Tanner. Urs Schaub
Bank ist zum Sitzen und ich sitze jeden Nachmittag auf dieser Bank!
Eine kleine Mager süchtige mit rotem Kopftuch und in jeder Hand zwei prall gefüllte Einkaufstaschen steht vor ihm. Er erhebt sich und bietet ihr großzügig den Ostteil seiner Behausung an.
Danke, junger Mann, sagt sie streng und stellt seufzend ihre Taschen ab.
Aus der einen holt sie einen Lappen und wischt die Bank sauber. Und zwar da, wo Tanners Kopf lag, nicht die Füße. Dann entnimmt sie einer anderen Papiertasche ein geblümtes Kissen und legt es auf die Bank. Sie setzt sich ächzend auf das Kissen, streicht auf ihren Knien die nun leere Tragtasche glatt und faltet sie minutiös auf Briefumschlaggröße. Zwei der Taschen bleiben zu ihren Füßen und die dritte stellt sie, wahrscheinlich als Wiederaufbau der Mauer, exakt in die Mitte zwischen sich und Tanner.
Er kann es sich nicht verkneifen.
Man kann auch darauf liegen. Mit ihrem Kissen unter dem Kopf wäre es natürlich viel bequemer, Madame!
Als hätte er sie aufgefordert, sie solle doch einen Striptease auf der Bank machen, keift sie ihn an.
Wegen so Menschen wie Ihnen muss die Stadt für teures Steuergeld an den Bänken Spezialeinrichtungen machen, damit man nicht mehr liegen kann. Und die Flasche da unter der Bank, die lassen sie dann bitte schön nicht hier stehen, wenn Sie sie leer getrunken haben. Vorne am Parkplatz gibt es eine Tonne für Glasabfall.
Mit den Spezialeinrichtungen meint sie wohl die senkrecht angebrachten Bretterlehnen, mit denen die Bänke am Bahnhof der Weltstadt nachträglich ausgerüstet worden sind. Damit Penner wie Tanner, müde von der Qual ihres Lebens, sich nicht mehr hinlegen können. Eine, soweit er weiß, weltweit einzigartige Rettungsmaßnahme für die vom Aussterben bedrohte Sitzkultur. Um die Spießigkeit dieser Maßnahme zu kaschieren – die Wirkung ist natürlich das Gegenteil –, sind die extra angebrachten Zwischenlehnen aus hochpoliertem Mahagoni oder Teakholz.
Gnädige Frau, Sie wissen doch gewiss, dass Jesus, unser Heiland, gesagt hat: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das tut ihr mir … oder so ähnlich!
Tanner sagt das mit der leidvollsten Miene, die er auf die Schnelle produzieren kann. Für einen Oscar hätte es sicher nicht gereicht, aber bei seiner Banknachbarin ist die Wirkung erstaunlich.
Junger Mann, Sie sollten nicht schon am Mittag von dem Teufelszeug da trinken. Hier! Nehmen Sie und gehen Sie was Anständiges essen.
Sie durchforstet eine ihrer Taschen, findet ein überdimensionales Portmonee, klaubt eine Zehnernote heraus und drückt sie ihm in die Hand.
Verlegen wehrt er ab und stammelt irgendwas, dass er ja nur Spaß gemacht habe.
Junger Mann, aber ich mache keinen Spaß. Sie nehmen jetzt das Geld und die Weinflasche, gießen den Wein in den See, bringen die Flasche in die Glastonne und gehen was Anständiges essen. Aber das Wegschütten des Weines will ich sehen!
Da er einsieht, dass jeder Widerstand zwecklos ist, tut er, wie ihm befohlen. Nicht ohne sich artig von der alten Frau zu verabschieden. Er hat allerdings vergessen zu fragen, wo man denn in dieser Stadt für zehn Franken etwas Anständiges zu essen kriegt!
Die jungen Leute von heute, hört man sie noch in seinem Rücken schimpfen. Von wegen jung …
Tanner schüttet den Wein in den See und schmeißt die Flasche in die Tonne beim Parkplatz.
In diesem Moment braust ein Austin Mini in die Einfahrt und er erkennt Emma sofort an ihrem exzellenten Rennfahrerstil. Er flitzt zu einem leeren Parkfeld, markiert den Parkplatzwächter und öffnet galant die Autotür.
Macht fünf Fränkchli die Stunde. Soll ihr fahrbarer Untersatz gewaschen werden, während sie ihr romantisches Stelldichein am See haben, Frau Oberstaatsanwältin?
Idiot! Und außerdem nur Staatsanwältin, schließlich bin ich ja nur eine Frau! Und wir sind immer noch in der Schweiz.
Tanner möchte sie zur Begrüßung umarmen, aber sie weicht geschickt aus.
Komm, wir gehen einen Kaffee trinken im Kasino.
Sie geht sofort los, ohne seine Antwort abzuwarten.
Ich lade dich ein, ruft er ihr hinterher und wedelt mit dem Zehner von der alten Frau in der Luft.
Als sie an einem Tisch am Fenster sitzen und ihren Kaffee vor sich stehen hat, beginnt Emma unangenehm genau zu formulieren.
Also, erstens habe sie ganz wenig Zeit. Zweitens habe sie keine Lust, gar keine, in alten Erinnerungen zu wühlen. Drittens solle er ihr einfach in knappen Worten sagen, bei was er ihre Hilfe braucht, und wenn sie ihm helfen könne, so helfe sie ihm. Und viertens: In dem Moment, wo er dieses Treffen zu irgendwas anderem missbrauche, würde sie sofort aufstehen und gehen. Ob er sie verstanden habe?
Jawohl, Euer Ehren, ich habe verstanden. Ich soll unter gar keinen Umständen sagen, dass ich mich freue, dich zu sehen, dass du unglaublich gut ausschaust, dass du abgenommen hast, außer da, wo es dir bei Höchststrafe verboten ist abzunehmen, und dass dir das ganz ausgezeichnet steht.
Bevor Emma protestieren kann, nimmt er ihre Hand und sagt nur einen Namen.
Finidori. Auguste Finidori.
Was soll mit ihm sein?
Sie sagt es mit hochgezogenen Augenbrauen. Dann antwortet sie aber.
Er war bis vor kurzem Nationalrat. Gehört dieser kuscheligen, rechten Familienpartei an und führt dort den Ganz-Rechts-Außen-Flügel an. Ich kenne ihn Gott sei Dank nicht persönlich und wüsste auch nicht, ob er schon irgendwann mit dem Gesetz in Berührung gekommen ist. Warum fragst du mich? Und was genau interessiert dich an ihm? Und wehe, du machst mir noch einmal ein Kompliment …!
Ich habe nichts Faktisches, ich habe nur so ein Gefühl …, versucht er auszuholen, aber sie unterbricht ihn sofort.
Ach, Tanner, du mit deinen Gefühlen! Wir wissen doch, wo dich das hinführt.
Gut! Du hast sicher Recht. Aber hör dir doch erst mal die Geschichte an! Bitte.
Er erzählt ihr in kurzen Zügen seine bisherigen Erlebnisse und Kenntnisse über den Finidori-Clan, über das Verschwinden von Raoul und jetzt formuliert er auch genau.
Ich möchte wissen, wo Auguste Finidori in Afrika war. Was er da getrieben hat und, das ist das Wichtigste: warum er zurückgekehrt ist. Falls es dafür einen bestimmten Anlass gab, möchte ich ihn gerne kennen. Und ein Blick in seine Finanzen könnte auch nicht schaden, verstehst du, Emmalein?
Also das volle Waschprogramm! Inklusive Vorwaschen und Schleudern! Weißt du, was du da von mir verlangst? Und was, wenn jemand dahinter kommt? Dass ich ohne offiziellen Auftrag recherchiere. Was sage ich dann? Der Tanner, wissen Sie, der in Marokko versagt hat, der wollte ein paar Sachen wissen! Über ein rechtes Politiker-Arschloch, das aber offiziell eine weiße Weste hat! Werd erwachsen, Tanner!
Emma hat sich regelrecht in Rage geredet. Ob sie sich wirklich so sehr nur über dieses Thema aufregt, bezweifelt er, denn er hat ihr früher auch mit der einen oder anderen delikaten Information ausgeholfen.
Du könntest sagen, der Tanner, den ich mal geliebt habe, braucht Hilfe. Derselbe Tanner, der mir geholfen hat, als mein Mann mich bedroht und verprügelt hat, der nächtelang Händchen gehalten hat in meiner Not! Das könntest du zum Beispiel sagen.
Bevor er die Sätze zu Ende ausgesprochen hat, weiß er, dass er zu weit gegangen ist.
Ich Idiot, ich Dreifachidiot!
Du Arschloch! Mein Gott! Ich bin hergekommen, fest entschlossen dir zu helfen, obwohl du es nicht verdient hast. Aber nicht auf diese Weise, Tanner, nicht auf diese Weise!
Sie verlässt wutschnaubend das Lokal.
Erst jetzt bemerkt Tanner die ganze Busladung japanischer Touristen, die ihn mit offenem Mund anstarren, was ja eigentlich gar nicht zu ihrer Kultur passt, aber bei Emmas Wut und ihrer im Gerichtssaal geübten Stimmkraft …
Er schmeißt seine