"Man treibt sie in die Wüste". Dora Sakayan


Скачать книгу
Aleppo und damit an der wohl wichtigsten Schnittstelle der Deportationsrouten. Wie viele andere Schweizer Ingenieure war Fritz Sigrist noch seit 1910 am Bau der Bagdadbahn als Sektionsin­genieur in Aleppo tätig. Ab dem Jahr 1915 hatte er die Projektierung der Linienführung des Abschnitts Islahiye–Radjou und die Leitung des Durchschlags des 905 m langen Tunnels durch das Ama­nus­gebirge übernommen, und geschäftlich bedingte längere Aufenthalte in Aleppo – zuweilen begleitet von der Gemahlin – waren hie und da fällig.

      Aleppo war die Schaltzentrale der Bagdadbahn im Osten des Osmanischen Reichs und ein Knotenpunkt für die Deportationszüge der Armenier. Das multiethnische Aleppo war eine der wichtigsten Städte im arabischen Süden des Osmanischen Reichs. Viele Informationen liefen dort sowohl aus dem Innern der Türkei als auch den orientalischen Provinzen zusammen.

      Im Herbst 1917 sorgten in Aleppo ansässige Vertreter großer Hilfsorganisationen sowie Diplomaten besonders der USA und Deutsch­lands dafür, dass Informationen auch unter Kriegsbedingungen noch außer Landes gelangen konnten. Der deutsche Konsul Walter Rößler nutzte seine guten Kontakte zu den türkischen Behörden auch zur Linderung mancher Not der Armenier. Denn ihm stand – als einzigem ausländischen Regierungsvertreter – die Möglichkeit offen, unzensierte Berichte sowohl seiner Botschaft in Konstantinopel als auch dem Berliner Auswärtigen Amt zu senden, dank der Verschlüsselung, die als Privileg einzig dem Kaiserreich gewährt wurde. Kein deutscher Diplomat hat sich darüber hinaus so sehr für die Armenier eingesetzt wie Konsul Rößler.

      Von Aleppo aus führten die beiden einzigen Eisenbahnstrecken in den Südosten des Osmanischen Reichs. Die eine führte entlang der heutigen türkisch-syrischen Grenze in Richtung Bagdad, die an­dere über Damaskus und Jerusalem in den Sinai. Aleppo war da­durch ein Drehkreuz der militärischen Routen zu den beiden Kriegs­schauplätzen Persischer Golf und Suezkanal. Diese Landverbindungen waren umso wichtiger, als die Schiffe der Ententemächte das Mittelmeer beherrschten und damit die Häfen kontrollierten.

      Die Deportationen der Armenier begannen in großem Maßstab in ihren eigentlichen Siedlungsgebieten im Nordosten der Türkei. Die größten und grausamsten Massaker fanden gleich zu Anfang des Völkermords in der Ebene der Stadt Musch (Muş) und der Region der Stadt Bitlis statt. In der Muschebene wurden Tausende von Armeniern in Scheunen und Häusern zumeist lebendig verbrannt. Wem aus den etwa dreihundert armenischen Dörfern dieser Ebene die Flucht gelang, der schaffte es nicht zu einer der fernen Stationen der Bagdadbahn. Das Gleiche gilt für die Umgebung der Stadt Bitlis, einem weiteren Siedlungsschwerpunkt der Armenier im Nordosten der Türkei, die direkt in die syrische Wüste deportiert wurden. Auch aus den großen armenischen Siedlungs­gebieten zwischen der russischen Grenze und Ersindjan (Erzincan) gelangte kaum einer je an eine Bagdadbahnstation. Viele verschwanden in den Fluten des Euphrats, der wochenlang mit zum Teil zusammengebundenen armenischen Leichen verstopft war. Endstation vieler armenischer Deportierter aus diesen Gebieten waren die Schluchten um die Stadt Mamuret el-Aziz (Harput), wo türkische Wachmannschaften die erschöpften Armenier regelrecht abschlachteten, wie der amerikanische Konsul der Stadt, Leslie Davies, bei zwei Ausritten mit einem Arzt beziehungsweise türkischen Freunden bezeugen konnte. Und die Armenier der Stadt Van, die sich wochenlang gegen die türkische Armee verteidigt hatten, zogen es vor, über die russische Grenze in das Gebiet der kaukasischen Armenier zu fliehen, wobei ein Großteil von ihnen in den eisigen Bergen ums Leben kam. An der Schwarzmeerküste um Trabzon wurden ins Meer getrieben und dort ertränkt, in der Region von Erserum (Erzurum) bis Ersindjan (Erzincan) wurden Züge durch die Kemach-Schlucht (Kemah-Schlucht) geschleust. Als der deutsche Korrespondent der «Frankfurter Zeitung» in Konstantinopel, Paul Weitz, im letzten Kriegsjahr mit der türkischen Armee nach dem freiwilligen Rückzug der Russen die Nordost-Region durchfuhr, erlebte er, dass in den Kaffeehäusern «mit seltenem Freimut die grausamsten Einzelheiten von den Massakern an den Armeniern erzählt wurden. Dabei hob man, was uns bei Fortsetzung der Reise mehr wie einmal auffiel, immer die Tatsache besonders hervor, dass es in der betreffenden Gegend keinen einzigen Armenier mehr gäbe.»3 Die deutschen Akten des Auswärtigen Amts sind voll von detaillierten Berichten über die Ausrottung der Armenier in ihren einstigen Hauptsiedlungsgebieten.

      Die größte Vernichtung der Armenier aus diesen Regionen geschah auf den Landrouten in Richtung Süden. Eine Eisenbahn gab es in diesen Landstrichen nicht, weil die Russen 1900 mit den ­Osmanen eine Konvention geschlossen hatten, im Bereich des Schwarzen Meeres Eisenbahnen nur auf eigene Rechnung zu bauen, wozu ihnen das Geld fehlte, oder die Konzession den Russen zu geben, die allerdings nicht das geringste Interesse hatten, das damals modernste Verkehrsmittel in Richtung Kaukasus und Russland zuzulassen.4

      Folglich betrafen auch die vom Ehepaar Sigrist bezeugten Untaten an der Bagdadbahn nicht die Armenier aus dem Nordosten, ihrem eigentlichen Siedlungsgebiet. Ohnehin wurde die Bagdadbahn erst Monate nach Beginn der Mordaktionen für Deportationen von Armeniern eingesetzt, und diese betrafen in erster Linie Armenier der Mitte Anatoliens und des Westens sowie aus der stark bevölkerten Provinz Kilikien.

      Die Verantwortlichen der Bagdadbahn versuchten, die Armenier als wichtige Angestellte und Arbeiter zu halten. Wo aber schon die deutsche Botschaft in Konstantinopel ziemlich machtlos war, ihre armenischen Angestellten vor der Vernichtung zu schützen, was nur in wenigen Fällen gelang, waren die Möglichkeiten der Eisenbahnverwaltung noch geringer. Hinzu kommt, dass der im türkischen Generalstab für die türkischen Eisenbahnen verantwortliche Offizier ein Deutscher war, Oberstleutnant Sylvester Böttrich. Über die Ohnmacht der Deutschen einerseits und den berüchtigten Eifer Böttrichs berichten die Akten des deutschen Auswärtigen Amts.

      Am 3. Oktober 1331 (entsprechend dem 28. Oktober 1915) schickte Kriegsminister Enver den Erlass an die Bagdadbahn, dass die Armenier bestimmter Regionen ihre Heimat zu verlassen hätten. Er verlangte die Anfertigung einer Liste der armenischen Eisenbahnmitarbeiter, «deren Anzahl hoch ist». Die Armenier wurden in zwei Gruppen eingeteilt, von denen die einen mit einer Frist von ein bis zwölf Monaten deportiert würden, die anderen innerhalb von ein bis vier Jahren. Ersetzt werden sollten diese Armenier durch Männer «natürlich muslimischer Religion oder anderer Völker, in die Vertrauen gesetzt werden könne».5

      Unterschrieben hatte Böttrich mehrere Deportationsbefehle. «Nicht nur, dass Herr Böttrich gegen die Kommissionsbeschlüs­se Verwahrung beim Kriegsministern nicht eingelegt hat, sondern er hat sich herbeigelassen, diese Kommissionsbeschlüsse mit seiner Unterschrift versehen weiterzugeben», schrieb daraufhin der Stellvertretende Direktor der Anatolischen Eisenbahn, die die Bag­dadbahn betrieb, Franz Günther, auf die Kopie einer dieser Verfügungen, die er der deutschen Botschaft zuschickte.

      «Unsere Gegner werden einmal viel Geld bezahlen», fügte Günther hinzu, «um dieses Schriftstück zu besitzen, denn mit der Un­terschrift eines Mitglieds der Militärmission werden sie beweisen, dass die Deutschen nicht allein nichts getan haben, um die Armenierverfolgung zu verhüten, sondern dass gewisse Befehle zu diesem Ziel sogar von ihnen ausgegangen, d.h. unterschrieben worden sind.» Mit «kaustischem Lächeln» habe der türkische Militärkommissar «den Finger auf die Unterschrift des Herrn Bött­rich gelegt, denn auch für die Türken ist die Tatsache kostbar, dass dieses Dokument, von dem noch viel die Rede sein wird, eine deutsche und nicht eine türkische Unterschrift trägt.»

      Es waren nur relativ wenige Armenier, die von der Bagdadbahn-Leitung vor dem sicheren Tod gerettet wurden. Es waren generell nur wenige Deutsche, die sich tatkräftig für die Rettung der Armenier eingesetzt hatten, und noch weniger höhere deutsche Offiziere. Nur einer – Militärmissionschef Otto Liman von Sanders – hatte wirkungsvoll interveniert und die Armenier und Griechen der Stadt Smyrna (Izmir) vor der Deportation gerettet, während die deutschen Spitzenoffiziere im Großen Generalstab, allen voran Generalstabschef Bronsart von Schellendorff, die Deportationen befürworteten und möglicherweise generalstabsmäßig begleiteten.

      Die wirkliche Rolle der deutschen Militärs in der Türkei wird in Deutschland wissenschaftlich praktisch nicht aufgearbeitet, auch weil das Auswärtige Amt aus Rücksicht auf Nato-Partner Tür­kei an diesem Verschweigen großes Interesse hat. So ist es umso wichtiger, dass Private wie das Ehepaar Sigrist durch ihre Aufzeichnungen dazu beitragen, die deutsche Beteiligung an dem Völkermord an den Armeniern aufzudecken. Sehr wichtig ist hier Clara Sigrist-Hiltys Tagebucheintrag vom 19. Februar 1916 dar­über, dass


Скачать книгу