Tanner. Urs Schaub

Tanner - Urs Schaub


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      Ich bin gestern Nachmittag schon hierher gekommen, um mein Medaillon zu suchen. Zwei Stunden habe ich gesucht, weil ich überzeugt war, dass die Kette beim Sturz gerissen ist. Ich bin auf meinen Knien herumgerutscht! Greifen Sie mal an meine Knie! Die Hose ist jetzt noch feucht.

      Sie greift nach seiner Hand.

      Bevor sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen kann, stellt er sie allerdings auf den Boden. Das heißt, er zieht seinen Arm unter ihrem Hintern einfach weg. Sie aber hält ihren Arm eng um seinen Nacken geschlungen, so dass ihr Körper zwar an ihm hinuntergleitet, wobei er mehr von ihrem Körper spürt, als ihm lieb ist, aber ihre Stiefel erreichen deswegen den Boden noch lange nicht, denn Rosalind ist ein ganzes Stück kleiner als er.

      Unbeabsichtigt geben die beiden für einen Augenblick lang das perfekte Bild eines Liebespaares ab. Dazu bräuchte ein Beobachter keine Fantasie.

      Tanner spürt das, als ob er gleichzeitig selber der Beobachter wäre.

      Zudem stehen sie noch erhöht auf der Grabplatte, denn als sie ihn angesprungen hatte, musste er einen Schritt zurückweichen. Man hätte sie sofort in Öl malen können. Bildunterschrift: Der Alte und das Mädchen. Oder, falls der Maler auf ihre Kleider verzichten würde: Faun mit Jungfrau …

      Tanner wird sich so genau an dieses Bild erinnern, weil ausgerechnet in diesem Augenblick ein Auto am Friedhof vorbeirast. Tanner und Rosalind drehen beide gleichzeitig ihre Köpfe, erschreckt durch das plötzlich Dröhnen des Motors.

      Sie sehen, wie durch das Rückfenster des schwarzen Golf GTI's ein bleiches Gesicht sie böse anstarrt. Etwa hundert Meter weiter hält der Golf plötzlich an, steht eine Weile still, lässt dann seinen Motor aufheulen und braust weiter.

      Das Stehenbleiben auf offener Straße wirkte wie eine Drohung.

      Rosalind löst erst jetzt ihren Arm von seinem Nacken.

      Die hassen mich wie die Pest!

      Sie zieht mit einem energisch anmutigen Schwung ihre Jacke nach unten, die beim Heruntergleiten hochgerutscht ist.

      Auf seine Frage, wer das denn sei, antwortet sie nur wortkarg.

      Ach, das sind Bauernsöhne vom Nachbardorf.

      Und warum hassen die dich, bohrt er weiter. Ich darf doch du sagen, oder?

      Ja, selbstverständlich! Die hassen mich, weil die sowieso alles hassen. Und mich hassen sie, weil ich sie nicht rangelassen habe!

      Sie setzt sich wütend auf den Grabstein.

      Rangelassen?

      Das Wort klingt aus ihrem Mund erschreckend desillusioniert.

      Tanner setzt sich neben sie auf den kühlen Grabstein. Der Bewohner des Grabes möge ihnen die Störung seiner Ruhe verzeihen.

      Haben sie es denn versucht?

      Nicht wirklich! Dazu haben die viel zu viel Angst vor meinem Onkel. Wie alle hier! Es reicht, dass die genau wissen, wie sehr ich sie verachte und dass ich nichts mit ihnen zu tun haben möchte!

      Umso mehr werden sie mich hassen, den Fremden, der sich heimlich auf dem Friedhof mit dem jungen Mädchen trifft, denkt er.

      Und hat nicht Ruth gesagt, hier spricht sich alles schnell herum? Das kann heiter werden!

      Die Wahrheit ist, dass Tanner nicht an sich, sondern an die Lage von Rosalind denkt! Gegen das Bild, das sie gerade zusammen abgegeben haben, kann auch eine zehnbändige Gegendarstellung nichts ausrichten. Zumindest nicht in bestimmten Köpfen.

      Rosalind nimmt ganz selbstverständlich seine Hand in die ihre und lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Das Bild, das sie jetzt abgeben, hieße wohl eher: Tochter bittet Vater um Erhöhung des Taschengeldes.

      Es ist das Einzige, was ich von meinem Vater besitze. Das kleine Foto und die Briefmarke.

      Sie geht also ganz selbstverständlich davon aus, dass Tanner das Medaillon geöffnet hat. Kluges Kind!

      Ich habe schon auch noch andere Sachen von meinen Eltern, aber das Medaillon mit seinem Inhalt ist mein größter Schatz!

      Tanner entzieht Rosalind seine Hand.

      Ich habe übrigens auch deine Reitpeitsche gefunden, die ist aber in meinem Auto!

      Rosalind schweigt und er hat plötzlich den Eindruck, dass sie weit weg ist.

      Ich muss jetzt nach Hause, denn meine Großmutter legt Wert auf Pünktlichkeit beim Abendessen. Sie haben sie ja kennen gelernt! Und ob, denkt er, zum Essen gibt's wahrscheinlich extra dünn geschnittenes Brot und ein halbes Glas Wasser.

      Willst du nicht mit zu Ruth und Karl in ihre warme Küche kommen? Die würden sich bestimmt freuen!

      Er sagt das nicht naiv, denn er weiß, dass sie die Einladung nicht annehmen kann. Es sollte mehr ein Versuchsballon sein.

      Lieb, dass Sie mich einladen, Tanner. Aber das geht nicht.

      Sie sagt es weder traurig noch verbittert. Sie sagt es einfach. Punkt. Keine weitere Erklärung. Sie steht auf.

      Vielen Dank für das Medaillon! Und bitte! Warten Sie hier noch einen Moment, bevor Sie auch gehen.

      Sie geht zum Friedhof hinaus und verschwindet hinter den Büschen, ohne sich noch mal umzudrehen.

      Als er nach einer Weile zum Auto geht, stiefelt ihre schmale Gestalt schon quer über die Felder, in Richtung Autobahn. Die Hände tief in ihren Hosentaschen, den Kopf gesenkt, ihre endlos langen Haare wie ein Schweif.

      Er fährt zum Hof. Sein alter Ford ist unter dem Dach der neuen Einstellhalle auf Balken aufgebockt und es fehlen alle vier Räder. Und das am Sonntag?

      Auf dem Dach sitzen drei Katzen. Das Auto sieht jetzt vollends aus, als sei es hier abgestellt worden, um es langsam verrotten zu lassen.

      Tanner fährt den Opel in die Garage.

      Sabatschka, das große Hündchen, ist draußen vor dem Haus und begrüßt ihn mit zwei müden Wedelbewegungen seines Schwanzes.

      In der Küche das gleiche Bild wie am ersten Morgen. Karl sitzt am Tisch und blättert in einer Sonntagszeitung. Die heutige Schlagzeile: Massenkeulung von Schafen und Schweinen – Macht das Sinn? Ruth steht wieder an der Spüle, heute in abgewetzten Jeans und einem engen, schwarzen Pullover. Bevor sie sich ganz zu Tanner dreht, hat er gerade noch Gelegenheit, sie im Profil zu sehen. Sie schaut Tanner ganz fröhlich an.

      Ich habe gehört, dass Karl und Sie sich duzen. Ich für mein Teil möchte beim Sie bleiben, dann kann ich besser mit Ihnen schimpfen, wenn Sie dauernd zu spät zum Nachtessen kommen. Gut! Jetzt kenn ich das Programm, denkt er und gibt sich ganz zerknirscht.

      Ich bin in einen fürchterlichen Stau gekommen. Ich entschuldige mich demütig in aller Form bei Ihnen, Ruth!

      Ihnen betont er so fett wie möglich.

      Karl guckt ernst und gespannt. Er wusste ja von dem Rendezvous. Er kriegt von Tanner aber keine erkennbare Botschaft.

      Ja! So ist sie … mein Ruthli! Daran gewöhnst du dich besser gleich, sonst wirst du hier nicht alt!

      Sie lachen alle drei. Das Lachen klang gestern unbeschwerter.

      Ja, so ist sie …

      Während Tanner den Satz wiederholt, denkt er an die Nacht.

      Sie auch? Oder wie soll er es verstehen, dass sie ganz schnell seinem Blick ausweicht?

      Nachdem er bei der Gelegenheit gesteht, dass er den Tank ihres Autos leer gefahren habe und nicht tanken konnte, serviert Ruth das Abendessen. Einen ganz köstlichen Blätter- und Gemüsesalat, auch weich gekochte Kartoffelstücke sind drin, mit selbst gemachtem Mozzarella, Basilikumblättern und frischem Brot. Dazu ein Glas Wein, und damit stoßen sie auf das neugeborene Kalb an.

      Und? Wie soll es heißen?

      Seit heute Morgen hat Tanner sich diesem Problem nicht mehr gewidmet


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