"Man treibt sie in die Wüste". Dora Sakayan
Fevzipaşa–Diyarbekir übernommen hatte. Die Familie nahm Wohnsitz in Istanbul, wo die Söhne die Deutsche Schule besuchten. Noch in der Schweiz hatte Clara ihren Kindern die türkische Sprache beigebracht. Da die Arbeitsstelle ihres Mannes in der Türkei sehr abgelegen war, etwa tausend Kilometer von der Familie entfernt, war Clara beim Großziehen der Kinder in Istanbul ganz auf sich gestellt. Sie klärte die heranwachsenden Söhne auf über viele wichtige Dinge im Leben, vor allem über Hygiene und vorbeugende Maßnahmen gegen Krankheiten. Sie besprach mit ihnen Gott und die Welt, und es gab keine Tabus. Sie erzählte den Kindern von ihren Erlebnissen aus den Jahren des Weltkrieges, von den Deportationen der Armenier und erinnerte sich mit Schrecken an die vielen Krankheiten, an denen so viele Menschen starben: Ruhr, Cholera, Flecktyphus u.a.
Wägital 1923. Clara und Fritz mit ihren vier Söhnen.
Im Jahre 1930 erkrankte Claras Drillingskind Kaspar an Leukämie. Dagegen war sowohl die Mutter als auch die Medizin machtlos, und am 11. März 1931 verstarb Kaspar in Istanbul. Er wurde dort auf dem protestantischen Friedhof von Feriköy neben zwei anderen Schweizern begraben. Später hat Clara in ihren Notizen auch die Geschichte von Kaspars Krankheit eingehend geschildert.
Als 1934 die nationalsozialistische Ideologie auch in die Deutsche Schule von Istanbul eindrang, schickte Clara die Jungen auf eine Internatsschule in der Schweiz. Nach einem Jahr kehrte sie selbst in die Schweiz zurück, und ihr Mann folgte ihr im Jahre 1936. Von 1937 bis 1939 lebte Clara in Zürich, wo ihre Kinder ausgebildet wurden. Danach und bis zum Ende ihres Lebens lebte sie in der «Villa», in ihrem Elternhaus unweit des Werdenberger Schlosses.
Werdenberg 1975. Clara wird 90 Jahre alt.
Nach einem langen und erfüllten Leben verstarb Clara Sigrist-Hilty am 22. März 1988 in ihrem Geburtsort Werdenberg im Alter von 104 Jahren.
Einführung ins Tagebuch
Struktur, Sprache und Handschrift
Für ihre Aufzeichnungen benutzt Clara Sigrist-Hilty eine gedruckte Tagebuch-Ausgabe Reihe «Jahr für Jahr» von Walker’s, die für fünf Jahre eingerichtet ist. Das Fünfjahresbuch hat eine am Kalender orientierte feste Struktur. Seine 365 Seiten beginnen mit «Januar 1» und enden mit «Dezember 31». Jede Seite ist mit einer Linie in fünf übereinander liegende Abschnitte gegliedert, wobei jeder Abschnitt für einen Tag steht. Für den jeweiligen Tageseintrag verfügt man also nur über ein Fünftel der Seite. Die Jahreszahl wird vom jeweiligen Tagebuchbenutzer eingetragen. Man kann an einem beliebigen Jahrestag einsetzen. Startet man zum Beispiel am 5. Mai 1915, so wird im ersten Abschnitt der Seite «Mai 5» zunächst die Jahreszahl 1915 eingegeben und der erste Text eingetragen. Auf der nächsten Seite folgt dann «Mai 6», und nach der Eingabe der Jahreszahl 1915 kommt der zweite Eintrag. So bewegt man sich Seite um Seite fort, bis man am Ende des Jahres 1915 auf die letzte Seite des Buches gelangt. Für das Jahr 1916 kehrt man zum Anfang des Tagebuchs («Januar 1») zurück und benutzt den zweiten Abschnitt (von oben). So wächst das Tagebuch von Tag zu Tag, die unbeschriebenen Abschnitte bleiben als Leerstellen zurück; häufig sagt gerade das Fehlen des Textes etwas aus.
Der erste Januar 1914 bis 1918 im Tagebuch.
Es leuchtet ein, dass in einem solchen Tagebuch nicht genug Platz zur Verfügung steht, um einen Tagesablauf detailliert zu beschreiben. Doch gerade von seiner kompakten Struktur kann ein Fünfjahresbuch profitieren. Sein Benutzer lernt, mit wenig Zeitaufwand das Wesentliche des Tages festzuhalten, notfalls reichen auch hastige Notizen für eine Eintragung. Der ökonomische Umgang mit Zeit und Sprache erleichtert die Konstanz der Tagebuchführung sowie einen einheitlichen Charakter der Eintragungen. Außerdem zwingt die knappe Ausdrucksweise zu Genauigkeit und Sachlichkeit. Ein weiterer Gewinn ist, dass dieser Typ von Tagebuch am Ende einen Überblick über die Aufzeichnungen von mehreren Jahren auf derselben Seite zulässt.
Clara hat ihr Fünfjahresbuch nicht lückenlos gefüllt. Ihren ersten Text trägt sie 1914 noch in der Schweiz ein, beginnt aber – abgesehen von einem Gedicht am 1. Januar und zwei flüchtigen Notizen im Juni 1914, in denen sie ihre Anstellung im Spital in Grabs aufzeichnet – erst im September 1914 mit ihrer Tagebuchführung. Im ganzen Tagebuch gibt es nur eine Seite, die vom 1. Januar, in der alle fünf Abschnitte belegt sind. Aber auch von September 1914 bis April 1915 ist sie noch nicht die eifrige Tagebuchschreiberin, wie wir sie in den folgenden drei Jahren in der Türkei kennenlernen werden. In diesen sieben Monaten gibt es nur gelegentliche und meist lakonische Ein-Satz-Notizen, und die meisten Abschnitte bleiben leer.
Clara weiß vom begrenzten Raum ihres Tagebuchs sehr gut Gebrauch zu machen. Sie bedient sich einer ganzen Reihe von Abkürzungen. Die Konjunktion ‹und› ist fast durchwegs durch das &-Zeichen ersetzt. Oft steht ein ‹f.› für ‹für›, ein ‹v.› für ‹vor› sowie ‹v.› oder ‹z.› für die jeweiligen Kasusverbindungen der Präpositionen ‹von› und ‹zu› und ähnliches mehr. Gelegentlich werden auch längere, aber bekannte Wörter gekürzt, kl. für klein, Schw. für Schwester und vieles mehr. Mit der Zeit eignet sie sich einen sparsamen, sachlich-deskriptiven Stil an, der ausdrucksvoll ist. Präzise Kurzsätze jeglicher Art – bald einzelne Nomen oder Infinitive, bald längere, doch meist elliptische Sätze – verschaffen dem Leser Zugang zu Claras Gedanken und Gemütsbewegungen.
Teils wegen des mangelnden Platzes, teils wegen Claras zurückhaltender Natur wird im Tagebuch – ausgenommen die Seiten, wo es um ihren Erstling Karlfrideli geht – nicht viel Persönliches und Intimes festgehalten. Auch sind Werturteile selten. Nur an zwei Stellen ihrer ganzen Tagebuchführung kann sie nicht umhin, die Grenzen des ihr zugeteilten engen Raums zu sprengen, um ihrem Herzen Luft zu machen. Sie ist dann auf den Anhang des Tagebuchs angewiesen, wo ihr einige leere Seiten unter der Überschrift «Memorandum» zur Verfügung stehen. Dort nimmt sie sich die Freiheit und hat auch genug Platz, Dinge offen und eingehend anzusprechen. Sie greift auf ihre Einträge vom 21. Januar 1916 und vom 17. Juni 1916 zurück, erweitert den einen und schreibt den anderen Eintrag neu. Hier lässt sie als Augenzeugin ihrer Feder freien Lauf und prangert den moralischen Verfall türkischer Machthaber an. Dabei handelt es sich um Gewalttaten nicht nur gegen Armenier. In der ersten Episode beschreibt Clara als Augenzeugin eine «Bastonnade», eine mittelalterliche Strafe des Orients, die unter ihrem Fenster von einem türkischen Offizier seiner eigenen Mannschaft gegenüber angewandt wird. Die Soldaten, die dieser körperlichen Züchtigung unterzogen wurden, hatten es gewagt, Krankheitsurlaub zu beantragen.
Die zweite Episode schildert, welcher unmenschlichen Behandlung der Polizeichef, der «Henkersknecht», wie Clara ihn nennt, eine kleine Gruppe von schwerkranken armenischen Frauen und Kleinkindern aussetzt. Clara und Fritz, nachdem sie der Gruppe Brot und Wasser verabreichen ließen, sind nun «präsent» bei der Gruppe und wollen helfen. Eine unverzügliche Hospitalisierung dieser armen Menschen ist erforderlich, und Fritz lässt für deren Transport Tragtiere kommen. Doch der türkische Polizeichef, der gerade vorbeikommt, schickt die Tragtiere weg. «Leute, die nicht 10 Schritte gehen können ohne umzusinken», schreibt Clara am 17. Juni 1916,«[will] man zum Aufbruch zwingen», damit sie sich zu Fuß zum Hospital schleppen. Erschüttert angesichts der Unmenschlichkeit, die «das eigene Herz in grausamer Wirklichkeit erlebt», wird Clara hier sehr kritisch, und erst an dieser Stelle wird es dem Leser bewusst, wie zurückhaltend die Autorin ansonsten ist.
Clara bedient sich der üblichen Handschrift ihrer Zeit, der Kurrentschrift oder der «gotischen Handschrift» mit fließenden Abgrenzungen und ineinander verschlungenen Schriftzeichen. Ihre geradezu kalligrafische Handschrift der Briefe und des Augenzeugenberichts erweckt in ihrer schönen Gleichmäßigkeit den Eindruck einer gebildeten, organisierten und gepflegten Persönlichkeit. Das Tagebuch bietet meist ein anderes Bild: Die Zeilen, in aller Eile eingetragen, sind unregelmäßiger, schwieriger zu entziffern oder gar unleserlich. Aber der Aufwand für die mühsame Entzifferung