Tanner. Urs Schaub

Tanner - Urs Schaub


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Oder was er sich darunter so vorstellt.

      Ich gehe jetzt Harakiri machen. Entschuldigen Sie die Störung.

      In der Ausgangstür stößt er mit einem Angestellten zusammen, der einen Stapel Gemüsekisten ins Restaurant hineinträgt.

      Pass doch auf, du blöder Penner, ruft er Tanner gehässig hinterher.

      Auf dem Parkplatz sieht er gerade noch die Rückseite des davonbrausenden Mini …

      Ein Blick auf sein Telefon sagt ihm, dass er zurückfahren sollte, denn zu seinem Rendezvous mit Rosalind um fünf Uhr möchte er auf keinen Fall zu spät kommen.

      Zwischen Scheibenwischer und Frontscheibe des weißen Opel Kombi eingeklemmt, leuchtet ihm ein blauer Bußgeldzettel in einem durchsichtigen Plastikumschlag entgegen.

      Bußgeldzettel im Regenmantel, so was gibt's auch nur in der Schweiz!

      Da das ja nicht Tanners Auto ist, kann er den Zettel nicht einfach zerreißen, wie er es sonst täte.

      SECHS

      Tanner quält den weißen Kombi durch den trägen Sonntagsverkehr und appelliert inständig an Unbekannt, dass die Anzeige der Benzinuhr stimmt.

      Wer immer für solche Anliegen zuständig ist …

      Endlich erreicht er die Autobahnzufahrt.

      Noch eine Verhandlung über seine zu Hause vergessenen Geldmittel würde der nächste Verhandlungspartner bei eventueller Weigerung nicht heil überstehen. Tanners Hungergefühl wandelt sich allmählich in Übelkeit und der Druck in seiner rechten Bauchhöhle meldet auch wieder Bedenkliches.

      Der Messpegel seiner Laune erreicht einen neuen Tiefstand. Schlimmer hätte er die Sache mit Emma nicht vermasseln können. Mit ein wenig mehr Gedüld und Einfühlung hätte er sie erstens nicht schon wieder enttäuscht, und zweitens hätte sie bestimmt die Informationen beschaffen können, um die er sie angebettelt hat.

      Außerdem hätte er wirklich gerne ihre Anna kennen gelernt. Und überhaupt, wer weiß … ?

      Aber Emmalein ist sicher längst wieder mit einem braun gebrannten Staranwalt liiert, dem sie heute Nacht im Bett zwischen zwei Orgasmen Anekdoten über den lächerlichen Tanner erzählt. Er hört ihr Lachen bis in dieses nach Kuhscheiße stinkende Auto, ha, ha …!

      Ob Emma diesen Geruch an ihm gerochen hat? Oder seine Tänzerin? Die hätte zwar sofort ihr Luxusnäschen verzogen.

      Tanner, du verzettelst dich!

      Er tritt aufs Gas. Mal schauen, was in dem Opel steckt! Schluss mit dem Rumgetrödel!

      Außerdem rückt die Zeit unaufhaltsam in Richtung fünf Uhr.

      Da Tanner ja heute ein Auto mit Schweizer Nummer fährt, sind die Blicke der Autofahrer, die gemächlich und stur auf der Überholspur Ferien machen und die er per Lichthupe nach rechts nötigt, nur im ganz einfachen Sinne tödlich gemeint. Was hatte er dagegen für eine Palette von Blicken und fantasievollster Gesten gesehen, als er am Freitag die gleiche Strecke mit seinem Auto fuhr, das immer noch eine marokkanische Nummer führt. Er hat zwar seit Marokko mehr als ein Vierteljahr bei Freunden in der neuen Hauptstadt des wieder vereinigten Landes gelebt, aber er konnte sich nicht überwinden, sich von seinem geliebten von Hand gemalten Nummernschild zu trennen. Dort war das auch egal.

      Ah …! Vielleicht ist das der Grund für die zerstochenen Reifen!

      Darüber hatte er tatsächlich noch keinen einzigen Moment nachgedacht, obwohl es doch eigentlich nahe liegt. Aber wir sind doch im Land der Freiheit und Demokratie …

      Er wird in den nächsten Tagen sein Auto dringend brauchen, denn er muss in der Gegend rumfahren. Spuren sammeln. Deswegen ist er ja hergekommen.

      Verzettle dich nicht, Tanner!

      Er haut auf das Steuerrad.

      Der Rentner, den er gerade in seinem auf Hochglanz polierten Renault überholt, fühlt sich von der Geste angesprochen und zeigt ihm den Vogel.

      Auch gut! Lieber einen Vogel in der Birne als gähnende Leere!

      Debakel hat Emma sein Marokkoabenteuer genannt. Gut. Das ist auch nicht übel!

      Um ihr begreiflich zu machen, was in Marokko geschehen ist, müsste sie ihm ihr schönes Ohr und ihre Aufmerksamkeit schon etwas länger zur Verfügung stellen als eben vorhin im Restaurant am See. Nicht dass er sich selber kein Versagen ankreidete, aber das Ganze ist viel zu kompliziert, um es einfach mit dem Wort Debakel abzukanzeln. Und zu schmerzhaft. Er hat Menschen enttäuscht. Er hat sich enttäuscht. Er hat Fatima, der Tochter von Khadjia, ein Versprechen gegeben.

      Ich werde es einlösen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!

      Wieder schlägt er auf das Steuer, diesmal fühlt sich niemand direkt angesprochen. Falls es überhaupt jemand bemerkt hätte, würde er denken, Tanner erregt sich wegen des Staus, in dem er seit zwei Minuten steckt.

      Die Sache in Marokko ging so lange gut, wie er brav seine verabredete Arbeit gemacht hat. Tanner hat mit einer Reihe anderer ausländischer Berater eine Koordinationsstelle für internationale Polizeizusammenarbeit aufgebaut, bezahlt mit harten Dollars von der UNO. Vom Auswählen der Räumlichkeiten, der Beschaffung der Büro-Einrichtungen, der Rekrutierung und Schulung von Personal bis zu der Installierung der ganzen komplizierten, elektronischen Ausstattung: alles haben sie gemacht. Und als die Abteilung zu funktionieren begann, brauchte man jemanden, der die ganze Geschichte noch eine Weile überwachte. Die anderen Kollegen wollten schleunigst nach Hause zu ihren Familien nach England, Italien, Frankreich. Tanner war der Einzige, der nicht weg wollte. Er hatte sich in das Land verliebt. In seine Düfte, seine Landschaft, sein Chaos. Und er hatte sie, seine Tänzerin, dort kennen gelernt, als sie bei ihren schwulen Bewunderern zu Besuch war.

      Und er war verliebt in das Essen von Khadjia, seiner Köchin, in ihre tajine, das kochend heiß servierte Eintopfgericht. Oder in ihre unvergesslichen Pfannkuchen. Ihre hachischa. Eine Haschischkonfitüre, die stundenlang auf ihrem kleinen Gaskocher köchelte und deren Duft das ganze Haus erfüllte.

      Mein Gott! Habe ich einen Hunger !

      Das Wasser läuft ihm buchstäblich im Munde zusammen, wenn er sich all die Speisen vorstellt, die Khadjia Tag für Tag für ihn kochte. Er war die ganze Zeit, wo sie bei ihm war, nie in einem Restaurant essen. Sie hätte ihn auf der Stelle mit ihren dicken Armen erwürgt.

      Khadjia war ganze vierzehn Jahre, als sie das erste Mal schwanger wurde. In Afrika keine Ausnahme. Allerdings haben sich auch dort die Zeiten geändert. Fatima, ihre erste Tochter, hat ihr erstes und einziges Kind Fawzia erst mit neunzehn Jahren geboren.

      Fawzia war ein auffallend hellhäutiges Mädchen mit dunklen, sehr ernsthaften Augen und einem widerspenstigen Haarschopf, den ihre Mutter und Großmutter mit vereinten Kräften vergebens zu bändigen versuchten. Der Vater von Fawzia war kurz vor ihrer Geburt bei einem tragischen Unfall im marokkanischen Militär umgekommen. Fatima half ihrer Mutter oft in seinem kleinen Haushalt. Sie bügelte seine Hemden, putzte das kleine Haus und kümmerte sich liebevoll um all die vielen Pflanzen, die ohne sein Dazutun ins Haus kamen und es immer mehr in ein Gewächshaus verwandelten. In großen und kleinen Töpfen, auch in ausgedienten Waschzubern, wuchsen Rosen, Wicken, Bougainvilleen, Dahlien, Jasmin und viele andere Gewächse, deren Namen er sich nie merken konnte.

      Wenn beide Frauen beschäftigt waren, und er hatte sie kaum einmal unbeschäftigt gesehen, saß die kleine Fawzia still am Boden bei ihm im Arbeitszimmer, malte oder spielte mit den einfachen Spielsachen, die er ihr nach und nach vom Bazar mitbrachte. Sie war damals sechs Jahre alt. Später zog ihre Mutter mit dem Kind in den Norden, nach Tetouan, wo sie Arbeit in einer Fabrik gefunden hat.

      Tanner hat Fawzia erst wieder ein Jahr später gesehen.

      Als kleinen Leichnam.

      Man fand sie, nachdem sie vermisst wurde und die Polizei drei Wochen vergeblich nach ihr gesucht hatte, in einem Koffer in der Gepäckaufgabe.

      All ihre Gliedmaßen waren fachmännisch


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