Tanner. Urs Schaub
Sie hat nur eine Stunde Aufenthalt, Leute!
Keine Reaktion. Es ist bereits halb zehn.
Er lehnt sich zurück, schließt seine Augen und denkt an das zerwühlte Bett, in dem er heute früh um sieben von seinem Telefon geweckt worden ist. Er hat sich geduscht und frische Kleider angezogen. Auch die Krawatte. Schließlich hat seine Tänzerin sie ihm geschenkt.
Die Küche war leer. Weit und breit keine Ruth. Und das war gut so.
Tanner hat Karl in der Scheune bei der Arbeit gefunden und hat ihm erklärt, dass er überraschenderweise in die Weltstadt am See muss. Er hat ihm sofort den Schlüssel ausgehändigt, ohne weitere Fragen zu stellen. Sie haben auch sonst nichts gesprochen. Er hat ihm nur noch hinterhergerufen, er solle sich als Pate des frisch geborenen Kuhmädchens einen Namen mit L überlegen.
Wieso nicht Lilly?
Angesichts dieser Nacht wäre vielleicht Lilith angemessener, aber man sollte die beruflichen Zukunftsaussichten des kleinen Kalbes damit nicht belasten.
Wieso hat sich Lilly, die Frau von Raoul, wohl umgebracht? Vielleicht wird er mit Rosalind darüber reden können. Heute Abend um fünf Uhr. Was sie wohl von ihm will?
Plötzlich hupt es laut. Tanner öffnet die Augen. Die Autokolonne vor ihm ist bereits weitergefahren. Im Auto hinter ihm sitzt ein vor Zorn rot angelaufener Spießer, Marke Handelsvertreter. Tanner winkt fröhlich mit der Hand, dann legt er gemütlich den ersten Gang ein, streicht sich mit der rechten Hand durch seine strähnigen Haare und fährt betont langsam an.
Sei nicht kindisch, Tanner.
Er findet zum Glück auf Anhieb den Flughafenzubringer, stellt das Auto in eines der riesigen Parkhäuser und rennt durch die langen Gänge zur Ankunft Ausland. Auf den großen Schrifttafeln ist zu sehen, dass die Maschine zehn Minuten Verspätung hat.
Tanner erkundigt sich am Auskunftsschalter bei einer auf Hollywood geschminkten Blondine, wo er seine Transitpassagierin finden könnte.
Wo fliegt er denn anschließend hin, ihr Träääänsit, gurrt sie ihn an, als ob sie Kim Basinger in L.A. Confidential wäre.
Gute Frage! Weiß ich leider nicht, mimt er zerknirscht, ich weiß nur, dass mein Träääänsit aus Stuttgart kommt.
Okay, dann gehen Sie halt zum miiiiiting point in der Halle A, schmollt sie, weil er sie nachgeäfft hat und weil er offenbar immun ist gegen ihren implantierten Sexäppiiiiil in ihrer prallen Bluse.
Also trabt Tanner wieder durch lange Gänge und sucht den miiiiting point. An dem besagten Punkt stehen dicht gedrängt einige amerikanische Rucksäcke auf staksigen Beinen herum, die sich gerade fragen, warum sie ihr so schönes Amerika verlassen haben. Aber keine schlanke Tänzerin, weit und breit.
Gerade als er sich überlegt, ob er nicht doch Zigaretten kaufen soll, um für die Begegnung innerbetrieblich besser gerüstet zu sein, ruft's in seinem Rücken glockenhelle.
Hallo, Tannerli! Wer bin ich?
Zwei kühle, schmale Hände legen sich von hinten über seine Augen.
In dieser Stellung könnte er gut und gerne einige Jahre verbringen. Nichts mehr sehen müssen! Diesen schlanken Körper an seinem Rücken spüren und den schnellen Wortkaskaden ihres Mundes lauschen. Aber da nur wenig Zeit bleibt, dreht er sich um.
Na, wer wohl? Der Teufel in Engelsgestalt!
Ha, ha, sagt sie grantig.
Diese schnellen Brüche, die beherrscht sie.
Wollen wir einen Kaffee trinken, fragt er, ohne auf den Wechsel ihrer Laune einzugehen.
Hättest du das früher gekonnt, Tanner …
Wir könnten auch einfach hier auf einer Bank sitzen. Der Kaffee ist doch so schweineteuer in der Schweiz.
Für alle Spezialisten, sie ist Sternzeichen Jungfrau!
Nein, ich habe nur einen Witz gemacht. Komm, Simon, wir gehen an die Bar!
Und ohne seine Antwort abzuwarten, schleppt sie ihn lachend zur Bar.
Sie hat ihre neuen Stiefel an, von denen sie ihm letzthin am Telefon erzählt hat. Tagelange, qualvolle Entscheidungsnöte, dann endlich der erlösende Kauf. Dazu die schwarzen Hosen, die er so gerne an ihr mag, und ihre Wildlederjacke.
Sie setzen sich an die Bar. Sie bestellt eine heiße Schokolade, nicht ohne sich erst mit wissenschaftlicher Akribie zu vergewissern, dass die Schokolade ganz sicher mit Milch angerührt ist und nicht mit Wasser.
Wohin fliegt ihr eigentlich und warum so überraschend?
Wir springen für eine andere Compagnie an einem Festival in Sydney ein. Ich freue mich wahnsinnig darauf. Wir haben drei Aufführungen, bleiben aber ganze sieben Tage! Stell dir vor! Da kann ich auch meinen Onkel und meine Tante besuchen und da ist es sicher viel wärmer als hier. Ich wollte doch schon lange mal nach Australien. Und du? In der neuen Produktion tanze ich die Hauptrolle. Auf den Moment, da sie doch auch einmal Luft holen muss, wie alle Säugetiere an Land und im Wasser, lauert er.
Nach Australien! Das ist ja wunderschön, äh … ich freue mich für dich.
Das meint er auch wirklich.
Tanner weiß, wie gerne sie reist und wie mühevoll der Theateralltag in der schwäbischen Metropole für sie ist. Aber gleichzeitig kommt ihm, aus einem unbestimmten Gefühl heraus, eine Idee. Vielleicht, weil er das traurige Gesicht von Karl nicht vergessen kann, als der gestern vom Verschwinden seines Freundes Raoul erzählt hat.
Vielleicht, weil Tanner ein schlechtes Gewissen hat. Immerhin haben seine Frau und er gevögelt, während Karl im Stall Geburtshelfer spielte.
Hör mal, ich habe eine ganz wichtige Aufgabe für dich in Australien. Du musst dort drüben für mich etwas recherchieren.
Das Wort recherchieren wirft er als Köder aus, denn er weiß, wie gerne und wie begabt sie sich kniffligen Problemen widmet.
Aha, das klingt ja spannend, antwortet sie prompt und nimmt ihre heiße Schokolade in Angriff.
Dann erzähl doch mal, um was es geht, Simon.
Tanner erzählt ihr natürlich nur die für seine Absicht wichtigen Fakten aus der Geschichte von Karls Freund und dessen Verschwinden.
Er greift in seine Jacke und zeigt ihr die Briefmarke. Das Medaillon selbst behält er in seiner Hand.
Sie setzt diese ernste Miene auf und betrachtet eine Weile schweigend die Briefmarke.
Palace! Das Wort muss Palace heißen!.. .ace ist ein Teil des Wortes Palace. Das ist wahrscheinlich ein Hotel, das selber einen Hotel-stempel hat, eigens für die Post der Touristen, und es liegt sicher am Meer, wegen den stilisierten Wellen. Habe ich die Prüfung bestanden, Kommissar Tanner?
Er küsst sie auf beide Wangen. Wie ein Papa.
Was heißt bestanden! Du hast mir sehr geholfen.
Sie lacht.
Was? Darauf bist du selber gar nicht gekommen. Das war doch ganz einfach. Du lässt nach, Tannerli! Wie gut, dass du mich hast. Gib mir mal das Medaillon, bitte!
Sie nimmt es sich, bevor die Bitte ausgesprochen ist. Gottergeben wartet er auf die Frage, die da kommen wird wie das Amen in der Kirche.
Ist sie schön, diese Tochter von Raoul, diese Rosalind?
Volltreffer!
Und dann die kostbar einfühlsame Formulierung: Diese Rosalind!
Eifersüchtig?
Tanner fragt, weil ihm halt nichts Besseres in den Sinn kommt.
Aber ja. Und wie! Siehst du nicht, wie ich leide?
Sie kontert gewohnt cool und da ist es wieder, dieses glockenhelle Lachen …
Du änderst dich nie, Tanner. Und am Schluss bist du wieder der Dumme. Lass dir das gesagt sein.