"Man treibt sie in die Wüste". Dora Sakayan


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      Claras Sprache ist das Schweizer Hochdeutsch mit einer gewissen Beimischung mundartlicher Formen, die ihrem Stil eine angenehme persönliche Note verleihen. Helvetismen wie Morgenessen oder Zmorgen für Frühstück, Znüni für Pausenbrot und Nachtessen oder Znacht für Abendessen sind gemeinsprachlich verständlich. Der durch Häufigkeit auffallende Gebrauch von Diminutiva mit dem Verkleinerungssuffix -li oder -i hat einen volkstümlichen Klang. Gewöhnliche Alltagswörter hören sich gut an, und Wörter wie Hüsli für Haus, Weibli oder Fraueli für Frau, Büdeli für Bude müssen nicht unbedingt gefühlsbetont sein, doch wir schließen von ihnen auf Claras gute Stimmung. An anderer Stelle reflektieren solche Formen Gefühle der Intimität und Zärtlichkeit, bei Büebli für Bube, Schätzli für Schatz, s’Müetti für Mutter, Margelchöpfli für ihren Lieblingsberg Margelkopf und so weiter. Ein Satz wie «Jörgli erkennt sein Tanteli» ist gefühlsgeladen. Dass Diminutiva bei Clara eine lebensbejahende, positive Bedeutung haben, ist daraus zu erkennen, dass diese kaum in Einträgen vorkommen, in denen sie düstere Bilder, wie etwa die des Genozids, schildert.

      Selbst bei hastigem Notieren fließt die Sprache und ist orthografisch einwandfrei. Fast keine Flüchtigkeitsfehler, so gut wie keine Korrekturen. Besonders beeindruckend ist bei ihr die orthografische Korrektheit der vielen Orts- und Personennamen. Vor Personennamen führt sie meist die zugehörige Grad-, Amts- und Berufsbezeichnung an, die bei wiederholtem Gebrauch unverändert bleibt: Oberingenieur Winkler, Oberstleutnant Böttrich, Dr. Kant, Nilquellenerforscher, Prof. Kirchner, deutscher Archäologe, Oberstabsarzt Dr. Schacht, General Falkenhayn, Baron v. Op­pen­heim, Nuri Bey, Abgeordneter Abdul Rahman Pascha, Oberstleutnant, Ge­neralstabschef Kretschmar, Etappenmajor Hilfiker, Direktor Ha­senfratz usw. Diese Tatsache hat mir die Suche nach den Namen dieser Persönlichkeiten in der einschlägigen Literatur sowie im Internet sehr erleichtert.

      Beim Entziffern der Einträge hat mich noch etwas überrascht: Bei Personennamen bedient sich Clara statt der Kurrentschrift der Lateinschrift, und zwar konsequent, was mir viel Mühe erspart hat. Das warf für mich anfangs viele Fragen auf: Hat sie sicherstellen wollen, dass alle Eigennamen unbedingt leserlich sind? Wusste sie, dass sie für die Nachwelt schrieb? Inwieweit war ihr die Bedeutung dieses Tagebuchs bewusst? Erst neulich erfuhr ich, dass man in jenen Zeiten häufig in einem kurrentschriftlichen Text bei Eigennamen die Lateinschrift gebrauchte.

      Verlobung, Hochzeit und Hochzeitsreise

      Wie knapp auch immer Ihre Notizen sind, Clara ist eine gute Erzählerin, und man kann ihrem mehrjährigen Tagebuch eine in sich stimmige Schilderung eines Lebensabschnitts entnehmen.

      Im September 1914 lernte Clara durch ihre Freundin Lis deren charmanten Bruder kennen, Bauingenieur Fritz Sigrist, und im September 1914 begann sie auch, Tagebuch zu führen.22 Am 6. September lesen wir einen einzigen Satz: «Lis und Herr Sigrist bei uns im Hüsli.» Wie die meisten Tagebuchschreiber – man glaubt ja, nur für sich zu schreiben – deutet Clara bloß an, und erst aufgrund ihrer Biografie können wir heute aus ihren knappen Aufzeich­nun­gen auf die Zusammenhänge schließen. Und so schlussfolgern wir, dass in jenen Tagen Fritz um Clara warb und dass es ihr schwerfiel, sich zu entscheiden. «Von Zögern und Zagen ist zerris­sen der Sinn», heißt es in einer Liedstrophe, die sie am 8. September 1914 einträgt. Tage darauf ist stichwortartig von zwei Briefen von «Herrn Sigrist» die Rede, und Clara scheint von ihrem Inhalt nicht sonderlich erbaut zu sein. Kein Wort darüber, worum es ging oder was sie ins Wanken brachte. Aber auch hier ist es aufgrund unserer heutigen Kenntnisse nicht schwer, Vermutungen anzustellen. Es ging wohl um die Anstellung des Bauingenieurs Fritz Sigrist, der von 1910 bis 1914 beim Bau der Bagdadbahn in der Türkei tätig gewesen war und dessen Vertrag für das Jahr 1915 erneuert worden war. Fritz sollte bald wieder in die Türkei zurückreisen, und im Falle einer Eheschließung hätte Clara ihm folgen müssen.

      War sie zu einer so grundlegenden Lebensumstellung bereit? War es ratsam, zu Kriegszeiten ins Ungewisse zu ziehen? Würde sie es nicht später bereuen, wenn sie ihre vor nur wenigen Monaten erworbene und geliebte Stelle als Krankenschwester im Spital des heimatlichen Grabs aufgeben würde? Am 8. September 1914 schreibt Clara: «Das ganze Spitalglück auf einmal dahin … » Nach langem Schweigen, d.h. nach vielen leeren Abschnitten im Tagebuch, notiert sie am 26. September: «Trostloses Sich-nicht-entschließen-Können. Heute glaub ich bestimmt, Nein sagen zu müssen.» Doch nach dem dritten Brief von «Herrn Sigrist» mit der Nachricht, dass er «morgen komme», ändert sich alles. Am 30. September liest man schon zwischen den Zeilen Claras Ja-Wort: «Prachtsonnentag, und Fritz bringt die ersten Rosen.» Am 11. Oktober kommt Lis zu Besuch: «Lis bei mir. Das ganze Stübli voll Nelken und Rosen.» Und man muss annehmen, dass am 14. Oktober im Haus der Hiltys der Bund offiziell gefestigt wird, denn es heißt: «Fritz bringt Papa, Mama, Ida, Ruedi und Herbert mit ins Hüsli. Abends reise ich mit nach Netstal zurück.» Am nächsten Tag, dem 15. Oktober, wird die Verlobung von Clara und Fritz «beim Zivilstandesamt» angemeldet, und von da an bis zum Frühling 1915 wird nicht viel ins Tagebuch eingetragen. In den wenigen Notizen ist der Name Fritz meist präsent: gemeinsame Spaziergänge durch die malerische Werdenberger Gegend, Reisen durch das Heimatland, Konzertbesuche in Zürich, Visiten bei Verwandten u.a. Clara wirkt glücklich und ausgeglichen, ohne es ausdrücklich anzugeben. Erst im April 1915 beginnt Clara ihre regelmäßige Tagebuchführung. Es sind aufregende Zeiten, und alles ist emotional geladen: die Vorbereitungen für die Hochzeit und die bevorstehende große Reise in die Türkei. In diesem Lebensabschnitt braucht sie das Tagebuch. Ihre Einträge werden länger, der verfügbare Platz zum Schreiben reicht ihr nicht mehr, und ihre Handschrift verkleinert sich dort, wo sie möglichst viel unterbringen will. Unbeschriebene Flächen gibt es kaum mehr.

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      Werdenberg 1914. Fritz Sigrist

      und Clara Hilty anlässlich der Verlobung.

      In den zwei Wochen zwischen Ziviltrauung (12. April 1915) und kirchlicher Trauung (26. April 1915) sehen wir Clara bald in freudiger, bald in melancholischer Stimmung. «Ein intensiveres Ausgenießen der letzten Tage», schreibt sie am 19. April 1915. Nach der Ziviltrauung werden Anstands- und Abschiedsbesuche ab­gestattet. Sie verbringt viel Zeit mit den Ihrigen, mit ihrer Schwester Hanneli und deren Kleinkindern Jörgli und Vreneli, und dann: «Mit H. Besuch auf dem Friedhof.» Am 23. April erklärt Clara: «Schlafe zum letzten Mal in meinem Budeli.» Und zwei Tage vor der Abreise: «Schlafe neben Mama und Papa und bin lange wach.» Und einen Tag darauf, am Vorabend ihrer Hochzeit: «… die letzte Nacht daheim. Ich sehe den Margelkopf im Dunkeln leuchten.»

      Zusammen mit ihrer Mama kocht und backt sie viel. Hochzeitskuchen und Guetzli geraten fein, und beinahe sich selbst trös­tend schreibt sie am 24. April: «Alles gelingt, und alle sind vergnügt (…) Die Vorbereitungen verdrängen die Abschiedsgedanken.» Blumen, viele Blumen kommen an. Clara liebt Blumen und Pflanzen, sie bringen ihr Trost, verscheuchen die trüben Gedanken. Sie schmückt das ganze Haus mit Blumen und Blüten.

      Der April 1915 ist ein schicksalsschwerer Monat für die ganze Welt. Der Erste Weltkrieg tobt, und viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden begangen. Die Türkei, als Verbündete Deutschlands in den Krieg verwickelt, ist sicher nicht das ideale Land für eine Hochzeitsreise. Dennoch beschließen die jungen Leute, vom Traualtar weg in dieses Land zu reisen, und setzen sich über die Bedenken ihrer Eltern hinweg. Niemand wusste damals, dass gerade zu dieser Zeit die Türkei im Schatten des Weltkrieges auch den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts begehen würde.

      In Claras Eintrag vom 24. April 1915 lautet der erste Satz: «Der Himmel macht immer sein traurigstes Gesicht.» Beim Entziffern dieses Satzes schauderte ich. Warum?

      Es ist klar, dass Clara hier den düsteren Himmel vor dem Hintergrund ihrer eigenen traurigen Stimmung wahrnimmt. Wie hät­te sie auch ahnen können, dass in Konstantinopel in der Nacht des 24. April die erste Welle von Massenverhaftungen und Hinrichtungen von armenischen Intellektuellen, berühmten Schriftstellern, Wissenschaftlern und Geistlichen, von Mitgliedern der gesamten örtlichen Prominenz stattgefunden hatte?23 Und dass dadurch die jungtürkische Regierung die armenische Bevölkerung in ganz Anatolien enthauptete und damit den Weg zum Völkermord an der gesamten armenischen Bevölkerung im Osmanischen


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