufällig Hergekommenen und ewig Hiergebliebenen.
Wild war zuletzt in Rom gewesen. Mithras und Frühchristen. Davor Feldforschung in Inner Mongolia, Naturmedizin, und noch vorher in Douala, Geistheiler. In Lamu – archaischer Hummerfang – leider nur kurz, dafür lange in New York und San Francisco. Hatte Hexen gesehen jenseits des Polarkreises. Yogis in Indien. Den großen und den kleinen Atlas. War gereist, um wegzukommen, um woanders Station zu machen, um anderes zu erfahren und einem Freund zu bestätigen, dass überall alles anders ist.
Und jetzt stand er hier, mit dem da.
Wild hatte ihn zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Borbakis trug nun einen Bart wie Carlo Marx und saugte an einer dicken Partagas. Er saugte an seiner Zigarre wie an einem Euter. Vor Jahren hatte Friedrich Dürrenmatt zwei Marxe auf der Bühne des lokalen Theaters auftreten lassen, ein grotesker Hohn auf Karls geschichtliche Einmaligkeit, das doppelte Marxchen.
Je länger Wild Borbakis gegenüberstand, dachte er an ein Imitat. Popanz.
Die Maskerade, das Bartgeprotz erinnerte ihn an Key West, an «Sloppy Joe’s Saloon», in dem jedes Jahr ein Hemingway-Ähnlichkeits-Wettbewerb stattfindet. Zwanzig erwachsene Männer, in offenen Buschhemden und mit weißen Hemingwaybärten, grölen mit erhobenen Fäusten in die Kamera. Dazu serviert Sloppy Joe Hühnerflügelchen «Farewell to the Arms», Fischplatte «Old Man and the Sea» und «The Bell Tolls»-Käsekuchen.
Als hätte Hemingway gegrölt. Als wäre er nicht völlig einmalig gewesen, unwiederholbar. Das ist doch der Witz von Literatur, wütete Wild, dass es jeden immer nur einmal gibt.
«Hemingway was larger than life», sagt Sloppy Joe in seinem Advertising. Er weiß nicht, wie recht er hat.
Hinter Borbakis’ Brillengläsern, deren Linsen sich konzentrisch nach innen verengten wie bei einem Chamäleonauge, schauten kleine Gucker zugleich listig und unsicher und überaus feucht. Überheblich und unsicher. Ob man ihm glaube, schienen sie bei seinem Gerede ständig zu fragen.
Wild war neu im Quartier, Borbakis ein alter Hase, sofern das Wort Hase auf einen solchen Raviolihaufen passte. Unter den Zuwanderern, die hier die Mehrheit ausmachen, residierte er offenbar wie ein König. Familiär früh genug eingewandert, porentief verschweizert und doch fremd bleiben wollend, eine strategische Position, ein Mühle-Spiel, bei dem er abwechselnd auf den Einheimischen und auf den Fremden setzen konnte, grad so, wie er’s brauchte.
Borbakis machte Wild ungesäumt mit seinem letzten Projekt bekannt. Schwafelte, schwärmte, quasselte etwas von Paris. Wild fragte sich, warum die Leute einem immer alles anhängen wollen, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Da stehen sie und reden. Man steht, festgepflockt an einer solchen Straßenecke, hört zu und hört nicht zu, während man auf den dunklen Fleck an der Hausecke starrt und sich fragt, warum jeder Hund des Quartiers hier Halt macht und sein Bein hebt. Warum gerade an dieser Ecke und nicht an der gegenüber? Ein Hund zieht den nächsten an, gewiss, aber warum zieht es sie alle an diese, genau an diese Ecke? Die andern Ecken sehen doch gleich aus.
Aber das Wort Paris hatte Wild gleich am Wickel. Unvermittelt hatte er selbst wieder Sehnsucht nach anderswo. Schon nur die Fahrt. Die leeren Landschaften der Franche-Comté! Dabei war es hier nicht schlecht. Man lebte auf engem Raum mit anderen, die man nicht zu kennen brauchte.
Wild hatte zugehört, wie ein untersetzter Mann, ein Italiener, im Sommer von seinem Balkon herunter mit einem Bekannten auf der Straße sprach, ungehemmt der eine von unten nach oben und der andere, im ärmellosen Unterleibchen, von oben nach unten. Wie viel der dort oben für seine Zweizimmerwohnung bezahle, darum ging es. Achthundertfünfzig, sagte der. Der unten fand das preiswert. Na, sagte der oben, magari, il bagno è sul pianerottolo, das Klo im Treppenhaus. Er wollte wohl andeuten, dass seine Achthundertfünfzig auch nicht geschenkt seien. Die große Stadt war hier wieder zum Dorf geworden.
Es war wie ein winziges New York hier. Na ja, jedenfalls viel Verschiedenes auf kleinstem Raum, freiwillige Nachbarschaft, die kleine urbane Zelle geteilt mit anderen. Auch in Wilds Eckwohnung war es, als sei drinnen draußen. Oder das Draußen drinnen. Ein kleiner Balkon gehörte zugleich zu seinen zwei Zimmern und zur Straße.
Eines Morgens, die tapfere Sonne war gerade daran, sich gegen den Stadtnebel durchzusetzen, war Wild in der Bäckeranlage stehen geblieben, dem kleinen, buchsbaumgefassten Quartier-Park mit Grünflächen, riesigen alten Bäumen, drei Bronzepferden im Kunstgeschmack der Vierzigerjahre, einem großen Wasserbecken und einem überaus einladenden Pavillon mit Holztischen und -bänken, auf Kies und unter Bäumen, wie es sich früher für eine anständige Gartenwirtschaft gehörte. Er schaute dem Gartentraktor zu, der das Gras kurz schnitt, zum Schimmern brachte. Die Flächen glänzten im zaghaften Sonnenschein wie grüne Seide. Der Gartentraktor fuhr auf beiden Seiten gekämmte Schnittflügel aus, eine Heuschrecke.
Was die Stadt für ihre Bürger alles tut, hatte er gedacht, fast glücklich. War stehen geblieben, als ihn ein Mann seines Alters ansprach: Bello, no?
Ein Tessiner. Teilte er sofort mit. Auch er begann sofort zu erzählen. Dies war ganz offenbar ein redseliges Quartier. Ob Wild das Tessin kenne?
Die Täler, ein wenig, sagte der.
Und so kam der Mann sofort auf das Malcantone. Aus Curio sei er ursprünglich, Wild wohlbekannt, und gleich waren sie sich einig, wie schön das Malcantone sei. Und immer noch relativ wenig bekannt!
Und dann: Wie schön die Sorgfalt, welche die Stadt diesem unserem Park angedeihen lasse.
Auch in Lugano gebe es einen schönen Park, den der Villa Ciani, sagte der Tessiner, aber dort sehe man nur Touristen, oder Italiener, nicht die sympathischsten, nämlich die Milanesen, welche grade ihr Geld in einer Schweizer Bank in Sicherheit gebracht hätten und sich nun noch einen Blick auf den See gönnten. Während hier diese Anlage nur für die Stadtbürger gemacht sei.
Man müsste das der Stadt, auf die man so viel schimpft, auch einmal mitteilen, dachte Wild.
Arrivederci. Er gehe jetzt essen, drüben im «Grottino 77» sagte der Tessiner. Und auf Wilds völlig überflüssige Bemerkung, es sei dort zwar ordentlich, wenn auch einigermaßen teuer, sagte er: Geld kann man nicht essen. Aber der Magen fordert sein Recht.
Borbakis also.
Nicht abzuschütteln. Eine halbe Stunde später, es ging gegen Mittag, saß Wild mit ihm im «Eichhörnli.»
Nikos