"Man treibt sie in die Wüste". Dora Sakayan


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seiner Deportationsbefehle sicherzustellen. Nach diesem Hochtreffen, so Clara Sigrist, «muss er [Fritz] noch mehr ins Büro. Nun pressieren die Listen von den Armeniern: noch weiß man nicht, wen man behalten kann. Aber die Ausweisung scheint streng genommen zu werden.»

      Mit armenischen Deportierten vollgestopfte Hammelwagen der Bagdadbahn waren ein Symbol der deutschen Mitverantwortung oder genauer: des deutschen Versagens, die Vernichtung der Armenier zu verhindern. Ein Jahrhundert sollte es dauern, bis die höchste Vertretung aller Deutschen, der Bundestag, einmütig den Mut fand, die armenische Tragödie im Osmanischen Reich als das zu bezeichnen, was sie war: ein Völkermord. Auch auf die deutsche Mitschuld legten sich die deutschen Parlamentarier fest, ohne sie genauer zu benennen. Damit gaben sie ein starkes Signal an die deutschen Bundesländer und Universitäten, das Tabu des Ver­schwei­gens nicht länger zu dulden. Der Genozid an den Armeniern und die deutsche Rolle dabei gehören – gerade wegen der Ab­sicht der Türkei, die Kinder von drei Millionen Türken in Deutschland oder Deutschen türkischer Herkunft weiterhin von der Wahrheit fernzuhalten – in die deutschen Schulbücher und an die deutschen Universitäten. Das Buch von Dora Sakayan ist ein wichtiger Beitrag dieses herauszuarbeitenden Gesamtbilds des Völkermords an den Armeniern und seiner Haupt- und Mitschuldigen.

      Ein unschätzbarer Fund aus dem Archiv

      Clara und Fritz Sigrist-Hiltys Dokumente zum Armenier-Genozid

      Im Sommer 2002 übersandte mir ein Schweizer Kollege und Freund, der mit meiner Sensibilität für das Thema Völkermord vertraut war, einen Beitrag nach Montreal, der in jenen Tagen im Zürcher «Tages-Anzeiger» erschienen war.6 Redaktor Daniel Suter brachte auf einer ganzen Seite des Blattes eine noch unveröffentlichte Schrift der Schweizerin Clara Sigrist-Hilty, die sich im Jahr 1915 in der Türkei befunden und die dortigen Gräuel des Völkermords schriftlich festgehalten hatte. Suter spricht ganz allgemein von Claras Tagebüchern aus dieser Zeit und konzentriert sich dabei auf ihren fünfzehnseitigen handgeschriebenen Augenzeugenbericht unter dem Titel «Sommer 1915», der eigens dem Genozid an den Armeniern gewidmet ist und separat von ihren Tagebucheinträgen verfasst wurde.

      Dieser im Zentrum stehende Bericht von Clara Sigrist-Hilty ist gekürzt wiedergegeben; er enthält an mehreren Stellen Hinweise auf Auslassungen. Dies beeinträchtigt keineswegs den klaren Einblick in die beschriebenen Ereignisse, die heute schon mehr als hundert Jahre zurückliegen. Dazu verhilft die von Suter unternommene Gliederung des Textes in inhaltliche Abschnitte, die von ihm einfühlsam betitelt werden. Beigefügte kleine, jedoch informationsreiche Rubriken zur Person der Autorin, zur Kultur, Religion und Geschichte des armenischen Volkes und des an ihm verübten Völkermordes, ein Foto aus der Zeit der Deportationen und eine historische Karte von Armenien vervollständigen die Seite. Zwei Faktoren sind bei Redaktor Suter nicht zu übersehen: Ehrerbietung für Clara Sigrist-Hilty, die Autorin des Berichts, und Kenntnis der Geschichte.

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      Mit 87 Jahren vermacht Clara Sigrist-Hilty das Tagebuch einer ihrer Enkelinnen.

      Tief beeindruckt von Claras Schrift, las ich sie mehrere Male. Ich war fasziniert von ihrer gepflegten Ausdrucksweise, die klar und präzise ist; von ihrem geschmeidigen Stil und ihren lebendigen Schilderungen, die von hohem Bildungsstand und einer zutiefst menschlichen Art zeugen. Wer war Clara Sigrist-Hilty? Aus den wenigen biografischen Angaben in Suters Beitrag kannte ich nun ihren Geburtsort (Buchs-Werdenberg, Schweiz) und ihre Lebensdaten (1884–1988). Ich wusste auch, dass sie ausgebildete Kran­kenschwester war und im Jahr 1915 ihrem Mann, dem Bauingeni­eur Fritz Sigrist-Hilty, der beim Bau der Bagdadbahn tätig war, gleich nach ihrer Trauung in die Türkei folgte.

      Über die Jahre ließ mein Interesse an Claras schriftlichem Nachlass nicht nach. Wie sehr wollte ich ihr Tagebuch und ihren unge­kürzten Augenzeugenbericht lesen! Beide Schriften im Original in meinen Händen halten, ihre Handschrift, ein Foto von ihr sehen, auch Näheres über ihren Lebenslauf, über ihre in der Türkei verbrachten Jahre erfahren. Doch lange konnte ich weder in Schweizer Bibliotheken noch im Internet etwas ausfindig machen.

      Meine wiederholte Suche im Netz führte mich schließlich im Frühling 2012 zum inzwischen erst digitalisierten Jahresbericht 2005–2006 des Archivs für Zeitgeschichte (AFZ) der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ).7 Sie brachte unter den «Neuzugängen und Nachlieferungen» auch eine Mitteilung zum «Teilnachlass Fritz und Clara Sigrist-Hilty». Rudolf (Ruedi) Sigrist-Clalüna, einer der Söhne des Ehepaars, hatte im Jahre 2005 einen Teil des Nachlasses seiner Eltern dem AFZ zur Verfügung gestellt. Der kurze AFZ-Artikel enthält auch ein gut erhaltenes Foto des neuvermählten Ehepaars Sigrist-Hilty aus dem Jahr 1915.8 Clara und Fritz sitzen, beide noch blutjung, an einem Tisch in ihrem exotisch eingerichteten Heim in Keller (heute Fevzipaşa) in der südöstlichen Türkei. Im AFZ-Artikel wird einleitend die bedeutende Rolle der Eheleute als Zeugen des Völkermords an den Armeniern hervorgehoben:

      «Der an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich begangene Völkermord, welcher rund eine Million Opfer forderte, wird bis heute trotz der anders lautenden histo­rischen Belege immer wieder in Zweifel gezogen. Umso wertvoller sind Aufzeichnungen von Augenzeugen wie Fritz und Clara Sigrist.»

      Ich wusste nun, wo ich mich nach dem gesuchten Material erkundigen konnte. Die Anfrage beim AFZ erbrachte in digitalisierter Form eigentlich alles, was ich mir ursprünglich gewünscht hatte: Claras Tagebuch und ihren vollständigen Augenzeugenbericht, beides in Kurrentschrift, sowie drei Fotos des Ehepaars aus derselben Zeit.

      Doch ich war unersättlich. Während meiner elektronischen Korrespondenz mit den hilfsbereiten Mitarbeitern des AFZ hatte ich inzwischen erfahren, dass es eine reichhaltige Dokumentation der Einzelbestände und Nachlässe zur Familiengeschichte des Ehepaares Fritz und Clara Sigrist-Hilty gab und dass ich eine digitalisierte Version von allen Einzelbeständen gegen eine minimale Gebühr erhalten konnte. Voller Begeisterung bestellte ich die ganze verfügbare Dokumentation, die nach einer Wartezeit von einigen Monaten im Juni 2013 auch eintraf.

      Natürlich war meine Freude grenzenlos, besonders, als ich mir vergegenwärtigte, dass das AFZ-Team den nun aus 16 Teilen beste­henden Teilnachlass sorgfältig dokumentiert, thematisch und zeitlich gegliedert und nach einem gebrauchsfreundlichen System geordnet hatte. Dankbar erfuhr ich später, dass die ganze Sigrist-Dokumentation im AFZ eigentlich auf meine Anfrage hin digitalisiert worden war.

      Ein wichtiger Fund war mir beschert worden, und ich musste mich schnell an die Arbeit machen, um aus der überwältigenden Fülle an Materialien das für mich Bedeutsame auszusondern. Und was war für mich bedeutsam? Belege, Aussagen, Beweisstücke, welche die Angaben der einschlägigen Literatur zum Genozid an den Armeniern, und ganz speziell zu dessen Verlauf in der Amanusgegend, bekräftigten bzw. ergänzten. Auch musste ich in den mir verfügbaren Archivbeständen den für mich maßgeblichen zeitlichen Rahmen abstecken. So beschloss ich, mich auf die Zeit ab dem Jahr 1915 zu konzentrieren. Das war das Jahr, so unterrichteten mich die Unterlagen, in dem das neuvermählte Ehepaar aus der Schweiz – fast direkt vom Traualtar und über die Bedenken der Eltern hinweg – in die Türkei reiste, die vor einigen Monaten in den Ersten Weltkrieg eingetreten war. Wir können verfolgen, wie sich die jungen Eheleute nach einer langen und strapaziösen Reise in die Südost-Türkei zunächst in Entilli9 und einige Monate später in einem weltabgeschiedenen Häuschen an einem Berghang in Keller / Fevzipaşa niederlassen. Keller war ein Eisenbahnknotenpunkt am Fuß des Amanus-Gebirges im historischen Land von Kilikien.10

      Kurze Zeit nach der Ankunft des Schweizer Ehepaars begannen die Deportationen der Armenier, und eine der Hauptrouten für diese Todesmärsche in die syrische Wüste zog sich durch Keller. Monatelang musste Clara – während ihr Mann auf der Bahnstrecke tätig war – tagein, tagaus die Leiden der an ihrem Häuschen vorbeiziehenden Armenier sehen. Es ist daher nicht von ungefähr, dass es im Nachlass von Sigrist-Hilty ab dem Jahr 1915 kaum Dokumente gibt, die nicht in irgendeiner Form vom türkischen Völkermord an den Armeniern geprägt wären.

      Die größte Überraschung in den Unterlagen der Sigrist-Hilty- Dokumentation war für mich ein armenisches Buch. Der Autor ist Professor Haig A. Aramian, und das Buch enthält


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