"Man treibt sie in die Wüste". Dora Sakayan
zuzuschreiben. Besonders markant ist das Wort «immer» in diesem Satz, obwohl damit Clara etwas ganz anderes meint.24 Denn seit dem Jahr 1915 ist der 24. April weltweit zum nationalen Trauertag aller Armenier geworden. Clara Sigrist konnte das alles natürlich nicht wissen. Auch konnte sie nicht voraussehen, wie sehr dieser Völkermord sie selbst betreffen würde. Gleich bei ihrer Ankunft in der Türkei würde sie die Auswirkungen dieser menschlichen Tragödie in Form von «unendlichen Durchzügen von ausgewiesenen Armeniern» erleben und sich verpflichtet fühlen, darüber Zeugnis abzulegen. Die schrecklichen Erfahrungen des Genozids würden ihre Flitterwochen trüben. Mehr noch: Das Erlebte würde beide, Clara und Fritz, zeit ihres Lebens belasten.25
Gemäß meinem Hauptanliegen, in Claras Tagebuch Aufzeichnungen in direktem und indirektem Zusammenhang mit dem Genozid an den Armeniern zu finden, war die Zeit ab April 1915 auch für mich von besonderem Belang. Von hier an begann ich Claras Handschrift sorgfältig zu entziffern und abzutippen, wenn auch ohne die Erwartung, schon in ihren Aprileinträgen etwas zum Völkermord zu finden. Zu jener Zeit wollte ich lediglich Clara bei ihrer Reise nach Anatolien begleiten und auch ihren Lesern erste Eindrücke im neuen Land vermitteln.
Im Bewusstsein, dass Claras Zeugnisse zum Genozid im Tagebuch erst im Kontext anderer, auf den ersten Blick eher unwesentlicher «Alltäglichkeiten» sinnvoll werden, begann ich mit dem Transkribieren der – fast – sämtlichen Einträge ab dem April 1915 bis Ende 1916. Denn das war die für den Völkermord kritische Zeit. Von den Jahren 1917 und 1918 nahm ich nur, was für mein Thema bedeutsam war. Bei den einzelnen Einträgen, die ich möglichst wortgetreu transkribierte, nahm ich mir bestimmte Freiheiten: die Abkürzungen wurden ausgeschrieben, gelegentlich wurde Nebensächliches und Unentzifferbares weggelassen. Es ging mir nicht um eine wissenschaftlich-kritische Ausgabe des ganzen dreijährigen Tagebuchs, bei der Präzision und Vollständigkeit vorrangig wäre. Es war eine empirische Suche nach wichtigen Tatsachenmaterialien über den Genozid.
Am Tage nach ihrer Trauung26 in Werdenberg treten Clara und Fritz ihre «Hochzeitsreise» in die Türkei an. Sie fahren zunächst mit der Eisenbahn durch das mitteleuropäische Kriegsgebiet, machen einen kurzen Halt in Wien und Budapest, dann geht es weiter über den Balkan nach Konstantinopel. Am 2. Mai 1915 schreibt sie: «Verwundete und Flüchtlinge. Trostloser Anblick an den Bahnhöfen, Bihargebirge. Dann Blick auf die Schneeberge. Erster großer Zoll. Predeal. Vorrücken der Uhr um eine Stunde. Der Orient macht sich unangenehm bemerkbar.» Wegen der Militärtransporte dauert die Reise von der Schweiz bis Konstantinopel etwa zwei Wochen. Doch Clara hat immer ein Auge für schöne, exotische Szenen, für Landschaftsbilder, für die Tier- und Pflanzenwelt, und das lenkt sie von all dem Traurigen der Kriegszeit ab. Am 5. Mai 1915 schreibt sie: «Bulgarisch-türkische Dörfer. Pflügende Bauern in farbigen Trachten. Ganze Schwärme von Störchen. Schwertlilienfelder. Unser Zug hält überall der Militärtransporte wegen. Wir begegnen endlos langen Militärzügen. Adrianopel. Moschee in der Abendsonne.»
In Konstantinopel wird das Ehepaar von der Leitung der Bagdadbahn, aber auch von Verwandten und Freunden groß empfangen. Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten in Konstantinopel und Umgebung folgen. Leider sind alle Museen wegen des Krieges geschlossen.
Die Weiterreise bis zu ihrem Endziel im Amanusgebirge ist strapaziös. Über längere und gefährliche Transportwege mit wechselnden, meist rückständigen und unbequemen Verkehrsmitteln reisen die Neuvermählten von Konya nach Bozanti und dann nach Adana mit dazwischen meist schäbigen Übernachtungsumständen. Doch verliert Clara das exotisch Bezaubernde der wilden Gegend nicht aus dem Auge und hält es im Tagebuch fest. Gewürdigt werden auch die liebenswürdigen Kollegen von Fritz, die sie bei jeder Eisenbahnsektion herzlich empfangen: Im Taurusgebirge, in Karapunar werden sie vom Schweizer Ingenieur Karl Leutenegger mit dem Wagen abgeholt,27 in Adana vom deutschen Oberingenieur Johannes Winkler28 empfangen, in Airan von einem anderen Schweizer, Walter Morf,29 und in Entilli vom Schweizer Franz Köppel30. Im entlegenen Entilli31 lassen sich die Neuvermählten zeitweilig nieder. Nach fünf Monaten ziehen sie in ihren endgültigen Wohnsitz in Keller um. Dort wohnen sie bis zum Ende ihres ersten Türkei-Aufenthalts Anfang April 1918 in einem abgelegenen Häuschen auf einer Anhöhe am Fuße des Amanus-Gebirges in Kilikien.
Das Haus am Felsenhang in Keller / Fevzipaşa.
Das Leben in Anatolien
Mein Unterfangen, die Aufzeichnungen der ersten beiden Jahre ihres Aufenthalts in der Türkei fast vollständig zu erschließen, verfolgte auch ein weiteres Ziel. Der Leser soll sich einen Einblick verschaffen können in den Alltag des neuvermählten Schweizer Ehepaars, welches das Leben in eine weltentrückte Gegend der Türkei verschlagen hatte, samt der Schwierigkeiten, die mit dem Krieg zusammenhingen und die selbst für Fritz neu waren. Dabei kam Fritz mit Vorkenntnissen ins Land und kannte auch die Sprachen: Sein Arabisch war gut, er konnte auch etwas Türkisch. Doch war für die aus einer bürgerlichen Familie stammende, vornehme und gebildete Werdenbergerin alles fremd: Land und Leute, Sitten und Bräuche, das raue Klima, die Landessprachen und vieles mehr. Es galt nun zu verfolgen, wie die kühne Schweizerin die so ungewöhnlichen Umstände bewältigte, was ihr gefiel, was missfiel, und wie sie sich allmählich den neuen Verhältnissen anpasste. Und all dies kann man – selbst wenn man keinen Zugang zu ihren ausführlichen Briefen hat – ihren knappen, aber regelmäßigen Tagebuchnotizen entnehmen.
Schon ihre ersten Aufzeichnungen in der Türkei zeigen Clara als lebenstüchtige Frau. Im ersten Monat ihrer Ankunft sehen wir, wie sie Butter aus- und Früchte einkocht, draußen Wäsche bügelt, den eigenen Wein herstellt und, wenn es sein muss, ihr Bad im Erdölfass nimmt. Natürlich nicht ohne Hilfe, denn Fritz hat sie mit dem nötigen Dienstpersonal versorgt. Sie hat die Haushalthilfe Kohar32, die Diener Joggel33 und Mussa34. Außerdem hat das Ehepaar einen armenischen Gärtner samt Familie und auch Bekir, den türkischen Wächter, im Tagebuch «Begtschi»35. Gleich am Anfang im Juni 1915 beginnt Clara das Personal «mühsam mit Gesten und dem Wörterbuch in der Hand» anzulernen, aber dadurch auch selbst Türkisch zu lernen. Wir sehen, mit welcher Kreativität sie ungeachtet des Mangels an so vielen Dingen des täglichen Bedarfs zuerst ein Haus in Entilli und nach fünf Monaten ein zweites in Keller zu ganz «heimeligen» Wohnstätten herrichtet. Ihr großes Anpassungsvermögen kann man solchen Sätzen entnehmen wie «Im Stübli ist es warm und heimelig. Es muss zwar überall Geschirr untergestellt werden» (27. November, 1915). Doch es geht, denn sie hat schon Schlimmeres erlebt: «Es tropft auf meinem Bett» (12. November, 1915).
Zu Beginn ist Clara ganz benommen von der wilden Schönheit der kilikischen Berglandschaft, in der vieles sie an ihre heimatliche Alpennatur erinnert. Begleitet von Mussa, Joggel oder eines Kawassen36 geht sie täglich auf Wanderungen durch die Gegend, häufig auf der Suche nach seltenen Pflanzensamen und verschiedenen wilden Alpenblumen, und alle Namen sind ihr bekannt: Zyclamen, Krokus, Narzissen, Iris und Azaleen, Anemonen, Löwenmaul, Primeln und Orchideen. Wenn Fritz frei hat, machen sie zu zweit Ausritte oder Wanderungen, erkunden die Gegend, interessieren sich für Ethnographisches und Historisches im altertümlichen Kilikien. Zuweilen besuchen sie eines der vielen Kurdenhäuser in der Gegend, und Clara, beeindruckt von kurdischen Ritualen, beschreibt in ihrem Tagebuch und in ihren Briefen ihre Hochzeiten und Begräbnisse. Von ihrem Fenster aus oder von der Veranda ihres auf einer felsigen Anhöhe stehenden Häuschens kann sie fremdländische Szenen beobachten: Karawanen mit Kamelen, Araber mit schönen Pferden, Beduinen- und Zigeunerlager und vieles mehr. Begeistert schreibt sie darüber im Tagebuch und in ihren Briefen nach Hause. Doch Keller ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt mit einer Etappenstraße, die sich durch die Ebene zieht, und bald zeigt dort das Kriegsgeschehen sein hässliches Gesicht: reger Militärverkehr, «Ulanen, Kavallerie, Infanterie». Transporte «von deutschem Militär mit großen Geschützen», Durchzug von englischen und indischen Gefangenen mit Vorführung von erbeuteten englischen Fahnen, Jagd nach Deserteuren mit Schießereien und unbegrabenen Toten und vieles mehr. Das alles bedrückt Clara. Am 1. August 1915, dem Feiertag der Schweizerischen Eidgenossenschaft, dringt der Krieg auch in ihr privates Leben ein, und sie schreibt: «Mein kleiner Tisch [draußen] ist von einer Kugel durchbohrt.»